Titel:
Iran, in Deutschland geborenes knapp 4 Jahre altes Mädchen, Sofortantrag, Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet, vorgebrachte Umstände für Zuerkennung internationalen Schutzes ohne Belang, keine eigenen Gründe, ernstliche Zweifel an Rechtmäßigkeit, keine eindeutige Aussichtlosigkeit des Asylantrages insgesamt, fehlende umfassende Würdigung des gesamten Vorbringens des Antragstellers unter Einbeziehung aller vorliegenden Erkenntnisse, keine umfassende Würdigung betreffend Familienflüchtlingsschutz als „Belang“, auch wenn internationaler Schutz des/der Stammberechtigten noch nicht unanfechtbar, keine hinreichende Berücksichtigung des Kindeswohls sowie der familiären Bindungen bei Rückkehrentscheidung, geänderte Erkenntnisse des Auswärtigen, Amtes nicht einbezogen, Stattgabe Prozesskostenhilfe
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
GG Art. 16a Abs. 4
AsylG § 26
AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 1
AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
AsylG § 36 Abs. 3
AsylG § 36 Abs. 4 S. 1
VwGO § 114
Schlagworte:
Iran, in Deutschland geborenes knapp 4 Jahre altes Mädchen, Sofortantrag, Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet, vorgebrachte Umstände für Zuerkennung internationalen Schutzes ohne Belang, keine eigenen Gründe, ernstliche Zweifel an Rechtmäßigkeit, keine eindeutige Aussichtlosigkeit des Asylantrages insgesamt, fehlende umfassende Würdigung des gesamten Vorbringens des Antragstellers unter Einbeziehung aller vorliegenden Erkenntnisse, keine umfassende Würdigung betreffend Familienflüchtlingsschutz als „Belang“, auch wenn internationaler Schutz des/der Stammberechtigten noch nicht unanfechtbar, keine hinreichende Berücksichtigung des Kindeswohls sowie der familiären Bindungen bei Rückkehrentscheidung, geänderte Erkenntnisse des Auswärtigen, Amtes nicht einbezogen, Stattgabe Prozesskostenhilfe
Fundstelle:
BeckRS 2024, 21542
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Verfahrens W 8 K 24.31335 gegen die unter Nr. 5 des Bescheides des Bundesamtes für ... vom 10. Juli 2024 verfügte Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III Der Antragstellerin wird für das vorliegende Antragsverfahren sowie für das Klageverfahren W 8 K 24.31335 Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt S …, S …, beigeordnet.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen den Sofortvollzug der Androhung der Abschiebung in den Iran infolge der Ablehnung ihres Asylantrages als offensichtlich unbegründet.
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Die Antragstellerin ist iranische Staatsangehörige. Sie wurde am … … 2020 in Deutschland geboren. Für sie wurde am 28. Dezember 2021 ein Asylantrag gestellt.
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Der Asylantrag der Eltern der Antragstellerin wurde mit Bescheides des Bundesamtes für ... vom 5. Juni 2024 abgelehnt. Die dagegen erhobene Klage der Eltern ist unter dem Az. W 8 K 24.31002 anhängig.
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Die Eltern der Antragstellerin haben für diese keine eigenen Gründe geltend gemacht und auch bis zum Erlass des streitgegenständlichen Bescheides nicht nachgereicht.
