Inhalt

VGH München, Beschluss v. 22.08.2024 – 9 ZB 23.842
Titel:

Nachbarklage gegen Wohnbebauung, Gebietsbewahrungsanspruch

Normenketten:
BauGB § 30
§ 6 BauNVO.
Leitsatz:
„Kippen“ eines Mischgebiets in ein allgemeines Wohngebiet (verneint).
Schlagworte:
Nachbarklage gegen Wohnbebauung, Gebietsbewahrungsanspruch
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 10.03.2023 – AN 9 K 23.336
Fundstelle:
BeckRS 2024, 22257

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Kläger wenden sich als Nachbarn gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit fünf Wohneinheiten.
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Nach Erteilung eines positiven Vorbescheids (vgl. Az.: 9 ZB 23.843) beantragte die Beigeladene mit Formblättern und Bauvorlagen vom 19. Mai 2022 die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit fünf Wohneinheiten auf dem Baugrundstück (* … … … … … … …*), das westlich an das mit einem Wohnhaus bebaute Grundstück der Kläger (* … **) angrenzt. Beide Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des am 12. Juni 1969 ausgefertigten qualifizierten Bebauungsplans Nr. 3586, welcher hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ein Mischgebiet festsetzt. Gegen die mit Bescheid vom 24. Januar 2023 erteilte Baugenehmigung haben die Kläger Klage erhoben.
3
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts liege nicht vor, insbesondere sei eine Rechtsbeeinträchtigung hinsichtlich des in einem Mischgebiet allgemein zulässigen Wohngebäudes nicht unter dem Aspekt des Gebietsbewahrungsanspruchs gegeben. Es sei nicht davon auszugehen, dass mit der Genehmigung des Vorhabens der Beigeladenen die Wohnnutzung in dem Mischgebiet ein derartiges Übergewicht erhalte, dass sich das Gebiet vollständig in Richtung der Nutzungsstruktur eines allgemeinen Wohngebietes entwickle. Der maßgebliche Bebauungsplan Nr. 3586 setze die Nutzungsart Mischgebiet in einem zusammenhängenden Gebiet fest, welches im Süden durch die … Straße und im Norden u.a. durch die parallel hierzu verlaufende …straße begrenzt werde. Der maßgebliche Bereich in östlicher und westlicher Richtung erfasse nicht nur den Bereich zwischen der Straße … … und der …straße, sondern den gesamten Planbereich nördlich der … Straße zwischen den Anwesen mit den Hausnummern … … … Dieses Gebiet sei auch nach Verwirklichung des Bauvorhabens der Beigeladenen hinreichend gleichmäßig mit gewerblicher Nutzung und Wohnnutzung durchmischt; es sei einerseits geprägt durch zwei größere Gärtnereibetriebe und einem Landschaftsbaubetrieb und mehreren kleinen bis mittleren gewerblichen Nutzungen, andererseits durch eine sich verdichtende Wohnnutzung. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots wurde durch das Verwaltungsgericht ebenfalls verneint.
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Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Die Beklagte und die Beigeladene verteidigen das angefochtene Urteil.
II.
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Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg.
6
1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung in diesem Sinne bestehen nur dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird; dies ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) dargelegt wird (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
8
Dritte – wie hier die Kläger als Nachbarn – können sich mit einer Anfechtungsklage gem. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen eine Baugenehmigung zur Wehr setzen, wenn diese nicht nur rechtswidrig ist, sondern die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (sog. Schutznormtheorie, vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2022 – 9 ZB 22.322 – juris Rn. 6). Der Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben sowie gegen eine „schleichende Umwandlung“ bzw. gegen ein „Umkippen“ des Gebietscharakters zur Wehr zu setzen (BVerwG, B.v. 19.1.1996 – 4 B 7.96 – BRS 58 Nr. 67 = juris Rn. 5; U.v. 23.4.2009 – 4 CN 5.07 – BVerwGE 133, 377 = juris Rn. 25).
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit zutreffender Begründung, auf die gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO verwiesen wird, abgewiesen und im Einzelnen dargelegt, dass die Baugenehmigung vom 24. Januar 2023 die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt. Die Zulassungsbegründung vermag dies nicht infrage zu stellen.
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a) Die Kläger tragen vor, das Verwaltungsgericht habe fehlerhaft auf den gesamten räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 3586 und die dort vorhandenen Nutzungen abgestellt, es komme maßgeblich lediglich auf den Bereich an, der zwischen der Straße … … und der …straße liege. Dieses „Baufenster“ sei von den östlich und westlich gelegenen weiteren Teilen des Mischgebiets klar abgesetzt. In diesem Bereich sei ein „Umkippen“ in ein allgemeines Wohngebiet zu befürchten, da die Wohnbebauung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht „übergewichtig“ werde. Auch habe sich das Verwaltungsgericht fälschlicherweise auf die BauNVO 1968 gestützt, obgleich ausweislich des mit roter Farbe auf dem als Anlage K2 vorgelegten Auszugs aus dem maßgeblichen Bebauungsplan Nr. 3586 vorhandenen Stempel statisch die „Baunutzungsverordnung i. d. F. vom 25.06.1962“ gelten solle.
