Titel:
Beratungspflicht Jobcenter, Heil- und Behandlungsplan, Mehrbedarf, private Krankenversicherung
Normenketten:
SGB II § 21 Abs. 6
SGB II § 26
SGB V § 55
VVG § 193
Leitsätze:
1. Ein Heil- und Behandlungsplan für eine zahnärztliche Behandlung stellt lediglich einen prognostischen Bedarf dar, der im Rahmen des SGB II nicht vorab zu einer Leistungszusage führen kann.
2. Wurde eine private Krankenversicherung trotz entsprechender Beratung durch das Jobcenter nicht umgestellt, ist eine Übernahme nicht gedeckter Kosten nicht veranlasst.
Schlagworte:
Beratungspflicht Jobcenter, Heil- und Behandlungsplan, Mehrbedarf, private Krankenversicherung
Vorinstanz:
SG München vom 19.01.2023 – S 53 AS 2062/20
Rechtsmittelinstanz:
BSG Kassel, Beschluss vom 19.08.2024 – B 4 AS 48/24 B
Fundstellen:
BeckRS 2024, 21612
FDSozVR 2024, 021612
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 19. Januar 2023 sowie der Bescheid des Beklagten vom 9.10.2020 idG des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2020 abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum August 2020 weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II iHv 1.109,30 Euro zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu einem Zehntel.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Streitig ist, ob der Beklagte und Berufungsbeklagte (Beklagter) nach dem SGB II verpflichtet ist, von der Krankenversicherung der Klägerin und Berufungsklägerin (Klägerin) im Zeitraum von Juli 2020 bis Juni 2021 nicht erstattete Kosten für Zahnarztbehandlungen sowie weitere entsprechende Kosten aus diversen Kostenvoranschlägen zu übernehmen.
2
Die 1964 geborene Klägerin lebte im streitigen Zeitraum allein unter der im Rubrum angegebenen Adresse zu monatlichen Kosten iHv 685 Euro.
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Die Klägerin unterhielt einen Krankenversicherungsvertrag (Tarif KVG3), der die gesetzlichen Anforderungen zur Versicherungspflicht erfüllt, zu einem privaten Versicherungsunternehmen zu monatlichen Kosten iHv 254,35 Euro (2020) bzw 252,14 Euro (2021). Für eine private Pflegeversicherung schuldete sie 67,28 Euro monatlich.
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Die vermögenslose Klägerin bezog im streitigen Zeitraum aus einer geringfügigen Beschäftigung Einkommen iHv 449,90 Euro am 24.7., 27.8. und 30.9.2020.
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Der Beklagte bewilligte der Klägerin für die Zeit vom 1.7.2020 bis 30.6.2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung der tatsächlich geschuldeten laufenden Kosten für Unterkunft und Heizung (Bescheid vom 27.3.2020). Darüber hinaus gewährte der Beklagte einen unmittelbar an das private Krankenversicherungsunternehmen ausgezahlten Zuschuss zum Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung iHv 321,63 Euro monatlich. Einkommen wurde auf den Bedarf der Klägerin (im Juli und August 2020) nicht angerechnet.
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Nachdem die Krankenversicherung am 2.7.2020 für vier von der Klägerin eingereichte Heil- und Kostenpläne wegen Zahnbehandlung und Zahnersatz vom 30.6.2020 über insgesamt 14.916,05 Euro eine Zusage über voraussichtliche Leistungen lediglich iHv 4.580,27 Euro erteilt hatte, bat die Klägerin am 13.7.2020 den Beklagten, den Differenzbetrag zu übernehmen. Sie sei zurzeit in einer Zahnbehandlung, die medizinisch sehr notwendig sei, da sie nicht mehr richtig aufbeißen könne. Sie habe Schmerzen. Die Krankenversicherung übernehme lediglich einen kleinen Betrag.
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Darüber hinaus legte die Klägerin Zahnarztrechnungen sowie die zugehörige Abrechnung der Krankenversicherung vor, wonach von der Rechnung vom 24.7.2020 über einen Betrag iHv 761,32 Euro von der Versicherung 594,24 Euro (Abrechnungen vom 24.8. und vom 29.10.2020) und von der Rechnung vom 31.7.2020 über 3.629,51 Euro von der Versicherung 2.020,25 Euro (Abrechnung vom 24.8.2020) erstattet worden seien. Schließlich legte die Klägerin zwei weitere Abrechnungen der Krankenversicherung vor, wonach von einer Zahnarztrechnung über 145,78 Euro bzw 160,97 Euro 106,45 Euro bzw 123,17 Euro (Abrechnung vom 27.7.2020) erstattet würden.