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Mit Bescheid vom 10. Juli 2024 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Nr. 2) und den Antrag auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran bzw. in einen anderen Staat wurde angeordnet. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Für die in Deutschland geborene Antragstellerin seien keine Gründe geltend gemacht worden oder aus dem Akteninhalt ersichtlich. Der Asylantrag der Eltern sei vollumfänglich abgelehnt worden. Allein aufgrund der Asylantragstellung sei nicht mit Verfolgung zu rechnen. Nach herrschender Rechtsprechung schätzten die iranischen Behörden die Bedeutung und den Stellenwert der Asylverfahren realitätsgerecht ein. Eine Asylantragstellung werde von ihnen als legitimes Mittel angesehen. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, weil für die Antragstellerin trotz konkreter Nachfrage bei der Anhörung der Eltern und der eingeräumten Möglichkeit der Stellungnahme keine eigenen Gründe vorgetragen worden seien, noch seien diese aus dem Akteninhalt ersichtlich. Im Regelfall entspreche es dem Wohl des Kindes und auch seinem Willen, dass es mit seinen Eltern (und Geschwistern) zusammenbleibe, so dass das Kindeswohl regelmäßig auch dann gewahrt sei, wenn der Familienverband im Herkunfts- oder einem anderen Staat wiederhergestellt werde. Es lägen keine überwiegend schutzwürdigen kindlichen Belange vor, die einer künftigen Abschiebung der Antragstellerin entgegenstehen könnten. Die Eltern der Antragstellerin befänden sich in einem Klageverfahren, welches seine aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Ausreisepflicht habe. Derzeit verfüge die Antragstellerin folglich über keine Kernfamilie in der Bundesrepublik Deutschland mit Aufenthaltstitel. Eine Abschiebung wäre jedoch nur im Familienverbund mit den sorgeberechtigten Eltern durchzuführen. Verlasse die Antragstellerin die Bundesrepublik Deutschland nicht freiwillig innerhalb der gesetzten Ausreisefrist, führe dies nicht zwangsläufig dazu, dass die Abschiebungsandrohung vollzogen werde. Die zuständige Ausländerbehörde habe die Möglichkeit, die Abschiebung vorübergehend auszusetzen und eine Duldung oder eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Dies sei zum Beispiel dann der Fall, wenn im Zeitpunkt der Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung Abschiebungshindernisse vorlägen, die in der Entscheidung des Bundesamtes noch nicht hätten berücksichtigt werden können. Gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG entscheide die Ausländerbehörde über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Ermöglichung einer gemeinsamen Ausreise zusammen mit Familienangehörigen.
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Am 5. August 2024 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 24.31335 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und gleichzeitig im vorliegenden Sofortverfahren beantragen,
a) die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tag gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für ... vom 10. Juli 2024 anzuordnen,
b) der Antragstellerin auch für das Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 VwGO Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt S … zu bewilligen.
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Zur Begründung des Sofortantrags ist im Wesentlichen ausgeführt: Es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung. Unter Berücksichtigung des Beschlusses des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 bzw. gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG sei zu berücksichtigen, dass die Eltern der Antragstellerin sowie ihre Schwester im Besitz von Aufenthaltsgestattungen seien und es derzeit nicht absehbar sei, bis wann voraussichtlich eine Entscheidung in deren Klageverfahren ergehen werde. Beim Erlass des Bescheides habe die Antragsgegnerin die Familienbelange der Antragstellerin nicht hinreichend berücksichtigt, da das Klageverfahren der Eltern anhängig sei und deren Asylanträge nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden seien. Eine tatsächliche Ausreise der Eltern sei im vorliegenden Fall in nächster Zeit nicht zu erwarten. Der Aufenthalt mit einer Aufenthaltsgestattung sei ausreichend. Die Vollstreckung der Ausreisepflicht der Antragstellerin würde derzeit deren Kindeswohl und die familiäre Bindung in nicht verhältnismäßiger Weise berücksichtigen. Zweifel bestünden auch im Hinblick auf einen möglichen Familienflüchtlingsschutz gemäß § 26 AsylG. Das Asylbegehren eines Minderjährigen sei schon begrifflich nicht offensichtlich unbegründet, solange die Zuerkennung eines Schutzstatus noch in Betracht komme. § 26 AsylG diene dem Schutz der Familieneinheit.
