Inhalt

OLG München, Endurteil v. 31.07.2024 – 7 U 351/23 e
Titel:

Datenschutzgrundverordnung, Beendigung des Dienstverhältnisses, Außerordentliche fristlose Kündigung, Aufsichtsratsbeschlüsse, Grob fahrlässige Unkenntnis, Verschwiegenheitsverpflichtung, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Einberufung der Gesellschafterversammlung, Außerordentliche Kündigung, Kündigungsberechtigter, Steuerberatungsgesellschaft, Prozeßbevollmächtigter, Anschlußberufung, Wiederholungsgefahr, Kündigungserklärung, Feststellungsantrag, Provisionsabrechnung, Aufsichtsratsmitglied, Rechtsprechung des BGH, Abberufung des Vorstands

Schlagworte:
außerordentliche fristlose Kündigung, wichtiger Grund, Kenntniserlangung, Einberufung des Aufsichtsrats, Zweiwochenfrist, Sich-Verschließen, unangemessene Verzögerung, Abberufung, Datenschutzverstoß, Weiterleitung von Emails, Vorstandsdienstvertrag, Abwägung der Interessen
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 22.12.2022 – 5 HK O 14476/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 22085

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 22.12.2022, Az. 5 HK O 14476/21, in Ziffer I seines Tenors aufgehoben und die Klage auch insoweit abgewiesen.
2. Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
3. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
4. Dieses Urteil sowie das in Ziffer 1 des Tenors bezeichnete Endurteil des Landgerichts München I, soweit es noch Bestand hat, sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
5. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

A.
1
Die Parteien streiten um die Abberufung des Klägers als Vorstand der Beklagten und um die Beendigung seines Vorstandsanstellungsvertrages.
2
Die Beklagte war bis zu ihrer Umwandlung in eine GmbH im Jahr 2022 eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft, die unter der Firma … AG auftrat. Der Unternehmensgegenstand der Beklagten lag im Vertrieb und der Durchführung von Internetdienstleistungen sowie der Beratung in allen Bereichen, die relevant für das Internet sind; zu dem Unternehmensgegenstand gehörte auch der Kauf und Verkauf von EDV-Anlagen (Personalcomputer, Terminals, Server etc.) und Software sowie auch dazu gehörende Computer-, Telekommunikations- und Internetsysteme, ferner Kauf und Verkauf auf eigene oder fremde Rechnung von Konsum-Investitions- und Industriegütern sowie Dienstleistungen, insbesondere Leasing- und Serviceverträge (vgl. die Handelsregisterauszüge laut Anl. K 2 und 3) .
3
Der Kläger wurde mit Beschluss des Aufsichtsrats der Beklagten vom 14.09.2017 unter Verlängerung der erstmals mit Beschluss des Aufsichtsrats der Beklagten zum 01.07.2013 erfolgten Bestellung zum Vorstand erneut zum Vorstand der Beklagten für die Periode vom 15.09.2017 bis zum 14.09.2022 bestellt. Unter dem 15.09.2017 schlossen die Parteien den Vorstandsdienstvertrag laut Anl. K 1, der bis zum 14.09.2022 befristet war und in seinem § 4 Abs. 1 eine jährliche Vergütung von € 140.000,-, zahlbar in 12 gleichen monatlichen Raten am Ende eines jeden Monats, sowie neben einer Bonusregelung in § 4 Abs. 2 ein Budget von € 18.000,- pro Kalenderjahr für das Leasen eines Kraftfahrzeugs vorsah.
4
Der Vorstandsdienstvertrag (im Folgenden mit DV abgekürzt) lautete auszugsweise wie folgt:
„§ 10 Geheimhaltung, Nebentätigkeiten
(1) Der Vorstand verpflichtet sich alle betrieblichen Angelegenheiten und Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse, die ihm während und im Rahmen seiner Tätigkeit für die Gesellschaft oder mit in der …-Gruppe verbundenen Unternehmen bekannt werden, vertraulich zu behandeln, unabhängig davon, ob sie als vertraulich gekennzeichnet oder offensichtlich als vertraulich erkennbar sind.
Diese Verpflichtung besteht auch nach Beendigung des Dienstverhältnisses oder einem Ausscheiden aus der …-Gruppe.
Der Vorstand ist insbesondere verpflichtet, vertrauliche Informationen dieser Art:
a) ohne zeitliche Beschränkung streng geheim zu halten, bis die Information offenkundig geworden ist oder in sonstiger Weise ihren vertraulichen Charakter verloren hat.
b) weder direkt der indirekt zu verbreiten, verbreiten zu lassen oder an eine nicht berechtigte, durch die …-Gruppe autorisierte Person zu kommunizieren,
c) weder für eigene Rechnung noch für fremde Rechnung, gleich in welcher Form, zu verwerten.
Zu den vertraulichen Informationen im Sinne dieser Vereinbarung zählen insbesondere Informationen von Geschäftspartnern, Know-How, Kalkulationen, Adressdaten, Arbeitsergebnisse der Gesellschaft oder der …-Gruppe in Bezug auf Kunden oder Projekte, die nur einem beschränkten Personenkreis zugänglich sind und der Allgemeinheit erkennbar nicht bekannt werden sollen. Vertrauliche Informationen dürfen nicht ohne Genehmigung des Aufsichtsrats und der gegebenenfalls betroffenen Unternehmen weitergegeben werden. Die Verletzung dieser Geheimhaltungspflicht stellt einen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung dieses Vertrages dar.
(…)
§ 12 Vertragsdauer
(1) Der Vorstandsvertrag tritt am 15.09.2017 in Kraft und ist auf die Dauer bis zum Ablauf des 14.09.2022 befristet. Er endet damit am 14.09.2022, ohne dass es einer Kündigung bedarf.
(2) (…)
(3) Das Recht zur fristlosen Kündigung dieses Vertrages aus wichtigem Grund bleibt für beide Parteien unberührt.
(4) Die Gesellschaft ist berechtigt, den Vorstand von der Erbringung seiner Dienstleistung aus wichtigem Grund jederzeit – insbesondere im Zusammenhang mit einer Abberufung oder Kündigung dieses Vertrages – für die restliche Zeit seiner Tätigkeit unter Anrechnung seines Urlaubsanspruchs freizustellen.“
5
Am 23.04.2021, 16:27 Uhr sandte der Kläger eine Email (Anlage B 8) an seinen damaligen Mitvorstand … und Frau …, eine Mitarbeiterin der französischen Schwestergesellschaft der Beklagten, betreffend die Übermittlung der Gehaltsabrechnungen für April 2021 für ihn und den vormaligen Vorstandsvorsitzenden der Beklagten … .
6
Am 10.05.2012, 13:50 Uhr versandte der Kläger eine E-Mail (Anlage B 7) an Frau …, in der es um die Behandlung von Provisionszahlungen ging und der weiterer interner Email-Verkehr sowie Schriftwechsel mit der Steuerberatungsgesellschaft der Beklagten beigefügt war. Diese Email schickte der Kläger CC an seinen Mitvorstand … und das Mitglied des Aufsichtsrats der Beklagten … sowie wiederum an seine private Email Adresse.
7
Am 31.05.2021, 12:10 Uhr übermittelte der Kläger von seinem dienstlichen Email-Account …@…com die Email laut Anl. B 2 mit dem Betreff „!!!! … AG shareholder register and display, how … is embedded in … “ an seinen Mitvorstand … und das Aufsichtsratsmitglied … . Auf CC setzte er seine private Email-Adresse …@gmx.net. Vor seine private Email-Adresse setzte der Kläger die Email-Anschriften von … und nach seine private Email-Adresse diejenige von … ebenfalls auf CC. Der Email fügte er ein Schreiben der … AG an die Beklagte, weiteren internen Email-Verkehr der Beklagten im Zusammenhang mit einer Geldwäscheidentifizierungsanfrage der … AG sowie ein Organigramm der Beklagten bei.
8
Weiterhin schickte der Kläger am 31.05.2021 um 17:47 Uhr eine Email (Anlage B 9) an Herrn … und Herrn …, den Vorstandsvorsitzenden der Muttergesellschaft …, (Anlage B 9) zu internen Zuständigkeitsfragen bei der Beklagten.
9
Am 16.06.2021 um 11:13 Uhr versandte der Kläger eine Email (Anlage B 5) an …, der ein Email-Verlauf sowie eine als „confidentiel“ überschriebene Präsentation betreffend Fragen zur Provisionsgestaltung sowie das Protokoll eines internen Meetings vom 07.06.2021 zu dieser Problematik beigefügt war.
10
Am 18.06.2021, 17:17 Uhr (Anl. B 3) schickte der Kläger eine Email an Frau … und den Mitvorstand …, in der er zu einer beigefügten Email von Herrn …, einem Mitarbeiter der Beklagten, im Zusammenhang mit einem von diesem geltend gemachten Anspruch auf Provisionszahlungen Stellung nahm.
11
Am 21.06.2021 um 12:34 Uhr verschickte der Kläger eine Email (Anlage B 6) an Frau … sowie Herrn …, der ein Schreiben von … zu Provisionszahlungen beigefügt war.
12
Einer Email vom 24.06.2021, 11:51 Uhr (Anlage B 1) an Frau … fügte der Kläger Übersichten über Umsatzerlöse und Bonifizierungsgrundlagen für den Mitarbeiter …, Email-Verkehr des Klägers mit Mitarbeitern der Beklagten sowie die Kopie eines Lizenzvertrages mit dem Kundenunternehmen … GmbH bei.
13
Der Kläger übermittelte am 28.06.2021 um 13:26 Uhr die Email laut Anl. B 4 an … und … von der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft … GmbH, in der es um Spesenzahlungen der Beklagten an den Kläger ging und der eine Spesenübersicht für die Jahre 2013 bis 2021 beigefügt war; diese Email ging auch an Frau … sowie …, eine Mitarbeiterin der Beklagten.
