Titel:
Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung verletzt
Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 5b
BeschV § 32 Abs. 2 Nr. 5
BayVwVfG § 40
Leitsatz:
Steht der Behörde ein Ermessensspielraum zu, muss sie alle Erwägungen anstellen, die nach dem gesetzlichen Entscheidungsprogramm von ihr gefordert werden; übersieht sie einen wesentlichen Gesichtspunkt, liegt ein Erwägungsdefizit vor. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschäftigungserlaubnis, Rechtsschutzbedürfnis trotz zwischenzeitlicher Genehmigung, Rechtsschutzbedürfnis trotz Wohnsitzauflage, Keine Ermessensreduktion auf Null wegen Straffälligkeit des Klägers in der Nähe des begehrten Beschäftigungsorts, Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung., Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, Verpflichtungsklage, Rechtsschutzbedürfnis, Wohnsitzauflage
Fundstelle:
BeckRS 2024, 21520
Tenor
I. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Erlaubnis zur Ausübung der Erwerbstätigkeit bei Feinkost ..., ... unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Kläger und der Beklagte haben die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte zu tragen.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt eine Erlaubnis zur Beschäftigung vorrangig bei Feinkost … in …
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Der Kläger reiste am 4. Juli 2015 erstmals in das Bundesgebiet ein. Er stellte am 22. September 2015 einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Januar 2017 abgelehnt wurde. Gerichtliche Rechtsmittel gegen den Bescheid blieben ohne Erfolg. Seit dem 12. Februar 2020 ist der Kläger geduldet.
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Der Kläger ist strafrechtlich bislang wie folgt in Erscheinung getreten:
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1. Mit Urteil des Amtsgerichts Pfaffenhofen vom 17. Februar 2021 – rechtskräftig seit 25. Februar 2021 – wurde er wegen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Der Verurteilung lag im Wesentlichen zugrunde, dass die beiden Geschädigten ein gerichtliches Kontaktverbot nach dem Gewaltschutzgesetz gegen den Kläger erwirkt hatten. Entgegen die hier enthaltenen Anordnungen begab sich der Kläger auf eine Entfernung von ca. 80 Meter zu dem Wohnanwesen der Geschädigten in … und rief diese mehrfach auf dem Festnetz sowie auf dem Mobiltelefon an.
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2. Mit Urteil des Amtsgerichts Neuburg a. d. Donau vom 9. März 2022 – rechtskräftig seit 17. März 2022 – wurde der Kläger wegen Nachstellung in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 6 Monaten auf Bewährung verurteilt. Dem Urteil lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Kläger mit der Geschädigten eine Beziehung hatte, welche diese jedoch beendet hatte. Der Kläger wollte die Ablehnung der Geschädigten nicht akzeptieren und suchte mittels zahlreicher Chat- und Sprachnachrichten, mittels Anrufen sowie durch Aufsuchen ihre Nähe. Am 22. Juli 2021 drang er unberechtigt in die Wohnung der Geschädigten in … ein, hebelte ein Fenster auf und brach die Türe des Badezimmers auf, in dem sich die Geschädigte eingeschlossen hatte. Nachdem er aufgrund eines Anrufs der Geschädigten bei der Polizei zunächst geflohen war, kehrte er etwas später zurück betrat die Wohnräume durch die geöffnete Gartentür und drückte die Geschädigte auf das Sofa, während er ihr Hose und Unterhose herunterzog. Er öffnete seine eigene Hose und manipuliert an seinem Penis, um mit der Geschädigten gegen deren erkennbaren Willen den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Er ließ jedoch von der Geschädigten ab, weil er erkannte, dass es ihm nicht gelingen würde, die Beine der Geschädigten zu spreizen. Die Geschädigte litt psychisch unter den Folgen der Taten.
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3. Gegen den Kläger wurde mit Strafbefehl des Amtsgerichts Ingolstadt vom 20. April 2023 – rechtskräftig seit 6. Juni 2023 – wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen verhängt. Der Entscheidung lag zugrunde, dass der Kläger am 22. März 2023 wissentlich und willentlich einen Marihuana-Joint mit sich geführt hatte.
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Dem Kläger war die Beschäftigung erstmals zwischen 2021 und 2022 bei … …, … bzw. bei Feinkost …, … gestattet. Anlässlich der Verurteilung vom 9. März 2022 sprach sich das Polizeipräsidium ... am 7. April 2022 für eine Umverteilung des Klägers außerhalb des Landkreises Pf. aus. Es sei notwendig eine ausreichende Distanz zu dem ehemaligen Tatopfer herzustellen, denn der Kläger scheine Anweisungen schlecht zu verstehen habe sich uneinsichtig gezeigt. Mit Bescheid vom 28. Juni 2022 wurde der Kläger … zugewiesen.
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Am 28. Juni 2022 stellte der Kläger einen Antrag auf Erlaubnis der Beschäftigung bei … …, … Nach Anhörung wurde der Antrag mit Bescheid der Regierung von Oberbayern – Zentrale Ausländerbehörde – vom 8. September 2022 abgelehnt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Entscheidung im Ermessen der Behörde stehe. Der Erteilung stehe die gesetzgeberische Vorstellung, dass der Aufenthalt ausreisepflichtiger Ausländer beendet und diese nicht integriert werden sollen, entgegen. Außerdem sei der Kläger beachtlich straffällig geworden und er habe bisher keine identitätsklärenden Dokumente vorgelegt.