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Der Beklagte lehnte die Übernahme der zusätzlichen Gebühren für die Zahnbehandlung ab. Kosten, die für eine medizinisch notwendige Behandlung entstünden, seien von der Krankenversicherung zu begleichen. Hierbei spiele es keine Rolle, ob die Klägerin privat oder gesetzlich krankenversichert sei. Zudem seien im Regelsatz 4,3% für die Gesundheitspflege gedacht. Für zusätzlich entstehende Kosten könne die Klägerin monatliche Rücklagen bilden. Zusätzliche Gebühren könnten daher vom Beklagten nicht übernommen werden (Bescheid vom 9.10.2020). Auch ein Darlehen zur Tilgung von Zahnersatz- und Zahnbehandlungskosten in Höhe von 1.812,85 Euro (von der Krankenversicherung nicht erstattete Kosten aus den Zahnarztrechnungen vom 31.7.2020 sowie vom 24.7.2020) könne nicht gewährt werden. Die entsprechenden Zahlungsaufforderungen müssten vorrangig der Krankenkasse vorgelegt werden, damit diese die Übernahmehöhe errechne und ggf bewillige. Sollte die Krankenkasse die vollständigen Kosten nicht übernehmen, könne die Klägerin dort einen sog Härtefallantrag stellen. Da die Klägerin noch nicht alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft habe, sei ihr Antrag auf darlehensweise Leistungen für Zahnersatz- und Zahnbehandlungskosten abzulehnen gewesen (Bescheid vom 11.11.2020).
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Die Widersprüche (Widerspruchsbescheid vom 20.11.2020) und die am 10.12.2020 zum Sozialgericht München erhobene Klage (Gerichtsbescheid vom 19.1.2023) blieben ohne Erfolg.
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Mit ihrer am 16.2.2023 eingelegten Berufung möchte die Klägerin eine Übernahme der ihr von der Krankenversicherung nicht erstatteten Zahnbehandlungskosten sowie der in den Kostenvoranschlägen vom 30.6.2020 prognostizierten und von der Leistungszusage der Krankenversicherung vom 2.7.2020 nicht umfassten Kosten erreichen.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 19.1.2023 sowie die Bescheide des Beklagten vom 9.10.2020 und vom 11.11.2020 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Zahnbehandlungskosten als Zuschuss, hilfsweise als Darlehen zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Er verweist auf die Begründung der angegriffenen Entscheidungen.
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Ausweislich der aktenkundigen Kontoauszüge überwies die Klägerin dem Beklagten in den Monaten August, September und Oktober 2020 jeweils 272 Euro. Hierzu hat die Klägerin mitgeteilt, damit die aufgrund der Einkommenserzielung von Juli bis September 2020 erfolgte Leistungsüberzahlung ausgeglichen zu haben. Der Beklagte hat die Zahlungseingänge auf die Rückzahlung eines Kautionsdarlehens bzw eine Erstattungsforderung vom 14.5.2020 verbucht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die vorliegenden Akten verwiesen, auch soweit diese vom Sozialgericht München und dem Beklagten beigezogen worden sind.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung ist im tenorierten Umfang begründet.
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1. Streitig sind der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München sowie die Bescheide des Beklagten vom 9.10.2020 und vom 11.11.2020 jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2020, mit dem die Übernahme von Kosten für verschiedene Zahnbehandlungen, die zum Teil bereits durchgeführt worden sind, zum Teil aber immer noch ausstehen, sowohl in Form eines Zuschusses als auch in Form eines Darlehens abgelehnt worden ist. Dabei ist der Bescheid vom 9.10.2020, mit dem die Übernahme der von der Krankenkasse abgelehnten Erstattung der Kosten für Zahnbehandlungen abgelehnt worden ist, dahin zu verstehen, dass höhere Leistungen für den laufenden Bewilligungsabschnitt (1.7.2020 bis 30.6.2021, vgl Bescheid vom 27.3.2020) abgelehnt worden sind (vgl BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R –, Rn 11 ff).