14
All diese Emails versandte der Kläger von seinem dienstlichen Email-Account, wobei jeweils seine private Email-Adresse auf CC gesetzt war.
15
Anlässlich der Durchsicht diverser Unterlagen fiel dem neu bestellten Vorstandsmitglied der Beklagten, … Ende September 2021 auf, dass der Kläger die oben bezeichneten Emails an seine private Mailadresse weitergeleitet hatte. Nachdem der Vorstand … den Kläger in einem Gespräch am 28.09.2021 damit konfrontiert und zur Stellungnahme aufgefordert hatte, teilte der Kläger mit Email vom 30.09.2021,22:22 Uhr laut Anl. B 10 u.a. mit:
„I again confirm that I have not abused any corporate information in case I forwarded some to my private email account. The only purpose was to keep track of important activities. Could have print [sic] alternatively. Most of the emails are deleted anyway, as I have the relevant information on paper, such as the 2020 annual balance sheet document that we both signed.
I hereby confirm that no information of any kind has been forwarded to anybody and that all information was always protected against any third party in terms of physical and electronical means.“
16
In seiner Sitzung vom 11.10.2021 beschloss der Aufsichtsrat der Beklagten unter TOP 1, den Kläger mit sofortiger Wirkung aus wichtigem Grund aus dem Vorstand der Beklagten abzuberufen. Unter TOP 2 beschloss der Aufsichtsrat der Beklagten am 11.10.2021, den Vorstandsdienstvertrag des Klägers mit der Beklagten aus wichtigem Grund außerordentlich und fristlos zu kündigen und den Aufsichtsratsvorsitzenden zu ermächtigen, eine außerordentliche Kündigungserklärung zur Beendigung des Vorstandsdienstvertrages des Klägers mit der Beklagten im Auftrag des Aufsichtsrats der Beklagten zu unterzeichnen. Die Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats vom 11.10.2021 laut Anl. K 5 war nur vom Aufsichtsratsvorsitzenden … unterschrieben.
17
Mit vom Aufsichtsratsvorsitzenden der Beklagten unterzeichneten Schreiben vom 11.10.2021 laut Anl. K 4 kündigte die Beklagte den zwischen den Parteien bestehenden Vorstandsdienstvertrag außerordentlich fristlos aus wichtigem Grund. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 13.10.2021 zu.
18
Der Kläger trug vor, dass es sowohl für den Widerruf der Organstellung als auch für die außerordentliche fristlose Kündigung an einem wichtigen Grund fehle. Das Weiterleiten der Emails an seine private Email-Anschrift führe angesichts der von ihm vorgenommenen umfassenden Sicherung auch seines privaten Email-Accounts gegen den Zugriff Dritter nicht zu Geheimnisschutz- oder Datenschutzverstößen, nachdem nur er die Kennwörter kenne und auch nur er zugriffsberechtigt sei. Diese Praxis habe er mit dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden … vereinbart. Angesichts der Kommunikation verschiedener Entscheidungsträger der Beklagten wie Herrn …, Frau …, dem Aufsichtsratsmitglied … oder dem Mitvorstand … habe der Kläger seine geschäftlichen Informationen nicht heimlich oder in Unkenntnis der Beklagten an seine private Email-Adresse weitergeleitet. Zu keinem Zeitpunkt habe er vertrauliche Informationen weitergegeben oder die Informationen zu betriebsfremden Zwecken verarbeitet. Aufgrund besorgniserregender Veränderungen im Betrieb der Beklagten habe er nur solche Emails weitergeleitet, die aus seiner Sicht unentbehrlich gewesen seien, um später beweisen zu können, keine haftungsbegründenden Fehler begangen zu haben.
19
Im Übrigen habe die Beklagte die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB versäumt, weil sich aus den an das Aufsichtsratsmitglied … gerichteten Emails vom 10.05.2021, 13:50 Uhr und 31.05.2021, 12:10 Uhr die Kenntnis eines Mitglieds des Aufsichtsrats der Beklagten von der Weiterleitung der Emails an den private Email-Account des Klägers ergebe.
20
Der Kläger beantragte daher:
1. Der Beschluss des Aufsichtsrats der Beklagten vom 11. Oktober 2021 auf Widerruf der Bestellung des Klägers zum Vorstandsmitglied der Beklagten wird für unwirksam erklärt.
2. Es wird festgestellt, dass das zwischen dem Kläger und der Beklagten bestehende Vorstandsanstellungsverhältnis durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 11. Oktober 2021 nicht aufgelöst worden ist.
21
Die Beklagte beantragte,
Klageabweisung.
22
Sie erwiderte, dass ein wichtiger Grund sowohl für die Abberufung als Vorstand als auch für die außerordentliche Kündigung des Vorstandsdienstvertrages vorliege. Die Weiterleitung von Emails an seinen privaten Email-Account in mindestens neun Fällen bedeute eine schwerwiegende Verletzung der Pflichten des Klägers zur Einhaltung der Verpflichtungen der Beklagten nach dem Geheimnisschutzgesetz und den Vorschriften der DSGVO. Der technische Datenschutz im Rahmen sogenannter Freemail-Anbieter biete keinen hinreichenden Schutz vor dem Zugriff Dritter auf die im Rahmen eines solchen Systems verschickten und gespeicherten Daten. Die Übermittlung personenbezogener Daten Dritter an den Datenserver eines Dritten setze die Beklagte erheblichen Risiken hinsichtlich ihres Rufes und Ansehens aus. Eine Berechtigung für dieses Vorgehen fehle; es gebe keine Vereinbarung mit Herrn …, der auch nicht über gesetzliche Verpflichtungen zum Geheimnisschutz habe disponieren können.
23
Der Ausspruch der außerordentlichen Kündigung wahre die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB, weil das Einfügen der privaten CC-Adresse stets vom Kläger im Verlauf der Mail-Korrespondenz erfolgt sei. Die Initiative des Versands an die private E-Mail-Adresse sei niemals von den Aufsichtsratsmitgliedern ausgegangen. Ein Kennenmüssen oder grob fahrlässige Unkenntnis genüge nicht für den Beginn dieser Frist.
24
Mit Endurteil vom 22.12.2022, Az. 5 HK O 14476/21, das der Beklagten am selben Tag zugestellt wurde (vgl. zu Bl. 74 d.A.), stellte das Landgericht München I fest, dass das zwischen den Parteien bestehende Vorstandsanstellungsverhältnis durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 11.10.2021 nicht aufgelöst worden sei. Im Übrigen wies es die Klage ab.
25
Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Landgericht u.a. aus, dass die außerordentliche fristlose Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrages vom 11.10.2021 unwirksam gewesen sei, da die Kündigung nicht innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 S. 1 und 2 BGB ausgesprochen worden sei. Für den Beginn dieser Frist sei nicht auf die Kenntnis einzelner Aufsichtsräte oder des Aufsichtsratsvorsitzenden, sondern auf die Kenntnis des Aufsichtsrats als Kollegialorgan vom Kündigungsgrund, d.h. im streitgegenständlichen Fall von der Weiterleitung dienstlicher Emails an den privaten Email-Account des Klägers, abzustellen. Die Erlangung einer solchen Kenntnis setze das Zusammentreten des Aufsichtsrats als Kollegialorgan voraus. Werde allerdings die Einberufung des Aufsichtsrats nach Kenntnis eines seiner Mitglieder von dem Kündigungsgrund unangemessen verzögert, so müsse sich die Gesellschaft so behandeln lassen, als wäre die Aufsichtsratssitzung mit der billigerweise zumutbaren Beschleunigung einberufen worden (LGU S. 9 f. unter Punkt I 2 a der Entscheidungsgründe). Kenntnis und nicht nur grobe fahrlässige Unkenntnis eines Aufsichtsratsmitglieds sei anzunehmen, wenn das Aufsichtsratsmitglied es versäumt habe, eine sich ihm ohne Weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursache. Im streitgegenständlichen Fall hätte das Aufsichtsratsmitglied … nach Erhalt der Emails vom 10.05.2021, 13:50 Uhr laut Anl. B 7 und vom 31.05.2021, 12:10 Uhr laut Anl. B 2 aus dem Verteiler, in dem die private E-Mail-Adresse des Klägers in CC gesetzt gewesen sei, mühelos erkennen können, dass die beiden Emails unmittelbar auch an den privaten Email-Account des Klägers weitergeleitet worden seien. Dies begründe ein missbräuchliches Sichverschließen und damit Kenntnis des Aufsichtsratsmitglieds … vom Kündigungsgrund. Das Aufsichtsratsmitglied … habe aber die anderen Aufsichtsratsmitglieder nicht informiert; eine solche Information der Aufsichtsratsmitglieder sei erst Ende September 2021 durch das neu bestellte Vorstandsmitglied … erfolgt (LGU S. 10 f. unter Punkt I 2 b der Entscheidungsgründe).
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Nachdem demnach das Aufsichtsratsmitglied … am 31.05.2021 Kenntnis von der zweimaligen Weiterleitung von Emails an den privaten Email-Account des Klägers erlangt hatte, hätte das Aufsichtsratsmitglied … unmittelbar danach die anderen Aufsichtsratsmitglieder informieren müssen. Nach Anhörung des Klägers, die innerhalb einer Woche hätte erfolgen können, sei die Frist des § 626 Abs. 2 BGB angelaufen. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom 11.10.2021 beim Kläger am 13.10.2021 sei die Frist des § 626 Abs. 2 BGB daher längst abgelaufen gewesen.
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Bezüglich des Widerrufs der Organstellung sei die Klage dagegen unbegründet, da der Beschluss des Aufsichtsrats vom 11.10.2021 über den Widerruf der Organstellung wirksam gewesen sei.