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Dieses Vorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat hinsichtlich der Frage eines „Umkippens“ der Gebietsart zutreffend auf das festgesetzte Mischgebiet abgestellt und sich nicht auf einen Teil des Baugebiets beschränkt. Aus dem Bebauungsplan ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass der Plangeber hier unterschiedliche Mischgebiete hinsichtlich der Art der Nutzung festlegen wollte. Die Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit von wohn- und gewerblicher Nutzung schließt es nicht aus, dass in Teilen des Mischgebiets das Gewerbe und in anderen Teilen das Wohnen stärker vertreten sein kann (vgl., Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Januar 2024, BauNVO § 6 Rn. 45). Ein „Kippen“ des Gebietscharakters hat das Verwaltungsgericht vorliegend zu Recht mit dem Verweis auf bestehende gewerbliche Nutzungen im Plangebiet ausgeschlossen. Selbst in dem von den Klägern bezeichneten kleineren Umgriff findet sich auf größerer Fläche ein Gartenbaubetrieb, der gegen ein Umkippen des Gebietscharakters in ein allgemeines Wohngebiet spricht.
12
Ob das Verwaltungsgericht im Hinblick auf den (letzten) Satzungsbeschluss vom 21. Mai 1969 fälschlich auf die BauNVO 1968 abgestellt hat, kann dahinstehen, da § 6 Abs. 1 BauNVO 1962 und § 6 Abs. 1 BauNVO 1968 identisch sind und eine hieraus resultierende Verletzung nachbarschützender Vorschriften nicht erkennbar ist. Die Kläger legen nicht dar, welche Auswirkungen die Differenzierung zwischen den Normfassungen auf den von ihnen behaupteten Gebietserhaltungsanspruch hätte.
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b) Die Kläger machen weiter geltend, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils ergäben sich auch in tatsächlicher Hinsicht, weil die erstinstanzlichen Feststellungen falsch bzw. unvollständig seien und der zur Begründung des Urteils festgestellte Sachverhalt eine förmliche Beweisaufnahme, insbesondere einen Augenschein erforderlich gemacht hätte. Bei Vornahme eines Augenscheins hätte sich für das Gericht entgegen dem im Urteil eingenommenen Standpunkt ergeben, dass die Realisierung des streitgegenständlichen Wohnbauvorhabens in Verbindung mit den bereits vorhandenen massiven Wohnnutzungen ein im Mischgebiet nicht mehr tolerierbares Übergewicht bewirken würde.
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Mit diesem Vortrag leiten die Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils aus einem Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts her. In diesen Fällen wird ein Zulassungsgrund nur dann ausreichend dargelegt, wenn dem Darlegungserfordernis der Verfahrensrüge genügt wird. Entspricht das Vorbringen diesen Anforderungen, kommt eine Zulassung nur in Betracht, wenn auch eine entsprechende Verfahrensrüge zu einer Zulassung führen würde. Bei der Geltendmachung eines Verstoßes gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) muss substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären (vgl. BVerwG, B.v. 30.7.2010 – 8 B 125.09 – juris Rn. 23; B.v. 3.6.2014 – 2 B 105.12 – juris Rn. 26; BayVGH, B.v. 15.9.2020 – 9 ZB 18.913 – juris Rn. 5). Eine Verletzung von § 86 Abs. 1 VwGO und ein Verfahrensmangel liegen nur dann vor, wenn ein Beweisantrag zu Unrecht abgelehnt worden ist oder sich dem Gericht eine weitere Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen (vgl. BayVGH, B.v. 15.3.2021 – 9 ZB 20.498 – juris Rn. 8 m.w.N.).
15
Das Verwaltungsgericht hat sich in der mündlichen Verhandlung zusammen mit den Beteiligten anhand von Karten einen hinreichenden Eindruck von den im Plangebiet vorhandenen Nutzungen machen können. Lichtbilder und Lagepläne sind im Rahmen von § 86 Abs. 1 VwGO unbedenklich verwertbar, wenn sie die Örtlichkeiten in ihren für die gerichtliche Beurteilung maßgeblichen Merkmalen so eindeutig ausweisen, dass sich der mit einer Ortsbesichtigung erreichbare Zweck mit ihrer Hilfe ebenso zuverlässig erfüllen lässt. Ist dies der Fall, so bedarf es unter dem Gesichtspunkt des Untersuchungsgrundsatzes keiner Durchführung einer Ortsbesichtigung. Das gilt nur dann nicht, wenn ein Beteiligter geltend macht, dass die Karten oder Lichtbilder in Bezug auf bestimmte, für die Entscheidung wesentliche Merkmale keine Aussagekraft besitzen, und dies zutreffen kann (BVerwG, B.v. 3.12.2008 – 4 BN 26.08 – juris Rn. 3 m.w.N.). Die Kläger legen nicht dar, dass sie in der mündlichen Verhandlung Bedenken gegen die Verwertung der Unterlagen erhoben und auf einen Augenschein hingewirkt sowie einen entsprechenden Beweisantrag gestellt hätten. Die Aufklärungsrüge dient jedoch nicht dazu, Versäumnisse eines anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten zu kompensieren (vgl. BVerwG, B.v. 15.7.2022 – 4 B 32.21 – juris Rn. 33; B.v. 15.7.2019 – 2 B 8.19 – juris Rn. 9). Dem Zulassungsvorbringen lässt sich auch nicht entnehmen, dass sich dem Verwaltungsgericht auf Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Aufklärung hätte aufdrängen müssen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beigeladene im Zulassungsverfahren einen Antrag gestellt sowie begründet und damit einen rechtlich die Sache förderlichen Beitrag geleistet hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 154 Abs. 3‚ § 162 Abs. 3 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 und entspricht der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).