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2. Die Berufung hat im tenorierten Umfang Erfolg. Die Klägerin hat Anspruch auf weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, da die Kosten der bei ihr bereits durchgeführten Zahnbehandlungen, soweit sie medizinisch notwendig und von der Krankenversicherung nicht übernommen worden sind, im streitigen Zeitraum bzw zum Zeitpunkt der Rechnungsstellung bzw deren Fälligkeit einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II begründen. Gleichzeitig sind die im Rahmen der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen bislang unberücksichtigt gebliebenen Einnahmen aus Erwerbstätigkeit in die Leistungsberechnung einzubeziehen. Insgesamt sind die angefochtenen Entscheidungen entsprechend abzuändern.
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a) Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf höhere Leistungen nach dem SGB II sind § 19 Abs. 1 S. 1 und 3, Abs. 3 S. 1 SGB II in der Fassung vom 13.5.2011, § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II in der Fassung vom 30.11.2019 und § 9 Abs. 1 S. 1 SGB II in der Fassung vom 13.5.2011.
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b) Die Klägerin war im streitigen Zeitraum leistungsberechtigt nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II, da sie mit 56 Jahren die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht hatte, Anhaltspunkte für das Fehlen ihrer Erwerbsfähigkeit nicht vorlagen, sie ihren Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen und Vermögen nicht (vollständig) bestreiten konnte und ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten und damit in der Bundesrepublik Deutschland hatte. Anhaltspunkte für das Bestehen von Ausschlussgründen insbesondere nach § 7 Abs. 4 f SGB II sind nicht festzustellen.
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c) Der Gesamtbedarf der Klägerin an Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts betrug im Juli 2020 1.579,58 Euro und im August 2020 2.827,85 Euro. Er setzte sich im Juli 2020 aus dem Regelbedarf iHv 432 Euro, den laufenden Bedarfen für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II iHv 685 Euro, einem Zuschuss zum Beitrag zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung nach § 26 Abs. 1 und 3 SGB II in der Fassung vom 26.7.2016 iHv 321,63 Euro (ab 1.1.2021 iHv 319,42 Euro) sowie einem Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 in der Fassung vom 9.12.2020 iHv 140,95 Euro im Juli bzw iHv 1389,22 Euro im August zusammen.
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aa) Nach § 21 Abs. 6 SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
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bb) Unabweisbar im Sinne des Grundsicherungsrechts kann wegen der Subsidiarität dieses Leistungssystems ein medizinischer Bedarf grundsätzlich nur dann sein, wenn nicht die gesetzliche Krankenversicherung oder Dritte (als solche kommt eine private Krankenversicherung in Betracht) zur Leistungserbringung, also zur Bedarfsdeckung verpflichtet sind. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem Fall, in dem der Ausfall der Bedarfsdeckung durch die gesetzliche Krankenkasse aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung des Versicherten zur Zuzahlung oder vorläufigen/endgültigen Tragung eines Eigenanteils erfolgt, und dem Fall, dass dem Leistungsberechtigten durch eine medizinisch notwendige Behandlung deswegen regelmäßig Kosten entstehen, weil Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung etwa wegen ihres geringen Abgabepreises, aus sonstigen Kostengründen oder systematischen/sozialpolitischen Gründen von der Versorgung nach dem SGB V ausgenommen wurden. Werden, wie im zweiten Fall, Aufwendungen für eine notwendige Behandlung aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, kann grundsätzlich ein Anspruch auf eine Mehrbedarfsleistung entstehen (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R –, Rn 22).
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Auch Leistungsberechtigte, die – wie die Klägerin – gegen das Risiko Krankheit bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen (im Rahmen eines Versicherungsvertrages, der der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 des VVG genügt) versichert sind, müssen sich zunächst auf die Erstattung ihrer Behandlungskosten durch ihre private Krankenversicherung verweisen lassen. Ansprüche zur Krankenversorgung Leistungsberechtigter, die für den Fall der Krankheit Versicherungsschutz bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen unterhalten, richten sich (zunächst) nach § 26 SGB II (vgl. BSG, Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 8/14 R –, Rn 14 bis 18). Gleichzeitig hat das Bundessozialgericht darauf hingewiesen, dass Selbstbehaltskosten bis zum Zeitpunkt eines möglichen Wechsels in den PKV-Basistarif nach Beratung des Grundsicherungsträgers über die Möglichkeit und die Folgen eines Verbleibs im Selbstbehaltstarif bis zur Höhe eines entsprechenden Aufwands in der gesetzlichen Krankenversicherung übergangsweise einen Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II bilden können (vgl. BSG, Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 8/14 R –, Rn 19 ff auch zum Folgenden).