28
An der formellen Wirksamkeit des Beschlusses bestünden keine Zweifel, auch wenn der Beschluss nicht von allen drei Aufsichtsratsmitgliedern unterschrieben sei. Dies sei nämlich – wie sich im Umkehrschluss aus § 107 Abs. 2 S. 1 AktG ergebe – nicht erforderlich (LGU S. 12 f. unter Punkt II 2 a der Entscheidungsgründe).
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Der Beschluss sei auch materiell wirksam, da ein wichtiger Grund für den Widerruf iSd. § 84 Abs. 4 S. 1 AktG vorliege. Die wiederholte Weiterleitung von betrieblichen Interna wie Vertragsdokumenten über die Zusammenarbeit mit dem Kunden …, Rechnungen, Unterlagen zu Provisionsansprüchen eines Mitarbeiters, Unterlagen im Zusammenhang mit der Erfüllung von Anforderungen nach dem Geldwäschegesetz, Ausführungen zu Reisekostenabrechnungen an den privaten Email-Account des Klägers stelle eine grobe Pflichtverletzung dar. Bei den weitergeleiteten Unterlagen habe es sich um vertrauliche Dokumente, die Betriebsgeheimnisse beinhalteten, gehandelt. Unabhängig davon, wie der Kläger die Daten weiter habe nutzen wollen, läge in der Weiterleitung eine schwere Pflichtverletzung, da die Sicherung der Daten auf einem privaten Server bei weitem nicht so stark ausgeprägt sei wie bei einem Unternehmen der IT-Branche. Darüber hinaus habe der Kläger mit der Weiterleitung auch gegen die Vorgaben aus der DSGVO verstoßen. Denn die betroffenen Personen hätte der Speicherung auf einem privaten Server nicht zugestimmt. Eine solche Speicherung sei auch nicht zur Wahrnehmung berechtigter Interessen des Klägers erforderlich gewesen. Der vom Kläger angeführte Grund für die Weiterleitung, er habe sich angesichts besorgniserregender Veränderungen bei der Beklagten absichern müssen, um sich gegen den Vorwurf einer Pflichtverletzung als Vorstand angemessen verteidigen zu können, begründe keine Erforderlichkeit einer Weiterleitung. Denn solange der Kläger noch Vorstandsmitglied sei, habe er qua dieser Stellung Zugriff auf alle für die Verteidigung erforderlichen Dokumente. Nach seinem etwaigen Ausscheiden habe er gemäß § 810 BGB Anspruch auf Einsicht in entsprechenden Unterlagen, die von der Beklagten aufgrund der ihr obliegenden handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungspflichten aufzubewahren seien. Die Aufbewahrungsdauer sei dabei auch länger als die Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche aus § 93 AktG (LGU S. 13 – 15 unter Punkt II 2 b (1) der Entscheidungsgründe).
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Ein Einverständnis des früheren Vorstandsvorsitzenden … mit der vom Kläger praktizierten Vorgehensweise könne den Pflichtverstoß nicht relativieren. Denn dafür hätte es einer Genehmigung des Aufsichtsrats bedurft. Auch eine der klägerischen Vorgehensweise entsprechende Praxis von Organmitgliedern der Muttergesellschaft der Beklagten oder von leitenden Mitarbeitern mache die Annahme einer groben Pflichtverletzung nicht unmöglich, da es keine Gleichheit im Unrecht gebe (LGU S.15 f. unter Punkt II 2 b (2) der Entscheidungsgründe).
31
Dem Widerruf könne der Kläger auch nicht Verwirkung entgegenhalten. Eine solche setzte voraus, dass der gesamte Aufsichtsrat Kenntnis von der Pflichtverletzung des Klägers gehabt habe und dennoch über einen längeren Zeitraum den Vorstand im Amt belassen habe. Diese Kenntnis des Aufsichtsrats sei aber erst durch die dem Aufsichtsrat vom neuen Vorstand … mitgeteilte Information eingetreten, woraufhin zeitnah der Widerrufsbeschluss gefasst worden sei. Aus der Untätigkeit des Aufsichtsrats … ergebe sich daher keine Verwirkung (LGU S.16 f. unter Punkt II 2 b (3) der Entscheidungsgründe).
32
Auch unter Berücksichtigung, dass der Kläger ohnehin nur noch für ein knappes halbes Jahr zum Vorstand der Beklagten bestellt gewesen sei, ändere dies nichts daran, dass das Interesse der Beklagten an der Beendigung der Organstellung überwiegen müss.
33
Im Übrigen wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Endurteils Bezug genommen.
34
Mit ihrer am 22.01.2023 beim Oberlandesgericht München eingegangenen und mit Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 21.03.2023, eingegangen bei Gericht am selben Tag, begründeten Berufung verfolgt die Beklagte ihr erstinstanzliches Klageabweisungsziel, soweit ihm das Landgericht nicht schon entsprochen hat, vollumfänglich weiter.
35
Sie rügt insbesondere, dass das Landgericht nicht berücksichtigt habe, dass der Kläger neben den Emails vom 10.05.2021 und vom 31.05.2021, die er auch an das Aufsichtsratsmitglied … gesandt habe, eine erhebliche Zahl weiterer Emails, nämlich die Emails vom 23.04.2021, 16.06.2021, vom 18.06.2021, vom 21.06.2021, vom 24.06.2021 und vom 28.06.2021, mit betrieblichen Interna der Beklagten an seine private Mailadresse weitergeleitet habe. Diese in jedem einzelnen Fall erneut begangenen Pflichtverletzungen seien dem Aufsichtsrat bis Ende September 2021 definitiv nicht bekannt gewesen, so dass jedenfalls insoweit die Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten sei und das Landgericht deshalb zumindest im Hinblick auf diese Pflichtverletzungen von einer Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund hätte ausgehen müssen.
36
Sollte das Landgericht hinsichtlich der Weiterleitung der Emails von einem Dauerverhalten des Klägers ausgegangen sein, so liefe insoweit die Frist des § 626 Abs. 2 BGB erst mit der Beendigung des Dauerverhaltens, das heißt ohnehin erst mit dem letzten Weiterleiten einer Email an den privaten Email-Account des Klägers an.
37
Darüber hinaus habe das Landgericht hinsichtlich der beiden Emails vom 10.05.2021 und 31.05.2021 auch zu Unrecht ein Sich-Verschließen und damit eine Kenntnis des Aufsichtsratsmitglieds … vom Kündigungsgrund bejaht. Denn dass die beiden Emails auch an den privaten Email-Account des Klägers weitergeleitet worden seien, sei aufgrund der Stellung der Adresse des Klägers aus dem jeweiligen Verteiler nicht so einfach zu entnehmen gewesen. Ferner sei aufgrund der Fülle von ausgetauschten Emails und unter Berücksichtigung, dass bei einem Austausch von Emails deren Inhalt im Vordergrund stehe, die einkopierte private Email-Adresse des Klägers leicht zu übersehen gewesen. Habe das Aufsichtsratsmitglied … aber keine Kenntnis von den Pflichtverstößen des Klägers in Form der Weiterleitungen vom 10.05.2021 und 31.05.2021 gehabt, so sei auch insoweit nicht von einem Beginn der Frist des § 626 Abs. 2 BGB auszugehen.
38
Die Beklagte beantragt daher,
unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts München I vom 22. Dezember 2022, Az. 5 HK O 14476/2 die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
39
Der Kläger beantragt,
Die Berufung wird zurückgewiesen.
40
Gleichzeitig beantragt er:
Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts München I vom 22. Dezember 2022, Az. 5 HK O 14476/21, soweit es die Klage abgewiesen hat, teilweise abgeändert und der Beschluss des Aufsichtsrats der Beklagten vom 11. Oktober 2021 auf Widerruf der Bestellung des Klägers zum Vorstandsmitglied der Beklagten für unwirksam erklärt.
41
Der Kläger verteidigt das landgerichtliche Urteil unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vortrags insoweit, als es der Klage stattgab.
42
Im Übrigen verfolgt er im Wege der Anschlussberufung wiederum unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags sein bisheriges Klageziel vollumfänglich weiter. Er rügt insbesondere, dass das Landgericht die Bedeutung der Vereinbarung zwischen dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden … und dem Kläger verkannt habe. Dabei handle es sich nämlich um eine Individualabrede, die dem Vorstandsdienstvertrag vorgehe. Das Landgericht habe auch die betriebliche Weiterleitungspraxis übergangen, die es der Beklagten nunmehr verwehre, sich auf die Rechtswidrigkeit der Email-Weiterleitung zu berufen.
43
Die Beklagte beantragt,
die Anschlussberufung kostenpflichtig abzuweisen.
44
Sie verteidigt das Urteil des Landgerichts, insoweit als es die Klage abwies.
45
Der Senat hat am 31.07.2024 mündlich verhandelt. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 31.07.2024, die zwischen den Prozessbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze und den übrigen Akteninhalt wird Bezug genommen.
B.
46
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet (I.), während die zulässige Anschlussberufung des Klägers unbegründet ist (II.).
47
I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Insbesondere erfüllt die Berufungsbegründung entgegen der Ansicht des Klägers ohne weiteres die Voraussetzungen des § 520 Abs. 3 ZPO.
48
Die Berufung der Beklagten ist auch begründet, da die außerordentliche fristlose Kündigung des Vorstandsdienstvertrages vom 11.10.2021, die dem Kläger unstreitig am 13.10.2024 zuging, wirksam war und den Vorstandsdienstvertrag mit ihrem Zugang beim Kläger beendete. Denn die Kündigung erfolgte innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB (1.) und es lag ein wichtiger Grund für die außerordentliche fristlose Kündigung vor (2.).
49
1. Für den Fristbeginn nach § 626 Abs. 2 BGB ist ausschlaggebend, wann der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Diese Kenntnis erlangte der Aufsichtsrat der Beklagten und damit der gemäß §§ 84 Abs. 4 S. 5, 112 AktG Kündigungsberechtigte hinsichtlich aller neun streitgegenständlichen Emails laut Anl. B 1 bis B 9 erst in seiner Sitzung vom 11.10.2021, sodass die Kündigung vom selben Tag dem Kläger innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 626 Abs. 2 BGB zuging.
