Titel:
An einen Betrieb heranrückende Wohnbebauung
Normenkette:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
Leitsatz:
Eine heranrückende Wohnbebauung bzw. eine sonstige heranrückende immissionsempfindliche Nutzung verletzt gegenüber einem bestehenden emittierenden Betrieb das Gebot der Rücksichtnahme, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen immissionsbezogenen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betrieb aufgrund der hinzutretenden Bebauung mit nachträglichen immissionsschutzrechtlichen Auflagen rechnen muss (VGH München BeckRS 2020, 14594 Rn. 27). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, an Betrieb heranrückende Wohnbebauung, Gebot der Rücksichtnahme, Lärmimmissionen, Abweichung von immissionsschutzrechtlichem Gutachten, heranrückende Wohnbebauung, Lärm, Immissionen, Immissionsrichtwert, Sachverständigengutachten
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 26.09.2023 – RN 6 K 22.2502
Fundstelle:
BeckRS 2024, 22271
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beigeladene trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 10.000…. Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Beigeladene wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 26. September 2023, mit dem die ihr erteilte Baugenehmigung vom 20. September 2022 für den Neubau eines Doppelhauses auf Klage der Klägerin aufgehoben wurde. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen als heranrückende Wohnbebauung das Gebot der Rücksichtnahme verletze, weil sich die immissionsschutzrechtlichen Rahmenbedingungen für den Betrieb der Klägerin auf dem Nachbargrundstück verschlechterten.
2
Der R.-GmbH, deren Geschäftsführerin mittlerweile die Klägerin ist, wurde mit Bescheid vom 22. November 2021 eine Genehmigung zur Auffüllung einer Grundstücksteilfläche zur Nutzung als Abstell- und Lagerfläche für Baumaterial erteilt. Die Grundstücke der Klägerin, auf denen bereits eine mit Bescheid vom 4. Oktober 1999 genehmigte Unterstellhalle mit Baumaschinen errichtet wurde, grenzen westlich und südlich an das Vorhabengrundstück der Beigeladenen an.
3
Die Beigeladene macht mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils geltend. Sie ist ferner der Auffassung, die Rechtssache weise besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten auf.
4
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
5
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht.
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Das Verwaltungsgericht ist in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, die angefochtene baurechtliche Genehmigung zum Neubau eines Doppelhauses sei mit dem auf den Grundstücken der Klägerin genehmigten Betrieb im Hinblick auf die Lärmimmissionen nicht verträglich. Die Darlegungen der Beigeladenen im Zulassungsverfahren, auf die sich die Prüfung des Senats beschränkt (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO), führen nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der Entscheidung.
8
Der Einwand der Beigeladenen, der Betrieb der Klägerin könne ihrem Vorhaben nicht mehr entgegenstehen, da die Firma aufgelöst und der Geschäftsbetrieb eingestellt worden seien, ist unerheblich. Denn die Baugenehmigung ist sachbezogen und gilt auch für jeden Rechtsnachfolger des Bauherrn (Laser in Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 68 Rn. 9). Anhaltspunkte für ein Erlöschen der Baugenehmigung ergeben sich aus der vorgetragenen Einstellung des Geschäftsbetriebs nicht automatisch und sind auch sonst weder dargelegt noch ersichtlich.
9
Das Vorbringen der Beigeladenen, es komme nicht darauf an, wer zuerst eine Baugenehmigung erhalten habe und der störungsintensivere Betrieb sei grundsätzlich weniger schutzwürdig, verhelfen dem Antrag ebenfalls nicht zum Erfolg. Eine heranrückende Wohnbebauung bzw. eine sonstige heranrückende immissionsempfindliche Nutzung verletzt gegenüber einem bestehenden emittierenden Betrieb das Gebot der Rücksichtnahme, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen immissionsbezogenen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betrieb aufgrund der hinzutretenden Bebauung mit nachträglichen immissionsschutzrechtlichen Auflagen rechnen muss (BayVGH, B.v. 9.6.2020 – 15 CS 20.901 – juris Rn. 27). Nach diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht (UA S. 11 ff.) ausführlich und zutreffend begründet, dass das Vorhaben der Beigeladenen gegenüber dem Vorhaben der Klägerin das Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Es hat schon deshalb Vorrang vor dem Vorhaben der Beigeladenen, weil hierfür zuerst ein (prüffähiger) Bauantrag vorlag. Unabhängig davon, ob das Vorhaben der Beigeladenen im Außen- oder Innenbereich liegt, werden die einschlägigen Immissionsrichtwerte eines Kern-, Dorf- und Mischgebiets bei dem später genehmigten Vorhaben der Beigeladenen nicht eingehalten. Die Behauptung des bloßen Gegenteils durch die Klägerin genügt nicht, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts darzulegen (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2022 – 15 ZB 22.2199 – juris Rn. 9).