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Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 7. August 2024, den Antrag abzulehnen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten (einschließlich der Akten des Hauptsacheverfahrens W 8 K 24.31335 und des Verfahrens der Eltern W 8 K 24.31002) sowie die beigezogenen Behördenakten (einschließlich der Akten des Verfahrens der Eltern) Bezug genommen.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage W 8 K 24.31335 gegen die unter Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheides vom 10. Juli 2024 verfügte Abschiebungsandrohung hat Erfolg.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO in Verbindung mit § 30 Abs. 1 Nr. 1, § 36 Abs. 3 AsylG statthaft und auch sonst zulässig. Die Klage entfaltet nach Maßgabe von § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO keine aufschiebende Wirkung. Sofortantrag und Klage wurden innerhalb der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG gestellt bzw. erhoben.
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Der Antrag ist auch begründet, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides bestehen.
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Im Rahmen des Aussetzungsverfahrens nach § 36 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ordnet das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der gemäß § 36 Abs. 3, § 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung an, wenn das persönliche Interesse des Asylsuchenden, von der sofortigen Aufenthaltsbeendigung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Durchsetzung übersteigt. Dabei darf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 16a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes erfolgen. „Ernstliche Zweifel“ im Sinne der genannten Vorschrift liegen nur dann vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166, 189 ff. – juris Rn. 99).
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Bei der gerichtlichen Überprüfung der Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet ist für das Eilverfahren erschöpfend zu prüfen, ob die Antragsgegnerin aufgrund einer umfassenden Würdigung der ihr vorgetragenen oder sonst erkennbaren maßgeblichen Umstände unter Ausschöpfung aller ihr vorliegenden und zugänglichen Erkenntnismittel entschieden und in der Entscheidung klar zu erkennen gegeben hat, weshalb der Antrag offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, sowie, ob die Ablehnung als offensichtlich unbegründet auch weiterhin Bestand haben kann (vgl. BVerfG, B.v. 25.2.2019 – 2 BvR 1193/18 – juris Rn. 21). Des Weiteren darf die Verneinung relevanter inlandsbezogener Abschiebungshindernisse gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG keinen ernstlichen Zweifel unterliegen.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen fällt die vorzunehmende Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin aus. Denn unter Würdigung des vorliegenden Akteninhalts und der sonstigen Erkenntnisse bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung und der ihr zugrundeliegenden Entscheidung der Antragsgegnerin hinsichtlich der Ablehnung Asylantrages als offensichtlich unbegründet.
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Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet beruht auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Danach ist ein Offensichtlichkeitsanspruch gerechtfertigt, wenn die Antragstellerin im Asylverfahren nur asylfremde Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrages nicht von Belang sind, so dass sich die Ablehnung geradezu aufdrängt (vgl. VG Würzburg, B.v. 24.6.2024 – W 8 S 24.30987 – juris Rn. 22 mit Verweis auf VG Düsseldorf, B.v. 5.6.2024 – 28 L 1283/24.A – juris Rn. 12 ff., 16 f bze. VG Hannover, B.v. 13.6.2024 – 10 B 1953/24 – juris Rn. 25; vgl. auch Heusch in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 42. Ed. Stand 1.7.2024, § 30 AsylG Rn. 14 ff; jeweils m.w.N.).
17
Die Antragstellerin bzw. ihre Eltern haben für die Antragstellerin keine individuellen Gründe geltend gemacht, so dass sie unter dem Blickwinkel keine eigenen Gründe hat, die auch nur potentiell von Asylrelevanz wären, insbesondere wurden keine Tatsachen vorgebracht, dass die Antragstellerin persönlich Repressionen seitens des iranischen Staates zu befürchten hätte.
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Gleichwohl ist auch in der vorliegenden Fallkonstellation des vom Gesetzgeber vorgegebenen Offensichtlichkeitsausspruchs gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und eine damit verbundene Einschränkung des Rechtsschutzes – gerade auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten – nur gerechtfertigt, wenn, wie vom Bundesverfassungsgericht für das bisherige Recht gefordert, auch hier insgesamt eine eindeutige Aussichtslosigkeit des Asylantrages gegeben ist (vgl. VG Hamburg, B.v. 11.4.2024 – 10 AE 1473/24 – juris Rn. 15 mit Bezug auf BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166, 189 ff. – juris Rn. 89 f.).