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cc) Ein unabweisbarer Bedarf bestehe bei Kosten der medizinischen Versorgung ausnahmsweise, solange es an einer ausreichenden Beratung des Grundsicherungsträgers über die Möglichkeit des Wechsels in den Basistarif der privaten Krankenversicherung gefehlt hat und der Wechsel deshalb zunächst unterblieben ist, soweit die Kosten in der gesetzlichen Krankenversicherung in entsprechender Höhe angefallen wären.
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Grundsätzlich seien allerdings in einen Selbstbehalt fallende Kosten der medizinischen Versorgung nach dem mit der Einführung des Basistarifs in der gesetzlichen Krankenversicherung verfolgten Regelungskonzept ab dem Zeitpunkt nicht mehr im Sinn von § 21 Abs. 6 SGB II unabweisbar, ab dem einem privat krankenversicherten Leistungsberechtigten der Wechsel in den Basistarif ohne Selbstbehalt zumutbar möglich ist. Insbesondere wurde bereits entschieden, dass nach dem SGB II Leistungsberechtigten der Wechsel in den Basistarif zumutbar ist (vgl BSG, Urteil vom 16.10.2012 – B 14 AS 11/12 R).
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dd) Allerdings könne von den Betroffenen beim erstmaligen Angewiesensein auf existenzsichernde Leistungen regelmäßig nicht verlangt werden, diese Rechtslage zutreffend einzuschätzen und deshalb schon aus eigener Initiative in einen Basistarif der privaten Krankenversicherung ohne Selbstbehalt zu wechseln (BSG, Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 8/14 R –, Rn 25 ff auch zum Folgenden). Diese Kenntnislücke zu füllen obliege dem zuständigen Grundsicherungsträger. Ihm erwachse auch insoweit aus dem Sozialrechtsverhältnis (§ 14 SGB I) zwischen den Leistungsberechtigten und den Leistungsträgern eine Verpflichtung zu Beratung und Hilfestellung, wie sie von der bundesobergerichtlichen Rechtsprechung bereits in verschiedener Hinsicht angenommen worden sei. Denn solange sich den Betroffenen nicht aufdränge, dass der Wechsel in den Basistarif vom Gesetzgeber trotz unter Umständen höherer Beiträge im Hinblick auf die damit verbundene Entlastung des Verwaltungsaufwands erwünscht ist und auch die höheren Beiträge voll übernommen werden, sind sie auf eine hinreichende Belehrung der Träger angewiesen, die sie in die Lage versetzt, Mehrkosten der medizinischen Versorgung zu vermeiden.
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Solange es an einer solchen Beratung fehle und ein Wechsel in den Basistarif daher noch unterblieben ist, bildeten die wegen eines fortbestehenden Selbstbehalts in der privaten Krankenversicherung ungedeckten Kosten der medizinischen Versorgung einen besonderen Bedarf im Sinn des § 21 Abs. 6 SGB II. Prägend sei, dass eine andere, weitergehende Bedarfslage vorliege als bei typischen Empfängern von Grundsicherungsleistungen. Ein solcher Mehrbedarf falle an bei der Belastung durch Kosten der Krankenversorgung, die in der gesetzlichen Krankenversicherung oder nach einem Wechsel in den Basistarif der privaten Krankenversicherung vergleichbar nicht bestünden (BSG, Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 8/14 R –, Rn. 29).
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ee) Diese Überlegungen sind auf die Kosten der Zahnbehandlung, die der Zahnarzt der Klägerin mit Schreiben vom 24.7.2020 und vom 31.7.2020 in Rechnung stellte und deren Erstattung die Krankenversicherung allein deshalb ablehnte, weil der von der Klägerin vereinbarte Tarif die Kosten für Zahnersatz lediglich im Umfang von 50% vorsieht, anzuwenden.