50
Für die GmbH ist nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich die Kenntnis des zur Kündigung berechtigten Organs, das heißt der Gesellschafterversammlung entscheidend. Da die Gesellschafterversammlung ein Kollegialorgan sei, das seinen Willen durch Beschlussfassung bilden müsse, komme es für die Wissenszurechnung an die Gesellschaft nur auf die Kenntnis der Organmitglieder in ihrer Eigenschaft als Mitwirkende an der kollektiven Willensbildung an. Kenntnis als kollegiales Beratungs- und Beschlussorgan liege daher erst dann vor, wenn der für die Tatsachenkenntnis maßgebliche Sachverhalt hinsichtlich der Entlassung des Geschäftsführers einer Gesellschafterversammlung (§ 48 Abs. 1 GmbHG) unterbreitet werde. § 626 Abs. 2 BGB beruhe auf dem Gedanken, dass der Berechtigte aus seiner Kenntnis die seiner Ansicht nach gebotenen Konsequenzen ziehen könne; hierzu seien die Gesellschafter, selbst wenn sie sämtlich als einzelne außerhalb einer Gesellschafterversammlung Kenntnis vom Kündigungssachverhalt erlangt hätten, nicht ohne den Zusammentritt als Kollegialorgan in der Lage (BGH, Urteil vom 15.06.1998 – II ZR 318/96, Rdnr. 6). Jedoch dürfe dem betroffenen Geschäftsführer nach Sinn und Zweck des § 626 Abs. 2 BGB nicht zugemutet werden, bis zu einem unabsehbaren Zusammentritt der Gesellschafterversammlung zuwarten zu müssen. Werde daher die Einberufung der Gesellschafterversammlung einer GmbH von ihren einberufungsberechtigten Mitgliedern nach Kenntniserlangung von dem Kündigungssachverhalt unangemessen verzögert, so müsse sich die Gesellschaft nach der Rechtsprechung des BGH so behandeln lassen, als wäre die Gesellschafterversammlung mit der billigerweise zumutbaren Beschleunigung einberufen worden (vgl. BGH, Urteil vom 15.06.1998 – II ZR 318/96, Rdnr. 7).
51
Diese zur Kenntniserlangung der Gesellschafterversammlung einer GmbH vom BGH entwickelten Grundsätze sind auf die Kenntniserlangung des Aufsichtsrats einer AG sinngemäß übertragbar (vgl. KG, Urteil vom 27.09.2004 – 2 U 191/02, Rdnr. 69, LG München I, Urteil vom 15.10.2010 – 5 HK O 2122/09, Rdnr. 134, Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rdnr. 194 zu § 84 AktG, Spindler/Veil in BeckOGK AktG, Stand 01.06.2024, Rdnr. 48 zu § 112 AktG, Koch in ders., AktG, 18. Auflage, München 2024, Rdnr. 22 zu § 112 AktG, Breuer/Fraune in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Auflage, Baden-Baden 2024, Rdnr. 12 zu § 112 AktG, Tielmann in Backhaus/Tielmann, Der Aufsichtsrat, 2. Auflage, München 2023, Rdnr. 77 zu § 112 AktG, aA. Israel in Bürgers/Körber, AktG, 4. Auflage, Köln 2017, Rdnr. 7 zu § 112 AktG). Denn die in §§ 112, 78 Abs. 2 S. 1 AktG stipulierte Einzelpassivvertretung hat nur die Funktion, es dem Rechtsverkehr zu erleichtern, gegenüber dem Aufsichtsrat als Gremium Willenserklärungen abzugeben. Dies ist etwas völlig anderes als die Erlangung von Kenntnissen bezüglich der Gesellschaft durch einen einzelnen Aufsichtsrat und die Zurechnung dieser Kenntnis an das Organ Aufsichtsrat (vgl. Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rdnr. 27 zu § 78 AktG, Tielmann in Backhaus/Tielmann, Der Aufsichtsrat, 2. Auflage, München 2023, Rdnr. 77 zu § 112 AktG).
52
Der vom Kläger erhobene Einwand, nach der Rechtsprechung des BAG genüge es für den Beginn der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB, dass einer von mehreren Gesamtvertretern die Kündigungsgründe kenne, womit die Kenntnis eines Aufsichtsratsmitglied ausreiche (vgl. Schriftsatz der Klägervertreter vom 02.05.2022, S. 11, Bl. 35 d.A.), greift nicht durch. Denn hinsichtlich der Passivvertretung sieht § 112 AktG iVm. § 78 Abs. 2 S. 1 AktG gerade keine Gesamtvertretung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat, sondern eine Einzelvertretung vor (vgl. Tielmann in Backhaus/Tielmann, der Aufsichtsrat, 2. Auflage, München 2023, Rdnr. 77 zu § 112 AktG). Die Rechtsprechung des BAG (vgl. bspw. BAG, Urteil vom 05.05.2022 – 2 AZR 483/21, Rdnr. 12 m.w.N. aus der Rechtsprechung des BAG) bezieht sich deshalb auch nicht auf die Kenntniserlangung eines Aufsichtsrats einer AG.
53
Demnach kommt es nach der Rechtsprechung des BGH zunächst darauf an, wann der Aufsichtsrat der Beklagten in einer Sitzung Kenntnis von den tatsächlichen Umständen, die einen wichtigen Grund für die Kündigung des Vorstandsdienstvertrages begründen, erlangte. Dies war im streitgegenständlichen Fall die Sitzung des Aufsichtsrats vom 11.10.2021. Da die Kündigung des Vorstandsdienstvertrages gegenüber dem Kläger bereits zwei Tage später am 13.10.2021 mit Zugang des Kündigungsschreibens vom 11.10.2021 ausgesprochen wurde, ist unter Zugrundelegung der oben dargelegten Rechtsprechung des BGH die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB grundsätzlich ohne weiteres eingehalten.
54
Jedoch ist es – wiederum unter Übertragung der oben dargelegten vom BGH entwickelten Grundsätze zur außerordentlichen fristlosen Kündigung eines GmbH-Geschäftsführers – dem betroffenen Vorstand nicht zuzumuten, bis zu einem unabsehbaren Zusammentritt des Aufsichtsrats zuwarten zu müssen. Wird daher die Einberufung des Aufsichtsrats einer AG von ihren einberufungsberechtigten Mitgliedern nach Kenntniserlangung von dem Kündigungssachverhalt unangemessen verzögert, muss sich der Aufsichtsrat so behandeln lassen, als wäre die Aufsichtsratssitzung mit der billigerweise zumutbaren Beschleunigung einberufen worden (OLG Karlsruhe, Urteil vom 28.04.2004 – 7 U 62/03, Rdnr. 8). Kenntniserlangung vom Kündigungssachverhalt in diesem Sinne erfordert eine sichere und umfassende Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen. Dies ist nur dann gegeben, wenn alles in Erfahrung gebracht worden ist, was als notwendige Grundlage für eine Entscheidung über Fortbestand oder Auflösung des Dienstverhältnisses anzusehen ist (vgl. BGH, Urteil vom 09.04.2013 – II ZR 273/11, Rdnr. 15 zur GmbH). Kennenmüssen oder grob fahrlässige Unkenntnis genügt nicht (vgl. BGH, Urteil vom 09.04.2013 – II ZR 273/11, Rdnr. 15 zur GmbH und Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rdnr. 196 zu § 84 AktG).
55
Allerdings kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Kenntnis iSd. § 199 BGB Kenntnis schon dann anzunehmen sein, wenn derjenige, auf dessen Kenntnis es ankommt, diese Kenntnis zwar tatsächlich noch nicht besitzt, sie sich aber in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen kann. In diesem Fall gilt die Kenntnis in dem Moment als erlangt, in dem der Geschädigte auf die entsprechende Erkundigung hin die Kenntnis erhalten hätte. Diese Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, dass der Verletzte es nicht in der Hand haben darf, einseitig die Verjährungsfrist dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer sich ihm aufdrängenden Kenntnis verschließt. Ein solches Sich-Verschließen liegt vor, wenn der Geschädigte es versäumt hat, eine gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, und deshalb letztlich das Sichberufen auf Unkenntnis als Förmelei erscheint, weil jeder andere in der Lage des Geschädigten unter denselben konkreten Umständen die Kenntnis gehabt hätte (BGH, Urteil vom 08.10.2002 – VI ZR 182/01, Rdnr. 11).
56
Hinsichtlich der Emails vom 23.04.2021, 16:27 Uhr (Anl. B 8), 31.05.2021, 17:47 Uhr (Anl. B 9), 16.06.2021, 11:13 Uhr (Anl. B 5), 18.06.2021, 17:17 Uhr (Anl. B 3), 21.06.2021, 12:34 Uhr (Anl. B 6), 24.06.2021, 11:15 (Anl. B 1), 28.06.2021, 13:26 Uhr (Anl. B 4) liegt eine unangemessene Verzögerung der Einberufung des Aufsichtsrats durch eines seiner Mitglieder nicht vor. Denn unstreitig erfuhr der Vorstand …, der als Vorstand zur Einberufung des Aufsichtsrats nicht befugt war, erst Ende September 2021 von der Weiterleitung der Emails, hörte den Kläger dazu am 28.09.2021 persönlich an und wartete bis zur schriftlichen Stellungnahme des Klägers vom 30.09.2021 laut Anl. B 10 ab, bevor er den Aufsichtsrat informierte. Demnach war, selbst wenn von einer unverzüglichen Information eines Aufsichtsratsmitglieds durch den Vorstand … nach Erhalts des Emails des Klägers vom 30.09.2021 laut Anl. B 10 ausgegangen werden sollte, bei Zugang der Kündigungserklärung beim Kläger am 13.10.2024 die zweiwöchige Frist des § 626 Abs. 2 BGB noch nicht abgelaufen, weshalb es auf eine verzögerliche Einberufung nicht ankommt. Eine vorherige Kenntnis des Aufsichtsratsmitglieds … von der Weiterleitung der Emails vom 23.04.2021, 16:27 Uhr (Anl. B 8), 31.05.2021, 17:47 Uhr (Anl. B 9), 16.06.2021, 11:13 Uhr (Anl. B 5), 18.06.2021, 17:17 Uhr (Anl. B 3), 21.06.2021, 12:34 Uhr (Anl. B 6), 24.06.2021, 11:15 (Anl. B 1), 28.06.2021, 13:26 Uhr (Anl. B 4) durch den Kläger an sich hat der Kläger nicht behauptet. Sie ist auch nicht ersichtlich, da in diesen Emails das Aufsichtsratsmitglied … nicht unter CC aufgeführt ist.