19
Denn die Antragsgegnerin hat nicht berücksichtigt, dass noch ein Familienflüchtlingsschutz gemäß § 26 AsylG in Betracht kommt, so dass die Erlangung eines internationalen Schutzes seitens der Antragstellerin nicht unter jedem Blickwinkel offensichtlich ausgeschlossen ist und damit durchaus Umstände vorliegen, die für die Gewährung eines internationalen (Familen-)Schutzes von „Belang“ sind. Denn weitere Voraussetzung für einen Offensichtlichkeitsausspruch nach § 30 AsylG ist, dass auch ein Anspruch gemäß § 26 AsylG offensichtlich für die Antragstellerin nicht in Betracht kommen darf. Nur wenn Familienasyl und internationaler Schutz für Familienangehörige ebenfalls ohne Weiteres versagt werden müssten, ist der Asylantrag insgesamt aussichtslos. Leitet eine Minderjährige ihr Verfolgungsschicksal von demjenigen ihrer Eltern ab, ist eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet erst möglich, nachdem das Bundesamt für ... den Asylantrag der stammberechtigten Eltern ebenfalls überprüft und ebenfalls als offensichtlich unbegründet vollziehbar oder unanfechtbar abgelehnt hat bzw. wenn eine ablehnende Entscheidung der Stammberechtigten bestandskräftig ist. Entscheidet das Bundesamt über den Asylantrag in der qualifizierten Form des § 30 AsylG, bevor eine unanfechtbare negative Entscheidung über das Begehren der Stammberechtigten getroffen ist bzw. bevor eine vollziehbare qualifizierte Ablehnung als offensichtlich unbegründet auch gegenüber den Stammberechtigten gefallen ist, ist eine Entscheidung insoweit allein deshalb rechtswidrig (vgl. schon VG Würzburg, B.v. 20.2.2015 – W 6 S 15.30048 – juris Rn. 15 m.w.N).
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Soweit die Gegenauffassung damit argumentiert, dass die Berücksichtigung familiärer Belange voraussetze, dass die Stammberechtigten über einen gesicherten Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland verfügten und eine Aufenthaltsgestattung nicht ausreiche, bzw. darauf verweist, dass § 26 AsylG eine unanfechtbare Schutzgewährung des/der Stammberechtigten voraussetze und diese wie hier offensichtlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorliege (vgl. VG SH, U.v. 4.7.2024 – 10 A 161/24 – juris Rn. 90; VG Berlin, B.v. 24.6.2024 – 12 L 308/24 A – juris Rn. 17 und 21), überzeugt dies nicht.
21
Denn zum einen ist im Lichte der europarechtlichen und auch der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Sachverhalt umfassend zu erforschen; dazu gehört auch Schutzmöglichkeiten unter Berücksichtigung des § 26 AsylG in Betracht zu ziehen. Dabei schadet nicht, dass die Antragstellerin entsprechendes noch nicht beim Bundesamt vorgebracht hat. Denn die Prüfung möglichen Familienflüchtlingsschutzes gemäß § 26 AsylG drängt sich in der vorliegenden Konstellation auf. In dem Zusammenhang ist gerade auch zu berücksichtigen, dass und ob ein Asylantrag des/der potentiellen Stammberechtigten Erfolg haben kann. Zum anderen hätte es im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und 24 EU-Grundrechtecharta seitens der Antragsgegnerin tiefergreifenderer Erwägungen bedurft und nicht nur eines Verweises auf die Möglichkeiten der Ausländerbehörde in einem nachgelagerten Verfahrensstadium im Rahmen der Vollstreckung. Denn die Antragsgegnerin wie auch das Gericht gehen nach der Aktenlage davon aus, dass das Asylbegehren der möglichen stammberechtigten Eltern der Antragstellerin nicht offensichtlich unbegründet ist. Vielmehr sind die Erfolgsaussichten als offen zu betrachten, weil die Antragsgegnerin das Vorbringen der Antragstellerin als nicht glaubhaft gewertet hat und dieser Einwand nun einer sorgfältigen Prüfung seitens des Gerichts bedarf, das