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(1.) Ausweislich des von der Klägerin mit dem privaten Versicherungsunternehmen vereinbarten Tarif KVG3 werden nach Abzug des jeweils vereinbarten – hier nicht zum Tragen kommenden – Selbstbehalts Leistungen für Zahnbehandlung iHv 100% erstattet (vgl Bl 75 der Akte des Sozialgerichts München). Erstattungsfähig sind Materialien, soweit sie im Preis- und Leistungsverzeichnis (vgl Bl 74 der Akte des Sozialgerichts München) der Versicherung aufgeführt sind und im Rahmen der dort genannten Höchstbeträge abgerechnet werden. Kosten für Zahnersatz werden zu 50% erstattet. Erstattungsfähig im Rahmen dieser medizinisch notwendigen Heilbehandlung sind weiterhin zahntechnische Laborarbeiten und Materialien, soweit sie im Preis- und Leistungsverzeichnis des Versicherers aufgeführt sind und im Rahmen der dort genannten Höchstbeträge berechnet werden. Für Zahnersatz und Kieferorthopädie gilt insgesamt ein Erstattungshöchstbetrag iHv 2.500 Euro pro Jahr.
31
(2.) Auf dieser Grundlage begründen die der Klägerin mit Schreiben vom 24.7.2020 in Rechnung gestellten Behandlungskosten für Zahnersatz iHv 140,95 Euro einen unabweisbaren Bedarf iS des § 21 Abs. 6 SGB II. Die Leistungsabrechnung der Krankenkasse vom 24.8.2020 weist für Zahnersatz bei einem Rechnungsbetrag iHv 281,93 Euro einen Erstattungsbetrag iHv 140,98 Euro aus, was – unter Berücksichtigung von Rundungsungenauigkeiten – der Hälfte des Rechnungsbetrages entspricht. Die Begrenzung der Erstattung beruht allein auf der entsprechenden tariflichen Vereinbarung, wonach Kosten für Zahnersatz zu 50% erstattet werden, da anderweitige Hinweise nicht bestehen.
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Entsprechendes gilt hinsichtlich der mit Schreiben vom 31.7.2020 in Rechnung gestellten Behandlungskosten für Zahnersatz iHv 2.981,66 Euro, soweit sie ausweislich der Leistungsabrechnung der Krankenkasse vom 24.8.2020 der Klägerin iHv 1.389,22 Euro erstattet wurden.
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Nachdem der mit der Krankenkasse vereinbarte Tarif lediglich die Erstattung von medizinisch notwendigen Heilbehandlungen vorsieht, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die entsprechenden Kosten auf medizinisch nicht notwendigen Heilbehandlungen beruhen.
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In dem von der Klägerin vereinbarten Tarif fehlt schließlich eine § 55 Abs. 2 SGB V entsprechende Härtefallregelung. Auch sonst ist nicht ersichtlich, dass der Klägerin ein anderweitiger Anspruch auf Kostenerstattung zustehen könnte.
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Die auf die Begrenzung der Kostenerstattung für Zahnersatz auf 50% vorgenommenen Kürzungen der Erstattung durch die private Krankenversicherung sind ausnahmsweise unabweisbar iS des § 21 Abs. 6 SGB II, da die Klägerin vom Beklagten nicht darauf hingewiesen worden ist, dass die aufgezeigte Deckungslücke durch einen Wechsel in den Basistarif hätte vermieden werden können. Dass eine entsprechende Beratung bis zum Entstehen der streitgegenständlichen Kosten erfolgt ist, ist weder den vorliegenden Akten zu entnehmen noch wird dies vom Beklagten anderweitig geltend gemacht. Dem vorliegenden Schriftverkehr zwischen den Beteiligten wie auch den Schreiben der Klägerin an das (Landes-) Sozialgericht ist schließlich nicht zu entnehmen, dass die Klägerin bis zum Entstehen der streitigen Zahnbehandlungskosten Kenntnis davon hatte, dass sie eine vollständige Kostenerstattung für Zahnersatz durch ihre Krankenkasse durch einen Wechsel in den Basistarif erreichen könnte und dass die durch einen solchen Wechsel gegebenenfalls entstehenden höheren Beiträge durch den Beklagten getragen würden, soweit die Klägerin im übrigen leistungsberechtigt ist.
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(3.) Die Behandlungskosten iHv 140,95 Euro aus der Rechnung vom 24.7.2020 begründen einen Mehrbedarf im Juli 2020 bzw die iHv 1.389,22 Euro aus der Rechnung vom 31.7.2020 im August 2020. Maßgeblich ist insoweit der Zeitpunkt der Rechnungsstellung durch den Zahnarzt (vgl BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R –, Rn 18). Der Zeitpunkt der Rechnungsstellung entspricht dabei nicht dem auf der Rechnung angegebenen Datum, sondern dem Datum des Zugangs der Rechnung beim Zahlungspflichten, zu dem die Vergütung schließlich fällig wird (vgl § 10 Abs. 1 S. 1 GOZ).