57
Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB war aber am 13.10.2021 entgegen der Ansicht des Landgerichts auch nicht bezüglich der beiden Emails vom 10.05.2021, 13:50 Uhr (Anl. B 7) und 31.05.2021, 12:10 Uhr (Anl. B 2) abgelaufen. Eine verzögerliche Einberufung des Aufsichtsrats der Beklagten liegt auch insoweit nicht vor, da nach Ansicht des Senats das Aufsichtsratsmitglied … trotz Erhalt dieser beiden Emails keine Kenntnis von deren Weiterleitung durch den Kläger an sich hatte. Die Aufnahme der klägerischen Email-Adresse unter CC in den Verteiler der beiden Emails begründet nämlich nur ein Kennenmüssen des Aufsichtsratsmitglieds…, da er bei genauer Lektüre auch des Verteilers der Emails hätte erkennen können und müssen, dass die Emails an den privaten Email-Account des Klägers weitergeleitet wurden. Ein „Verschließen der Augen vor einer sich ihm aufdrängenden Kenntnis“ ist nicht anzunehmen. Denn in Anbetracht der mit Prioritätsstufe „Hoch“ vom Kläger an das Aufsichtsratsmitglied … erfolgten Übermittlung der beiden Emails vom 10.05.2021 13:50 Uhr und vom 31.05.2021, 12:10 Uhr und der darin behandelten Sachverhalte (streitige Abzüge vom Vorstandsgehalt des Klägers in den Monaten März und April 2021 und unterbliebene Information des Klägers als Vorstand durch den Mitvorstand … und die Muttergesellschaft bzw. drohende Sperrung des Kontos der Beklagten durch die BAFIN) ist anzunehmen, dass der Fokus des Aufsichtsratsmitglieds … auf dem Inhalt der beiden Emails und weniger auf dem Verteiler lag, zumal es keine Anhaltspunkte gibt, aufgrund derer eine genauere Überprüfung des Verteilers geboten gewesen wäre. Zudem ist der Senat auch der Ansicht, dass durch die Positionierung der Email-Adresse des Klägers unter CC zwischen zwei anderen Adressen (Email vom 31.05.2021, 12:10 Uhr) bzw. als letzte Adresse (Email vom 10.05.2021, 13:50 Uhr) die Erkennbarkeit der Weiterleitung eher erschwert als erleichtert wird. Da nach alledem das Aufsichtsratsmitglied … weder nach Erhalt der Email vom 10.05.2021, 13:50 Uhr noch nach Zugang der Email vom 31.05.2021, 12:10 Uhr Kenntnis von der Weiterleitung hatte, liegt keine verzögerliche Einberufung vor und ist auch bezüglich dieser beiden Emails die Frist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt.
58
2. Die Weiterleitung der streitgegenständlichen Emails auf den privaten Account des Klägers ist auch ein wichtiger Grund iSd § 626 Abs. 1 BGB.
59
Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Dienstverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
60
a. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist (vgl. BGH, Urteil vom 29.01.2001 – II ZR 360/99, Rdnr. 9 zum Vorstand einer Genossenschaft, BGH, Urteil vom 02.06.1997 – II ZR 101 /96, Rdnr. 6 zum Geschäftsführer einer GmbH, zu Arbeitnehmern vgl. auch BAG, Urteil vom 19.04.2012 – 2 AZR 186/11, Rdnr. 20, Weidenkaff in Grüneberg, BGB, 83. Auflage, München 2024, Rdnr. 38 zu § 626 BGB). Als wichtiger Grund ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung dabei neben der Verletzung vertraglicher Hauptpflichten auch die schuldhafte Verletzung von Nebenpflichten „an sich“ geeignet (vgl. BAG, Urteil vom 08.05.2014 – 2 AZR 249/13, Rdnr. 19).
61
aa. Zur Begründung eines wichtigen Grundes „an sich“ kann im vorliegenden Fall jedoch nicht auf § 10 Abs. 1 DV abgestellt werden.
62
Nach § 10 Abs. 1 UA 1 DV ist der Vorstand verpflichtet, „alle betrieblichen Angelegenheiten und Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse“, die ihm während seiner Tätigkeit bekannt wurden, vertraulich zu behandeln. Insbesondere ist er verpflichtet, „vertrauliche Informationen dieser Art“ streng geheim zu halten, sie nicht zu verbreiten oder zu kommunizieren und sie auch nicht zu verwerten. Bei der Auslegung des § 10 Abs. 1 DV ist zu beachten, dass mit dieser Regelung der Umfang der Verschwiegenheitsverpflichtung des Vorstands bestimmt werden soll.
63
Die Verschwiegenheitsverpflichtung des Vorstands wird in § 93 Abs. 1 S. 3 AktG geregelt, der stipuliert, dass Vorstandsmitglieder über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Stillschweigen zu bewahren haben. Da diese Vorschrift zwingendes Recht ist, kann sie nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Die in § 93 Abs. 1 S. 3 AktG normierte Verschwiegenheitsverpflichtung kann aber auch nicht durch Satzung, Geschäftsordnung oder Anstellungsvertrag erweitert werden, wie sich aus § 23 Abs. 5 AktG ergibt (vgl. Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rdnr. 202 zu § 93 AktG; Spindler in Münchener Kommentar zum AktG, 6. Auflage, München 2023, Rdnr. 143 zu § 93 AktG; Schmidt in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Auflage, München 2020, Rdnr. 62 zu § 93 AktG; vgl. auch BGH, Urteil vom 05.06.1975 – II ZR 156/73, Rdnrn 8 f. zur Verschwiegenheitspflicht eines Aufsichtsrats nach § 116 iVm. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG a.F.). Stellt also die Weiterleitung der streitgegenständlichen Emails an den privaten Email-Account des Klägers keine Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung des Vorstands nach § 93 Abs. 1 S. 3 AktG dar, so ist unbeachtlich, wenn der Kläger gegen etwaig weitergehende Verpflichtungen aus § 10 Abs. 1 DV verstoßen haben sollte.
64
Nach der Rechtsprechung des BGH handelt es sich bei „vertrauliche(n) Angaben und Geheimnisse(n) der Gesellschaft“ iSd. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG um nicht allgemein bekannte (offenkundige) Tatsachen, an deren Geheimhaltung ein objektives Interesse des Unternehmens besteht (vgl. BGH, Urteil vom 26.04.2016 – IX ZR 108/15, Rdnr. 31).
65
Alle vom Kläger weitergeleiteten streitgegenständlichen Emails bezogen sich auf „betriebliche Angelegenheiten“ iSd. § 10 Abs. 1 UA 1 DV und beinhalteten keine offenkundigen Tatsachen. So betraf die Email vom 23.04.2021, 16:27 Uhr laut Anl. B 8 das Verhalten u.a. des Mitvorstands … bezüglich der Behandlung von Gehaltsabrechnungen nicht nur des Klägers, sondern auch des früheren Vorstandsvorsitzenden der Beklagten … . In der Email vom 10.05.2012 laut Anl. B 7 ging es um die Behandlung von Forderungen des Klägers gegen die Beklagte, um Schriftwechsel mit der Steuerberatungsgesellschaft der Beklagten sowie um Kompetenzstreitigkeiten mit dem Mitvorstand … Gegenstand der Email vom 31.05.2021, 12:10 Uhr (Anl. B 2) war eine Anfrage der … AG nach dem Geldwäschegesetz und eventuell drohende Maßnahmen der BAFIN gegen die Beklagte. Die Email vom 31.05.2021, 17:47 Uhr (Anl. B 9) bezog sich auf eine Zuständigkeitsstreitigkeit zwischen dem Kläger und Mitarbeitern der …-Gruppe sowie die Provisionsplanung für 2021. Letztere war auch Thema der am 16.06.2021 um 11:13 Uhr vom Kläger versandten Email (Anlage B 5), der u.a. eine als „confidentiel“ überschriebene Präsentation betreffend Fragen zur Provisionierung sowie das Protokoll eines internen Meetings vom 07.06.2021 zu dieser Problematik beigefügt war. Die Emails vom 18.06.2021, 17.17 Uhr (Anl. B 3) und vom 21.06.2021, 12:34 Uhr laut Anl. B 6 betrafen den von einem Mitarbeiter der Beklagten (…) gegen diese geltend gemachten Anspruch auf Provisionszahlungen. In der Email vom 24.06.2021, 11:51 Uhr (Anlage B 1) waren wiederum Umsatzerlöse und Bonifizierungsgrundlagen für diesen Mitarbeiter thematisiert. Dieser Email beigefügt waren Email-Verkehr des Klägers mit Mitarbeitern der Beklagten sowie die Kopie eines Lizenzvertrages mit dem Kundenunternehmen … GmbH. Gegenstand der am 28.06.2021 um 13:26 Uhr versandten Email laut Anl. B 4 an … und … von der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft … GmbH waren Spesenzahlungen der Beklagten an den Kläger.