möglichweise zu einer anderen Einschätzung kommen kann. Es ist durchaus denkbar, dass die Eltern der Antragstellerin in ihrem Klageverfahren ihr Vorbringen vertiefen, die Einwände der Glaubhaftigkeit seitens des Bundesamt widerlegen oder auch neue Beweismittel vorlegen. Das Asylbegehren einer Minderjährigen ist zudem schon begrifflich nicht offensichtlich unbegründet, solange die Zuerkennung eines Schutzstatus noch in Betracht kommt, insbesondere, wenn wie hier die Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Eltern im Gerichtsverfahren durchaus anders bewertet werden könnte. Der Sinn und Zweck des Familienasyls sowie die Belange des Kindes sprechen für die vorliegend getroffene Auslegung. Denn andernfalls wäre die minderjährige Antragstellerin allein für sich ausreisepflichtig und könnte theoretisch abgeschoben werden, obwohl für ihre Eltern noch Monate bzw. bei Durchlaufen des Instanzenzugs Jahre ins Land gehen könnten, bevor diese ausreisepflichtig würden (vgl. zum Ganzen VG Dresden, B.v. 18.3.2024 – 2 L108/24 – juris Rn. 36.; VG Gelsenkirchen, B.v. 26.1.2024 – 6a L 90/24.A – juris Rn. 8 ff.; VG Minden, B.v. 30.10.2023 – 2 L 930/23.A – juris Rn. 71 ff.; VG Ansbach, B.v. 27.12.2022 – AN 2 S 22.30934 – juris Rn. 28 ff.).
22
Die Abschiebungsandrohung ist des Weiteren unabhängig von Vorstehendem hinsichtlich der prüfungsrelevanten inlandsbezogenen Abschiebungshindernisse gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG rechtlich bedenklich. Denn ernsthafte rechtliche Zweifel resultieren daraus, dass die Antragsgegnerin in der vorliegenden Konstellation überhaupt eine sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung erlassen hat, obwohl die Antragstellerin als Minderjährige offenkundig auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist. Bei einer Rückkehrentscheidung sind Kindeswohl und familiäre Bindungen in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen (vgl. Pietzsch in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 42. Ed. Stand 1.7.2024, § 34 AsylG Rn. 24a). Denn Art. 5 Buchstabe a) und b) der RL 2008/115/EG (Rückführungs-RL) verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass des gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahren zu schützen. Es genügt nicht, dass die Minderjährige ihre geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs dieser Entscheidung zu bewirken (vgl. VG Gelsenkirchen, B.v. 26.1.2024 – 6a L 90/24.A – juris Rn. 14 f. mit Bezug auf EuGH, B.v. 15.2.2023 – C 484/22 – juris Rn 23 ff.). Die wiederholten Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid seitens der Antragsgegnerin, dass eine Abschiebung nur im Familienverbund mit den sorgeberechtigten Eltern durchzuführen sei und selbst bei einer unterbleibenden freiwilligen Ausreise der Antragstellerin dies nicht zwangsläufig zu einem Vollzug der Abschiebungsandrohung führe, wird den verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Denn, wenn wie ausgeführt über den Aufenthalt der Antragstellerin in der Bundesrepublik die sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung schwebt, während im Klageverfahren ihrer Eltern die aufschiebende Wirkung womöglich noch über Jahre andauert, ist es rechtlichen nicht zumutbar, die Antragstellerin lediglich gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG auf die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollziehung durch die Ausländerbehörde in einem nachfolgenden Verfahrensstadium zu verweisen. Vielmehr sind die Belange der minderjährigen Antragstellerin in allen Stadien des Verfahrens und damit schon von der Antragsgegnerin selbst in deren Asylerfahren im Rahmen der Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen.