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Auf dieser Grundlage begründen die Kosten aus dem Schreiben vom 24.7.2020 einen Mehrbedarf im Juli 2020, da weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich ist, dass diese Rechnung der Klägerin nicht mehr im Juli 2020 zugegangen ist.
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Die Kosten aus dem Schreiben vom 31.7.2020 begründen einen Mehrbedarf im August 2020, da weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich ist, dass diese Rechnung der Klägerin noch im Juli 2020 zugegangen ist.
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c) Vom Gesamtbedarf ist nach entsprechender Bereinigung das der Klägerin im Juli und August 2020 zugeflossene Einkommen aus Erwerbstätigkeit iHv 279,92 Euro (449,90 Euro minus Grundfreibetrag iHv 100 Euro nach § 11b Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 SGB II in der Fassung vom 26.7.2016 minus Erwerbstätigenfreibetrag iHv 20% aus 349,90 Euro bzw 69,98 Euro nach § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 6, Abs. 3 S. 1, S. 2 Nr. 1 SGB II) abzusetzen (§ 19 Abs. 3 S. 1 SGB II). Für eine Absetzung des Beitrags zur Kranken- und Pflegeversicherung nach § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Buchst a) SGB II besteht hingegen kein Raum, da dieser vom Beklagten nach § 26 SGB II bezuschusst worden ist (vgl hierzu Aufstellung Bl 132 f der Akte zum Berufungsverfahren sowie Schreiben des Versicherungsunternehmens vom 26.8.2021, Bl 1 181 ff der Beklagtenakte). Nicht berücksichtigt werden kann die Behauptung der Klägerin, die aufgrund des Einkommenszuflusses im Juli und August 2020 erfolgte Überzahlung ohne entsprechende Regelung durch den Beklagten mit den Überweisungen iHv 272 Euro in den Folgemonaten bereits erstattet und den Beklagten hierüber schriftlich informiert zu haben. Dies ist an Hand der vorliegenden Akten nicht nachzuvollziehen. Hierzu hat der Beklagte schließlich mit Schreiben vom 28.9.2023 mitgeteilt, die entsprechenden Zahlungen der Klägerin anderweitig, nämlich im Wesentlichen auf die Rückzahlung des der Klägerin Anfang 2020 gewährten Mietkautionsdarlehens, verbucht zu haben.
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d) Auf dieser Grundlage errechnet sich ein Anspruch der Klägerin auf höhere Leistungen nach dem SGB II für den Monat Juli 2020 nicht. Nach Absetzung des Einkommens iHv 279,92 Euro vom Gesamtbedarf iHv 1.579,58 Euro errechnet sich ein Anspruch iHv 1.299,66 Euro, der durch die Auszahlung der bewilligten laufenden Leistungen an die Klägerin iHv 1.117 Euro an die Klägerin sowie iHv 321,63 Euro unmittelbar an das Versicherungsunternehmen (vgl § 26 Abs. 5 S. 1 SGB II) erfüllt worden ist.
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Für den Monat August 2020 hingegen errechnet sich ein weitergehender Anspruch der Klägerin iHv 1.109,30 Euro. Nach Absetzung des Einkommens iHv 279,92 Euro vom Gesamtbedarf iHv 2.827,85 Euro errechnet sich ein Anspruch iHv 2.547,93 Euro, der bislang lediglich iHv 1.117 Euro (Auszahlung an die Klägerin bzw ihren Vermieter) und iHv 321,63 Euro (Auszahlung an das private Krankenversicherungsunternehmen) erfüllt worden ist.
42
3. Soweit die Klägerin darüber hinaus die Übernahme von Zahnbehandlungskosten geltend macht, deren Übernahme ihre Krankenversicherung abgelehnt hatte, muss die Berufung ohne Erfolg bleiben. Diese Kosten sind nicht unabweisbar iS des § 21 Abs. 6 SGB II. Da auch sonst eine Grundlage, die eine Leistungspflicht des Beklagten begründen könnte, nicht ersichtlich ist, sind die angefochtenen Entscheidungen insoweit nicht zu beanstanden, so dass die Berufung der Klägerin unbegründet ist.