66
Ob auch ein objektives Geheimhaltungsinteresse der Beklagten an diesen Tatsachen bestand, kann dahinstehen, da es jedenfalls an einer Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG durch den Kläger fehlt. Wann eine Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG vorliegt, ergibt sich aus dem objektiven Tatbestand des § 404 AktG, der Verletzungen der Verschwiegenheitsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG sanktioniert. Demzufolge ist die Verschwiegenheitsverpflichtung verletzt, wenn ein Geheimnis der Gesellschaft unbefugt offenbart (§ 404 Abs. 1 AktG) oder verwertet (§ 404 Abs. 2 S. 2 AktG) wird. Offenbart wiederum wird ein Geheimnis, wenn es jemandem, der dieses Wissen noch nicht hat (Unbefugter), mitgeteilt oder sonst in einer Weise zugänglich gemacht wird und er somit die Möglichkeit der Kenntnisnahme erhält. Die Art und Weise der Preisgabe ist irrelevant. Es kommt allein darauf an, dass der Adressat die nicht mehr abschirmbare Möglichkeit der Kenntnisnahme hat (vgl. Hefendehl in BeckOGK AktG, Stand 01.06.2024, Rdnr. 54 zu § 404 AktG). Diese Voraussetzungen sind im streitgegenständlichen Fall durch die Weiterleitung der Emails an den privaten Email-Account des Klägers nicht erfüllt, da der Kläger den Inhalt der Emails unstreitig keinem Dritten mitgeteilt oder zugänglich gemacht hat. Die Speicherung auf einem Freemail-Server reicht hierfür nicht aus. Auch eine Verwertung der Geheimnisse durch den Kläger ist unstreitig nicht erfolgt.
67
In Ermangelung einer Verletzung der Verschwiegenheitsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG kommt es daher nicht mehr darauf an, ob der Kläger die in § 10 Abs. 1 UA 3 lit a DV stipulierte Pflicht zur strengen Geheimhaltung vertraulicher Informationen verletzt hat, da eine Erweiterung der Geheimhaltungsverpflichtung des § 93 Abs. 1 S. 3 AktG durch den Vorstandsdienstvertrag nicht möglich ist.
68
bb. Auch wenn der Kläger nach alledem nicht gegen die ihm als Vorstand obliegende aktienrechtliche Verschwiegenheitsverpflichtung aus § 93 Abs. 1 S. 3 AktG verstieß, so hat er doch durch die Weiterleitung der streitgegenständlichen Emails gegen seine sich aus § 91 Abs. 1 S. 1 AktG ergebende Sorgfaltspflicht, die in Gestalt der Legalitätspflicht vom Vorstand eigene Regeltreue fordert, verstoßen. Denn wie das Landgericht richtig annahm (LGU S. 14), stellt die Weiterleitung der Emails auf den privaten Account des Klägers und die dortige Speicherung eine Verarbeitung iSd. Art. 4 Nr. 2 DSGVO dar, die nicht durch eine Einwilligung der betroffenen Personen gedeckt war (Art. 6 Abs. 1 lit a DSGVO). Diese Weiterleitung war auch nicht zur Wahrung der berechtigten Interessen des Klägers erforderlich (Art. 6 Abs. 1 lit f DSGVO). Gegen diese zutreffende rechtliche Wertung des Landgerichts hat die Berufung nichts erinnert, vielmehr hat der Kläger in seiner Berufungserwiderung/Anschlussberufungsbegründung (dort S. 13, Bl. 32 d.A.) sogar selbst eingeräumt, dass ihm nunmehr bewusst sei, dass eine Weiterleitung von dienstlichen Emails auf seinen privaten Email-Account nicht zulässig sei.
69
(1) Zwar ist nicht jeder Regelverstoß und damit auch nicht jeder Verstoß gegen Vorschriften der Datenschutzgrundverordnung schon „an sich“ als wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB geeignet. Dies ist jedoch zumindest dann der Fall, wenn – wie streitgegenständlich – die unter Missachtung der Regelungen der DSGVO erfolgte Weiterleitung der Emails an den privaten Email-Account des Klägers sensible Daten der Beklagten und anderer Dritter betrifft. Um solche sensiblen Daten handelte es sich vorliegend, da es in den Emails unter anderem um eine geldwäscherechtliche Bankanfrage, Provisisonsansprüche von Mitarbeitern (…), Gehaltsabrechnungen eines früheren Vorstandsvorsitzenden (…), Planungen der Beklagten zur Verprovisionierung ihrer Mitarbeiter und Zuständigkeitsstreitigkeiten im Vorstand der Beklagten ging. Zu berücksichtigen war darüber hinaus, dass die Weiterleitung nicht ein singulärer Vorfall war, sondern neun Emails weitergeleitet wurden.
70
(2) Die Weiterleitung der Emails wird auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Kläger – jedenfalls seiner Vorstellung nach – „nur solche Emails weiterleitete, die aufgrund der besorgniserregenden Veränderungen im Betrieb der Beklagten (…) unentbehrlich waren, um später beweisen zu können, dass er selbst keine zur Haftung führenden Fehler begangen hat“ (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 7, Bl. 31 d.A.). Denn für eine solche prophylaktische Selbsthilfe bestand – wie das Landgericht richtig ausführte (LGU S. 14 f.) – keine Veranlassung. Solange der Kläger noch Vorstand war, hatte er qua Amt Zugriff auf die Unterlagen der Beklagten. Nach seiner Abberufung als Vorstand hat er dagegen einen Einsichtsanspruch aus § 810 BGB, soweit er Unterlagen der Beklagten für seine Verteidigung benötigen sollte, wobei der Kläger durch die die Beklagte treffenden handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungspflichten auch vor unzeitiger Vernichtung der Unterlagen hinreichend geschützt ist (zur fehlenden Rechtfertigung prophylaktischer Selbsthilfe in einem vergleichbaren Fall eines Arbeitnehmers vgl. auch BAG, Urteil vom 08.05.2014 – 2 AZR 249/13, Rdnr. 33 und LArbG Hamm, Urteil vom 28.05.2020 – 15 Sa 2008/19, Rdnr. 63).
71
Nach alledem kann in der streitgegenständlichen Weiterleitung der Emails ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB „an sich“ liegen. Ein Vorstand ist demnach nicht anders zu beurteilen als ein Arbeitnehmer, dem es ohne Einverständnis des Arbeitgebers ebenso verwehrt ist, sich betriebliche Unterlagen oder Daten anzueignen oder diese für betriebsfremde Zwecke zu vervielfältigen (vgl. BAG Urteil vom 08.05.2014 – 2 AZR 249/13, Rdnr. 32).
72
b. Nach Feststellung, dass der streitgegenständliche Sachverhalt „an sich“, d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist, bedarf es der Prüfung, ob der Gesellschaft die Fortsetzung des Anstellungsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. BGH, Urteil vom 29.01.2001 – II ZR 360/99, Rdnr. 9 zum Vorstand einer Genossenschaft, BGH, Urteil vom 02.06.1997 – II ZR 101 /96, Rdnr. 6 zum Geschäftsführer einer GmbH, zu Arbeitnehmern BAG, Urteil vom 19.04.2012 – 2 AZR 186/11, Rdnr. 20, Weidenkaff in Grüneberg, BGB, 83. Auflage, München 2024, Rdnr. 38 zu § 626 BGB). Dabei ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse der Gesellschaft an der sofortigen Beendigung des Vorstandsanstellungsvertrages gegen das Interesse des Vorstands an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind dabei u.a. regelmäßig die Schwere der Pflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Vorstands, das Ausmaß des Schadens, eine mögliche Wiederholungsgefahr, die Dauer des Vorstandsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf sowie die sozialen Folgen für das Vorstandsmitglied (vgl. Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rdnr. 187 zu § 84 AktG).
73
aa. Demnach war in die Abwägung zu Gunsten des Klägers miteinzubeziehen, dass dieser bis zur außerordentlichen fristlosen Kündigung vom 11.10.2021 bereits mehr als acht Jahre (seit 01.07.2013) beanstandungslos als Vorstand der Beklagten tätig war und ausweislich des Handelsregisterauszugs laut Anl. K 2 zum Zeitpunkt der Kündigung bereits ein fortgeschrittenes Lebensalter von nahezu 64 Jahren erreicht hatte. Allerdings war bei der Berücksichtigung der sozialen Umstände gleichzeitig zu beachten, dass nach dem unbestrittenen Vortrag der Beklagten (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 20.06.2022, S. 2, Bl. 44 d.A.) der Kläger bereits seit 07.02.2022 eine Neuanstellung hat.
74
Zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen war ferner, dass die von ihm weitergeleiteten Daten weder zur Kenntnis an Dritte gelangten noch die Beklagte wegen der Verstöße gegen die DSGVO sanktioniert wurde. Darüber hinaus handelte der Kläger auch nicht heimlich, sondern machte dadurch, dass er seine private Email-Adresse in CC setzte, für die anderen am Email-Wechsel Beteiligten erkennbar, dass er die Emails an seinen privaten Account weiterleitete. Daraus lässt sich entnehmen, dass er subjektiv der Ansicht war, dazu berechtigt zu sein.
75
bb. (1) Entgegen der Ansicht des Klägers wäre die von ihm behauptete (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 3 erster Absatz, Bl. 27 d.A.), von der Beklagten mit Nichtwissen bestrittene (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 20.06.2022, S. 4, Bl. 46 d.A.) und damit vom Senat unterstellte Absprache mit dem vormaligen Vorstandsvorsitzenden …, „wichtige, seine (d.h. des Klägers) dienstliche Position betreffende“ Emails auf seinen privaten Account weiterzuleiten, nicht zu Gunsten des Klägers in die Abwägung einzustellen. Denn eine solche (unterstellte) Absprache innerhalb des Vorstands, entgegen den Vorgaben der DSGVO und damit gesetzeswidrig mit vertraulichen Emails umzugehen, entlastet den Kläger nicht. Der Vorstand kann sich nicht durch Absprache seiner Mitglieder untereinander von zwingenden Vorgaben der DSGVO dispensieren. Vielmehr ergibt sich aus der vom Kläger vorgetragenen Unrechtsabrede zweier Vorstände, dass die Datenschutzverstöße vom Kläger (und …) planmäßig und systematisch begangen wurden und es sich damit gerade nicht nur um eine einmalige Fehlleistung des Klägers handelt. Die Abrede zwischen … und dem Kläger hat für die Beklagte auch deshalb keine Bedeutung, da gemäß § 112 AktG die Gesellschaft gegenüber dem Vorstand durch den Aufsichtsrat vertreten wird.