23
Des Weiteren ist anzumerken, dass mittlerweile ein neuer Lagebericht des Auswärtigen Amtes vorliegt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran vom 15.7.2024, Stand 3.4.2024), in dem das Auswärtige Amt auf S. 27 f. auf die geänderten Verhältnisse im Iran aufgrund der Niederschlagung der Proteste im Herbst 2022 verweist und ausführt, dass aufgrund der Zunahme des Interesses iranischer Dienste an regimekritischen Aktivitäten auch außerhalb des Iran die Gefahr für Regimekritikerinnen und -kritikern (einschließlich Asylbewerberinnen und -bewerbern bzw. anerkannten Flüchtlingen) bei einer Kontaktaufnahme mit zuständigen iranischen Auslandsvertretungen deutlich gestiegen sei. Familienangehörige von Asylbewerberinnen und -bewerbern und anerkannten Flüchtlingen würden im Iran erheblichem Druck ausgesetzt. Die Kontaktaufnahme mit einer iranischen Auslandsvertretung könne diese Gefahr bereits erhöhen. Allein das Bekanntwerden, dass eine Person Asyl beantragt habe, erhöhe die Gefahr weiter. Eine Beantragung von Pässen und Personenstandsdokumenten bei iranischen Auslandsvertretungen in Deutschland ist daher aus der Sicht des Auswärtigen Amtes nicht zumutbar. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Antragstellerin ohne Kontaktaufnahme mit den iranischen Behörden durch sich selbst bzw. durch ihre Eltern ihrer Ausreisepflicht in rechtlich zumutbarer Weise nachkommen soll. Auch diesen Aspekt hat die Antragsgegnerin nicht gewürdigt.
24
Vor diesem Hintergrund stellt sich die immer noch wiederholte und auch im streitgegenständlichen Bescheid auf Seite 3 erfolgte Aussage der Antragsgegnerin, dass nach herrschender Rechtsprechung die iranischen Behörden die Bedeutung und den Stellenwert der Asylverfahren realitätsgerecht einschätzten und die Asylantragstellung vollinhaltlich als legitimes Mittel angesehen werde, um sich zeitlich außerhalb des Irans aufhalten zu können, – wie schon wiederholt ausgeführt – als bedenklich dar. Die Antragsgegnerin führt insoweit keine aktuellen Erkenntnisse an, sondern verweist nur auf ältere Urteile bzw. Beschlüsse, die ihrerseits voneinander bzw. von noch älteren Entscheidungen abgeschrieben haben. Die den betreffenden Ausführungen der Antragsgegnerin zugrundeliegenden Erkenntnisse sind überholt, da sie nicht erst durch die vorstehend zitierte aktuelle Aussage des Auswärtigen Amtes, sondern auch sonst in der Sache überholt sind, weil sich betreffenden Passagen auf 17 Jahre alte Erkenntnisse beziehen, die in der Folgezeit explizit nicht mehr aufrechterhalten wurden (vgl. dazu ausführlich VG Würzburg, U.v. 19.2.2024 – W 8 K 23.30832 – juris Rn. 72 ff.; vgl. auch U.v. 25.3.2024 – W 8 K 23.30739 – juris Rn. 70).
25
Angesichts der vorliegenden ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides und insbesondere seines Offensichtlichkeitsausspruchs überwiegt das Interesse der Antragstellerin, jedenfalls bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache von einer Abschiebung nach Iran verschont zu bleiben.
26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
27
Schließlich war – angesichts der vorstehenden Erwägungen -dem Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten wegen bestehender hinreichender Erfolgsaussichten in der Hauptsache und wegen der bei der Antragstellerin gegebenen Bedürftigkeit stattzugeben (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 und § 121 Abs. 2 ZPO). Dies gilt sowohl für das vorliegende Antragsverfahren als auch für das Klageverfahren W 8 K 24.31335.