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Entgegen dem Vorbringen der Beigeladenen ist das Verwaltungsgericht zutreffend zum Ergebnis gekommen, die Immissionsrichtwerte für ein Dorfgebiet von 60 dB(A) würden nicht eingehalten, da am Immissionsort 3 vom Gutachter der Beigeladenen bereits ein Beurteilungspegel von 60,4 dB(A) prognostiziert wurde. Es hat das Gutachten vom 27. Juni 2022 zu Recht in Frage gestellt. Eine Verwertung eines Sachverständigengutachtens ist unzulässig, wenn – erstens – das Gutachten unvollständig, widersprüchlich oder aus anderen Gründen nicht überzeugend ist, wenn – zweitens – das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn – drittens – der Sachverständige erkennbar nicht über die notwendige Sachkunde verfügt oder Zweifel an seiner Unparteilichkeit bestehen, wenn – viertens – sich durch neuen entscheidungserheblichen Sachvortrag der Beteiligten oder durch eigene Ermittlungstätigkeit des Gerichts die Bedeutung der vom Sachverständigen zu klärenden Fragen verändert, wenn – fünftens – ein anderer Sachverständiger über neue oder überlegenere Forschungsmittel oder über größere Erfahrung verfügt oder, wenn – sechstens – das Beweisergebnis durch substantiierten Vortrag eines der Beteiligten oder durch eigene Überlegungen des Gerichts ernsthaft erschüttert wird (vgl. BVerwG, B.v. 26.6.1992 – 4 B 1-11/92 – juris Rn. 54 und Leitsatz 7 – zu gerichtlich eingeholtem Gutachten).
11
Hier hat das Gutachten der Beigeladenen die Beurteilungspegel unter der unzutreffenden Annahme errechnet, dass der lärmintensive Radlader auf der gesamten auf S. 17 des Gutachtens dargestellten Freifläche bewegt wird. Ausweislich der Genehmigung der Klägerin vom 22. November 2021 darf der Radlader aber nur eine Grundstücksteilfläche nutzen. Das Verwaltungsgericht hat sich nicht, wie die Beigeladene einwendet, auf eigene Sachkunde, sondern auf die sachverständigen und schlüssigen Ausführungen des Umweltingenieurs des Beklagten in der mündlichen Verhandlung gestützt. Dieser führte nachvollziehbar aus, der „Immissionsrichtwert“, ersichtlich gemeint Beurteilungspegel, dürfte höher liegen, wenn der Radladerbetrieb nur auf der Lagerfläche stattfinde. Es war daher folgerichtig, dass dann ein höherer Beurteilungspegel als 60,4 dB(A) anzunehmen ist und damit der Immissionsrichtwert für ein Dorfgebiet von 60 dB(A) überschritten wird. Dieser Begründung des Verwaltungsgerichts (UA S. 16 ff.) tritt die Beigeladene nicht substantiiert entgegen.
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Mit dem Vortrag, das Verwaltungsgericht habe den Gutachter nicht gehört, macht die Beigeladene eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und einen Aufklärungsmangel gem. § 86 Abs. 1 VwGO geltend. Der Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz erfordert die substantiierte Darlegung, hinsichtlich welcher Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären (vgl. BVerwG, B.v. 3.6.2014 – 2 B 105.12 – juris Rn. 26). Für die ordnungsgemäße Darlegung einer Verletzung des rechtlichen Gehörs ist erforderlich, dass der Betroffene die Tatsachen, auf die das Gericht seine Entscheidung gestützt hat und zu denen er sich nicht äußern konnte, benennt und zugleich aufzeigt, an welchen tatsächlichen oder rechtlichen Ausführungen er aufgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs gehindert war bzw. was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und weshalb dies unter Zugrundelegung der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblich gewesen wäre (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2017 – 15 ZB 16.673 – juris Rn. 37 m.w.N).
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Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht. Die Beigeladene legt nicht dar, inwiefern sich dem Verwaltungsgericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Aufklärung des Sachverhalts aufdrängen musste, obwohl die in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht anwaltlich vertretene Beigeladene in dieser keinen förmlichen Beweisantrag gestellt hat. Die Aufklärungsrüge und die Gehörsrüge dienen nicht dazu, Versäumnisse eines anwaltlich vertretenen Beteiligten zu kompensieren (vgl. BVerwG, B.v. 15.7.2022 – 4 B 32.21 – juris Rn. 33; BVerwG, B.v. 4.8.2008 – 1 B 3.08 – juris Rn. 9; Kraft in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 138 Rn. 35).
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2. Die Rechtssache weist auch nicht die geltend gemachten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) auf. Der Sachverhalt des vorliegenden Falles ist geklärt und lässt sich – wie die obigen Ausführungen zeigen – ohne weiteres anhand der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften beurteilen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung von 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
17
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).