76
(2) Da damit eine von der DSGVO abweichende Praxis von Vorständen der Beklagten zu keiner Entlastung führt, kommt es auch schon deshalb auf die vom Kläger im Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 02.05.2022, dort. S. 4 – 6, Bl. 28 – 30 d.A., und in der Berufungserwiderung und Anschlussberufungsbegründung vom 22.06.2023, dort S. 7 und 8, Bl. 26 f. d.A., aufgeführten Weiterleitungen bzw. den Versand von Emails durch die (zeitweiligen) Mitvorstände…, … und … an den privaten Account des Klägers nicht an.
77
(3) Soweit es sich um Weiterleitungen an den privaten Account des Klägers durch Mitarbeiter einer Schwestergesellschaft oder Organe der Muttergesellschaft der Beklagten handelte, ist dies schon deshalb irrelevant, da es im Verhältnis der Parteien zueinander nicht darauf ankommt, wie Dritte, zu denen auch Schwestergesellschaften und die Muttergesellschaft der Beklagten sowie deren Organe zählen, mit der Weiterleitung von Emails verfahren. Etwaige Weiterleitungen von … oder … an den privaten Account des Klägers sind daher schon deshalb ohne Bedeutung (unabhängig davon, dass ausweislich der streigegenständlichen Email-Verläufe laut Anl. B 1 – B 9 – wie unten unter (4) noch darzustellen sein wird – jedenfalls … Emails ausschließlich an die dienstliche Adresse des Klägers richtete).
78
(4) Entlastend könnte sich allenfalls auswirken, wenn der Aufsichtsrat der Beklagten von den praktizierten Datenschutzverstößen des Klägers in Form der Weiterleitung von Emails durch den Kläger auf seinen privaten Email-Account Kenntnis gehabt hätte und diese gebilligt oder zumindest geduldet hätte. Davon kann zur Überzeugung des Senats jedoch keine Rede sein.
79
Aufgrund des Verlaufs der streitgegenständlichen neun Email-Konversationen geht der Senat nämlich davon aus, dass – wie die Beklagte richtig behauptete (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 20.06.2022, S. 5, Bl. 47 d.A.) – es in allen streitgegenständlichen neun Email-Verläufen laut Anl. B 1 – B 9 nicht Organe oder Mitarbeiter der Beklagten bzw. Organe anderer Gesellschaften der …-Gruppe, sondern der Kläger selbst war, der seine private Email-Adresse in CC setzte, um die Email-Korrespondenz zu Beweissicherungszwecken in Kopie auf seinen privaten gmx-Account zu leiten.
80
So waren im Verlauf laut Anl. B 1 alle Emails der Teilnehmer jeweils an die dienstlichen Adressen der jeweiligen Empfänger gerichtet. Erstmals in der Email des Klägers vom 24.06.2021, 11:51 Uhr an … tauchte die private Adresse des Klägers unter CC auf.
81
Im Email-Verlauf laut Anl. B 2 erschien der private Account des Klägers in CC erstmals in der Email vom 31.05.2021, 12:10 Uhr, das vom Kläger versandt wurde. Die von …, einer Mitarbeiterin der Beklagten, stammende Email vom 12.04.2021, 15:05 Uhr, die am Beginn des Email-Verlaufs laut Anl. B 2 stand, war nämlich nur an die dienstliche Email-Adresse des Klägers gerichtet.
82
Im Email-Verlauf laut Anl. B 4 war weder in der Ausgangs-Email von …, einer Steuerberaterin der Beklagten, vom 26.05.2021, 16:03 Uhr, in deren weiteren Emails vom 28.06.2021, 11:36 Uhr und 12:02 Uhr noch in der Email von … vom 28.06.2021, 11:44 Uhr der private Account des Klägers in CC gesetzt. Dies erfolgte erstmals durch den Kläger in dessen Email vom 28.06.2021, 12:42 Uhr. Dass der private Account des Klägers unter CC sodann in der Email des …, eines Steuerberaters der Beklagten, vom 28.06.2021, 12:58 Uhr aufscheint, folgt aus der vorherigen Erweiterung des Verteilers durch den Kläger.
83
Im Email-Verlauf laut Anl. B 5 ist die zeitlich erste Email diejenige von … vom 16.06.2021, 10:22 Uhr. Diese war jedoch nur an die dienstliche Adresse des Klägers gerichtet. Auch hier war es der Kläger, der in seiner Antwort-Email vom 16.06.2021, 11:13 Uhr seinen privaten Email-Account in CC setzte.
84
Im Email-Verlauf laut Anl. B 6 war Ausgangs-Email eine Email von …, einem Mitarbeiters der Beklagten, vom 18.06.2021, 13:53 Uhr, die ausschließlich an den dienstlichen Account des Klägers gerichtet war. Auch hier war es der Kläger, der seinen privaten Account in seiner Antwort-Email vom 18.06.2021, 16:25 Uhr in CC setzte. Aus diesem Verlauf ergibt sich im Übrigen, dass … für ihre Antwort mit Email vom 21.06.2021, 08:51 Uhr im Übrigen gerade nicht den privaten Account des Klägers, sondern ausschließlich dessen dienstliche Email-Adresse nutzte. Auch hier hat wiederum der Kläger in seiner Reaktion vom 21.06.2021, 12:34 Uhr hierauf seinen privaten Account in CC gesetzt.
85
Im Email-Verlauf laut Anl. B 7 haben alle Teilnehmer, die Emails an den Kläger richteten (der Steuerberater … am 27.04.2021, 08:41 Uhr und … am 28.04.2021, 13:45 Uhr sowie am 05.05.2021, 09:20 Uhr), dies ausschließlich unter Verwendung des dienstlichen Accounts des Klägers getan. Auch hier wurde der private Account des Klägers erst durch den Kläger in CC gesetzt (Email des Klägers vom 28.04.2021, 10:21 Uhr und vom 10.05.2021, 13:50).
86
Aus den Einzel-Emails laut Anl. B 3, B 8 und B 9 kann der Verlauf nicht entnommen werden. Dort ist jedoch in CC immer der private Email-Account des Klägers gesetzt.
87
Entgegen der Ansicht des Klägers lässt sich aus der von ihm zu seiner Entlastung angeführten Weiterleitung eines Emails des Aufsichtsratsmitglieds … vom 18.03.2021, 15:15 Uhr durch diesen an den privaten Account des Klägers (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 4 unten, Bl. 28 d.A.) keine Duldung von Seiten des Aufsichtsratsmitglieds … ableiten. Denn ausweislich des Email-Verlaufs laut Anl. B 14 war es auch hier der Kläger, der nach einem bereits mehrere Tage andauernden Email-Wechsel, der zuvor von allen daran Beteiligten ausschließlich über dienstliche Accounts abgewickelt wurde, mit dem von ihm verschickten Email vom 18.03.2021, 15:05 Uhr erstmals eine Kopie an seinen privaten Email-Account sandte. Dass in dem Antwort-Email des Aufsichtsratsmitglieds … vom 18.03.2021, 15:15 Uhr der private Email-Account des Klägers in CC gesetzt, folgt aus der vorherigen Erweiterung des Verteilers durch den Kläger.
88
Entsprechendes gilt für das vom Kläger in Bezug genommene Email des … vom 17.07.2019, 19:39 Uhr (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 5 unten, Bl. 29 d.A.). Auch hier erfolgte die Email-Kommunikation ausweislich des Verlaufs laut Anl. B 15 zunächst ausschließlich über die dienstlichen Accounts aller daran Beteiligten (…, …, …, …, …, …,…), bis der Kläger in seinem Email vom 17.07.2019, 16:28 Uhr seinen privaten Email-Account in CC setzte.
89
Hinsichtlich der beiden Emails vom 10.05.2021 (Anl. B 7) und vom 31.05.2021, 12:10 Uhr (Anl. B 2) erfolgte die Hinzusetzung des privaten Email-Accounts des Klägers in CC – wie oben ausgeführt – nicht durch das Aufsichtsratsmitglied …, sondern durch den Kläger selbst, sodass daraus auch keine Billigung dieser Praxis durch das Aufsichtsratsmitglied … abgeleitet werden kann. Da wie – wie bereits oben unter 1 dargelegt – der Senat auch nicht davon ausgeht, dass das Aufsichtsratsmitglied … von der Weiterleitung der beiden Emails an den privaten Email-Account des Klägers Kenntnis hatte, ist auch eine fehlende Reaktion des Aufsichtsratsmitglieds … hierauf nicht als Billigung der klägerischen Praxis durch den Aufsichtsrat der Beklagten zu werten.
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(5) Auch die vom Kläger behauptete Praxis von Mitarbeitern der Beklagten, mittels privater Email-Accounts miteinander auch in dienstlichen Angelegenheiten zu kommunizieren, kann das klägerische Vorgehen nicht in einem milderen Licht erscheinen lassen. Denn aus den streitgegenständlichen Email-Verläufen und den vom Kläger darüber hinaus in Bezug genommenen Emails (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 4 – 6, Bl. 28 – 30 d. A.) ergibt sich – wie oben unter (4) ausgeführt – eine solche Praxis gerade nicht. Im Übrigen könnte eine solche (unterstellte) Praxis den Kläger auch nicht entlasten, da er als Vorstand gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 AktG nicht nur zu eigenem gesetzeskonformen Handeln verpflichtet war (Legalitätspflicht), sondern auch im Rahmen der ihm obliegenden Legalitätskontrollpflicht dafür Sorge zu tragen hatte, dass die Mitarbeiter der Beklagten gesetzeskonform und damit in Übereinstimmung mit der DSGVO agierten (vgl. Koch in ders. AktG, 18. Auflage, München 2024, Rdnr. 9 zu § 93 AktG).