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Ausweislich der Leistungsabrechnungen der Krankenversicherung gehen diese Kürzungen auf vertragliche Einschränkungen des Leistungsumfangs bei Zahnbehandlung zurück (vgl zur Rechnung vom 24.7.2020/Abrechnung vom 24.8.2020: Anstelle der Ziffer 2060 wurden für die Aufbaufüllung die Ziffern 2180 und 2197 der Gebührenordnung für Zahnärzte anerkannt; die entsprechenden Kosten bleiben unberücksichtigt; medizinisch-zahntechnische Leistungen sind bis zum 1,8-fachen Gebührensatz erstattungsfähig; zur Rechnung vom 31.7.2020/Abrechnung vom 24.8.2020: Für Zahnbehandlung wurde entsprechend dem Versicherungsvertrag die Erstattung bis zum 2,3-fachen Satz der Gebührenordnung übernommen; zur Abrechnung vom 27.7.2020 (Rechnungen hierzu liegen nicht vor): Für Zahnersatz sieht der Versicherungsvertrag die Erstattung bis zum 2,3-fachen Satz der Gebührenordnung vor bzw die zahnärztlichen Leistungen wurden aus dem Versicherungsvertrag bis zum 2,3-fachen Satz der amtlichen Gebührenordnung erstattet).
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Diese Kosten sind nicht unabweisbar iS des § 21 Abs. 6 SGB II. Insoweit war die Klägerin insbesondere von ihrem Zahnarzt darüber informiert worden, dass – abhängig von ihrem persönlichen Versicherungsvertrag – in verschiedenen Teilbereichen der Gebührenordnung unter Umständen verschiedene Prozentsätze erstattet werden (vgl jeweils Seite 2 der verschiedenen Heil- und Kostenpläne vom 30.6.2020). Hier war es der Klägerin zuzumuten, mit ihrem Zahnarzt eine Abrechnung entsprechend der geltenden Gebührenordnung bzw unter Berücksichtigung der mit ihrer Versicherung vereinbarten Regelungen zu vereinbaren.
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4. Nicht unabweisbar iS des § 21 Abs. 6 SGB II waren schließlich die Kosten, deren Erstattung die Krankenversicherung unter dem 29.10.2020 bezugnehmend auf ihre Abrechnung vom 24.8.2020 abgelehnt hat. Die dort von der Klägerin geltend gemachten 761,32 Euro beruhen auf der Rechnung vom 24.7.2020, die von der Krankenversicherung iHv 594,24 Euro erstattet wurden. Hinsichtlich des Differenzbetrages wird auf die Ausführungen unter 2. (Übernahme durch den Beklagten iHv 140,95 Euro) bzw im Übrigen unter 3. verwiesen.
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5. Einen Leistungsanspruch gegen den Beklagten kann die Klägerin schließlich nicht aus den Heil- und Kostenplänen vom 30.6.2020 über insgesamt 14 916,05 herleiten, auch nicht soweit die Krankenversicherung unter dem 2.7.2020 für diese eine Leistungszusage lediglich im Umfang von 4.580,27 Euro gab. Ein Heil- und Kostenplan ergibt lediglich einen prognostischen Bedarf, der für eine Leistungsgewährung nicht ausreicht. Ein Bedarf, der durch Leistungen nach dem SGB II zu decken sein könnte, ergibt sich erst mit der Rechnungsstellung durch den Arzt (vgl BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R –, Rn 18). Eine solche wurde (über die Rechnungen vom 24.7. und vom 31.7.2020) im Nachgang zu den Heil- und Kostenplänen im streitigen Zeitraum und bis jetzt nicht gestellt, da die entsprechenden Behandlungen nicht durchgeführt worden sind.
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6. Ohne Erfolg bleibt die Berufung, soweit die Klägerin (hilfsweise) darlehensweise Leistungen hinsichtlich der Übernahme der von der Krankenversicherung nicht erstatteten Kosten aus den Rechnungen vom 24.7.2020 und vom 31.7.2020 in Höhe von 1.812,85 Euro begehrt. Zum Einen hat der Beklagte diese Kosten in Höhe von 1.109,30 Euro in Form eines Zuschusses zu übernehmen (vgl hierzu unter 2). Zum Anderen hat die Klägerin in ihrer Berufungsschrift angegeben, insoweit eine Ratenzahlungsvereinbarung mit der Zahnarztpraxis geschlossen zu haben. Der Klägerin war es damit möglich, die Kosten auf andere Weise zu decken. Auf dieser Grundlage scheidet die Gewährung eines Darlehens aus (vgl § 42a Abs. 1 S. 1 SGB II).
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7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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8. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.