91
(6) Dass – wie der Kläger vorträgt – keine Wiederholungsgefahr bestanden hätte, wenn der Kläger vom Aufsichtsrat auf die Rechtswidrigkeit seines Vorgehens hingewiesen oder deswegen abgemahnt worden wäre, weil er dann sein Verhalten geändert hätte, entlastet ihn ebenfalls nicht. Die Wiederholungsgefahr ergibt sich allein aus der erheblichen Anzahl weitergeleiteter Emails (neun Email-Verläufe innerhalb von etwas mehr als zwei Monaten) und dem systematischen Verhalten des Klägers (dazu oben unter (4)).
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Auf eine vom Kläger behauptete Änderung seines Verhaltens im Falle einer Abmahnung durch die Beklagte kann sich der Kläger nicht berufen, da nach der Rechtsprechung des BGH eine Abmahnung eines Vorstands vor dem Ausspruch einer außerordentlichen fristlosen Kündigung eines Vorstandsdienstvertrages auch nach der Schuldrechtsreform gerade nicht erforderlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 02.07.2007 – II ZR 71/06). Im Übrigen hat der Senat – obwohl es demnach entscheidungserheblich gar nicht mehr darauf ankommt – im Hinblick auf die vom Kläger im Email vom 30.09.2021 laut Anl. B 10 abgegebene Stellungnahme erhebliche Zweifel an einer Verhaltensänderung. Denn in der Email entschuldigt und relativiert der Kläger seine Rechtsverstöße nach seiner Überführung damit, dass er die streitgegenständlichen Email-Verläufe ja auch hätte ausdrucken können und dies mittlerweile auch getan habe, was natürlich genauso wenig zulässig ist wie die vorangegangene Archivierung in elektronischer Form. Letztendlich erklärte der Kläger damit nur, dass er einen Datenschutzverstoß durch einen anderen genauso gravierenden perpetuiert habe.
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cc) Zu Lasten des Klägers war in die Abwägung miteinzustellen, dass die weitergeleiteten Emails äußerst sensible Daten (Provisionspläne, Gehalts- und Provisionsabrechnungen, Compliance-Vorgänge, Auseinandersetzungen zwischen Vorständen der Beklagten) enthielten, an deren Vertraulichkeit die Beklagte ein sehr hohes Interesse hatte und die sich auch nicht nur auf das Verhältnis zwischen den Parteien bezogen, sondern darüber hinaus auch Dritte betrafen (insbesondere den Mitarbeiter …), die davon ausgehen konnten, dass ihre Daten nicht auf private Email-Accounts wie dem des Klägers gelangten.
94
Zu Lasten des Klägers war darüber hinaus in die Abwägung einzustellen, dass es sich – wie oben unter bb (4) ausgeführt – nicht um ein singuläres Fehlverhalten, sondern um ein – nach dem eigenen Vortrag des Klägers – offenbar mit dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden … abgesprochenes systematisches Vorgehen des Klägers handelte. Dafür spricht auch die mit neun relativ hohe Anzahl von streitgegenständlichen Email-Verläufen in einem Zeitraum von nur gut zwei Monaten.
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Gegen den Kläger war auch zu werten, dass es nach dem eigenen Vortrag des Klägers erklärtes Ziel der von ihm begangenen DSGVO-Verstöße war, Material für die Verbesserung seiner Argumentationsbasis in vom Kläger offensichtlich erwarteten Haftungsprozessen der Beklagten gegen ihn zu sammeln (vgl. Schriftsätze des Klägervertreters vom 02.05.2022, S. 7 erster Absatz, Bl. 31 d.A. und vom 07.07.2022, S. 4 dritter Absatz, Bl. 57 d.A.), die Rechtsbrüche also ausdrücklich gegen die Beklagte gerichtet waren.
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Schließlich war zu Lasten des Klägers auch noch zu berücksichtigen, dass zwischen dem Ausspruch der außerordentlichen fristlosen Kündigung am 11./13.10.2021 und dem Auslaufen des Vorstandsdienstvertrages mit Ablauf des 14.09.2021 noch ein langer Zeitraum, nämlich über elf Monate, gelegen hätte. Eine ordentliche Kündigung sieht der DV nicht vor.
97
dd) Bei einer Zusammenschau aller dieser Umstände und unter Abwägung der Interessen des Klägers an der Fortsetzung des Vorstandsdienstverhältnisses bis zum Auslaufen des Vorstandsdienstvertrages einerseits und der Beklagten an der schnellstmöglichen Beendigung des Dienstverhältnisses andererseits ist der Senat der Ansicht, dass es der Beklagten nicht zumutbar war, nach Feststellung der Rechtsverstöße des Klägers noch weitere elf Monate mit diesem als ihrem Vorstand zusammenzuarbeiten. Dies stützt der Senat insbesondere darauf, dass es um eine Vielzahl von höchst sensiblen Daten der Beklagten und Dritter ging und gleichzeitig das DSGVOwidrige Weiterleiten nach dem eigenen Vortrag des Klägers ausschließlich der Vorbereitung einer erwarteten gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen den Parteien dienen sollte. Es ist nicht ersichtlich, wie unter solchen Umständen die Beklagte noch das notwendige Vertrauen in den Kläger haben sollte, dass dieser mit seinen Handlungen – wie nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG geboten – „zum Wohle der Gesellschaft“ handelt, wenn der Kläger zuvor in rechtswidriger Weise systematisch Material gegen die Beklagte zu deren Nachteil sammelt. Ohne ein solches Vertrauen konnte der Beklagten aber nicht zugemutet werden, über den noch erheblichen Zeitraum von mehr als elf Monaten bis zum Auslaufen des Vorstandsdienstvertrages mit dem Kläger als ihrem Vorstand zusammenzuarbeiten. Daran ändern auch die zum Kündigungszeitpunkt bereits recht lange dauernde erfolgreiche Vorstandstätigkeit des Klägers für die Beklagte und die anderen für den Kläger zu berücksichtigenden Umstände nichts.
98
Da nach alledem die außerordentliche fristlose Kündigung innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB ausgesprochen wurde, ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB vorlag und eine vorherige Abmahnung nach der Rechtsprechung des BGH nicht erforderlich war, endete das Vorstandsdienstverhältnis des Klägers mit der Beklagten mit Zugang der Kündigungserklärung am 13.10.2021 und war deshalb auf die Berufung der Beklagten hin der Feststellungsantrag zu 2) unter diesbezüglicher Abänderung des landgerichtlichen Urteils abzuweisen.
99
II. Die zulässige Anschlussberufung des Klägers ist unbegründet. Denn das Landgericht hat in jeder Hinsicht richtig festgestellt, dass die Abberufung des Klägers durch den Beschluss des Aufsichtsrats der Beklagten vom 11.10.2021 wirksam ist.
100
1. Anhaltspunkte für eine formelle Unwirksamkeit des Aufsichtsratsbeschlusses vom 11.10.2021, mit dem der Kläger als Vorstand der Beklagten abberufen wurde, bestehen nicht.
101
Wie das Landgericht zutreffend ausführt (LGU S. 12 unter Punkt II 2 a der Entscheidungsgründe:), ist gemäß § 107 Abs. 2 S. 1 AktG die Unterzeichnung der Niederschrift (Anl. K 5) über die Aufsichtsratssitzung, in der der Beschluss gefasst wurde, durch den Aufsichtsratsvorsitzenden allein ausreichend. Dagegen hat der Kläger in der Berufung auch nichts erinnert.
102
2. Der Abberufungsbeschluss vom 11.10.2021 ist auch materiell wirksam.
103
a. Aus den oben unter I 2 bezeichneten Gründen liegt in der Weiterleitung der neun streitgegenständlichen Email-Verläufe (Anl. B 1 – B 9) auf den privaten Email-Account des Klägers durch ihn ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB für die außerordentliche fristlose Kündigung des Vorstandsdienstvertrages laut Anl. K 1. Ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB für die außerordentliche fristlose Kündigung des Vorstandsdienstvertrages bildet jedoch immer auch einen wichtigen Grund für die Abberufung des Vorstands iSd. § 84 Abs. 4 S. 1 AktG, da die Voraussetzungen, unter denen eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB ausgesprochen werden darf, enger gezogen sind als der Kreis der Gründe, die den Widerruf der Organstellung erlauben (BGH, Urteil vom 29.05.1989 – II ZR 220/88, Rdnr. 13, vgl. auch Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rdnr. 186 zu § 84 AktG).
104
b. Der Widerruf muss nicht innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erfolgen, er unterliegt nur der Verwirkung (vgl. Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 01.02.2024, Rdnr. 130 zu § 84 AktG). Eine solche ist nicht eingetreten, da wie oben unter I 1 ausgeführt, die Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten ist und vor deren Ablauf eine Verwirkung aufgrund Zeitablaufs ohnehin nicht angenommen werden kann.
105
3. Da die (Gestaltungs) Klage des Klägers hinsichtlich der (Un) Wirksamkeit seiner Abberufung damit ohnehin unbegründet ist, kommt es auch nicht darauf an, dass die Beklagte mittlerweile in eine GmbH umgewandelt wurde.
C.
106
I. Der Ausspruch zu den Kosten folgt aus §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, da der Kläger vollumfänglich unterlag.
107
II. Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
108
III. Die Revision gegen dieses Urteil war nicht zuzulassen, da ein Revisionsgrund nicht vorliegt.