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Hiergegen ließ der Kläger durch seinen damaligen Bevollmächtigten am 7. Oktober 2022 Klage zum Verwaltungsgericht München erheben. Er beantragt,
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Der Bescheid des Beklagten vom 8. September 2022 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, die beantragte Beschäftigungserlaubnis zur Beschäftigung bei Feinkost … in … zu erteilen. Hilfsweise: Der Beklagte wird verpflichtet, eine Beschäftigungserlaubnis zu erteilen.
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Zur Begründung wurde unter Anderem ausgeführt, dass die Straffälligkeit keinesfalls eine Ablehnung rechtfertige und die Identität sei wohl auch geklärt.
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Der Beklage stellt keine eigenen Anträge, führt aber in einer Stellungnahme vom 14. März 2024 aus, dass der Kläger mittlerweile verpflichtet sei in … … …, …-Straße 14 zu wohnen. Es bestehe kein Sachentscheidungsinteresse mehr, da der begehrte Beschäftigungsort in … mittlerweile mit einer Fahrstrecke von 1 Stunde und 40 Minuten einfach vom derzeitigen Wohnort entfernt sei.
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Aus der am 28. Februar 2024 an das Gericht übersandten Behördenakte ergibt sich, dass während des laufenden Gerichtsverfahrens die Regierung von Oberbayern – Zentrale Ausländerbehörde – am 1. März 2023 erneut eine Beschäftigungserlaubnis zur Beschäftigung bei Feinkost …, … erteilte. Die Arbeit wurde mit einer monatlichen Bruttovergütung von 1.824,- EUR (zuzüglich Überstundenentlohnung) entlohnt. Eine schriftsätzliche Mitteilung hierüber an das Gericht erfolgte gleichwohl nicht. Nach dem Umzug des Klägers am 11. September 2023 nach …, stellte das Landratsamt B... dem Kläger am 5. Oktober 2023 eine Duldungsbescheinigung mit dem Zusatz „Unselbständige Beschäftigung nur nach Genehmigung der Ausländerbehörde erlaubt. Selbständige Tätigkeit nicht erlaubt. Zur Wohnsitznahme in … …, … Str. 5a verpflichtet.“ aus. Der Kläger stellte hierauf am 24. Oktober 2023 einen Antrag auf Beschäftigungserlaubnis. Am 26. Februar 2024 wurde diese Duldungsbescheinigung mit identischem Zusatz bis zum 4. Juni 2024 verlängert. Einen Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ enthielt die ausgestellte Duldungsbescheinigung nicht.
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Die Entscheidung der Rechtsstreitigkeit wurde mit Kammerbeschluss vom 8. Mai 2023 auf den Einzelrichter übertragen. In mündlichen Verhandlung war für die Beklagtenpartei – wie von ihr angekündigt – niemand anwesend. Ausweislich des Empfangsbekenntnisses vom 14. März 2024 wurde dem Beklagten das Ladungsschreiben zugestellt, in dem darauf hingewiesen wurde, dass auch bei Ausbleiben eines Beteiligten ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
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Für die weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet, soweit der Kläger begehrt, den Beklagten zu verpflichten, über den Antrag auf Erteilung der Beschäftigungserlaubnis erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
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1. Aufgrund des Kammerbeschlusses vom 8. Mai 2023 zur Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter ist der Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung berufen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Klagepartei im Termin der mündlichen Verhandlung über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Klagepartei ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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2. Die Klage ist zulässig. Insbesondere wurde die als Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage statthafte Klage (§ 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO) fristgemäß erhoben (§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Außerdem hat der Kläger das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Gemäß § 4a Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bedarf der Kläger für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit einer Beschäftigungserlaubnis durch die Ausländerbehörde, weil er nicht Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis ist, keine kontingentierte kurzzeitige Beschäftigung oder Saisonbeschäftigung ausüben will und keine berechtigende zwischenstaatliche Vereinbarung ersichtlich ist. Eine solche Erlaubnis hat der Kläger nicht.
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2.1. Dem Rechtsschutzbedürfnis steht nicht entgegen, dass dem Kläger die Beschäftigung bei … Feinkost nach Klageerhebung am 7. Oktober 2022 zwischenzeitlich von März bis September 2023 erlaubt war. Eine Erledigung des Rechtsstreits dergestalt, dass der Kläger kein Rechtsschutzbedürfnis für den begehrten Verpflichtungsausspruch mehr geltend machen kann, folgt hieraus nicht.
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Entscheidend für die Erledigung eines Rechtsstreits in Form einer Verpflichtungsklage ist, ob der geltend gemachte Anspruch erfüllt ist. Denn Streitgegenstand im Fall einer Verpflichtungsklage ist der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf den unterlassenen oder versagten Verwaltungsakt (BVerwG, U.v. 4.12.2014 – 4 C 33/13 – Rn. 18; vgl. auch Clausing/Kimmel in Schoch/Schneider, 44. EL März 2023, VwGO § 121 Rn. 63). Der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist maßgeblich für die Beantwortung der Frage, ob der geltend gemachte Anspruch erfüllt ist (vgl. hierzu in einem Erledigungsrechtsstreit BVerwG, U.v. 3.11.1998 – 9 C 51/97 – juris Rn. 10).
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Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung war dem Kläger die begehrte Beschäftigung ausweislich der derzeit ausgestellten Duldungsbescheinigung nicht erlaubt. Der geltend gemachte Anspruch war also im maßgeblichen Zeitpunkt nicht erfüllt. Inwiefern das Begehr des Klägers im Zeitraum nach der Klageerhebung und vor der mündlichen Verhandlung zwischenzeitlich erfüllt war, ist nicht relevant für die Frage der Erledigung.
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Die vorgenannten Erwägungen gelten unabhängig davon, ob eine gebundene Entscheidung oder eine Ermessensentscheidung im Streit steht. Zwar umfasst der Streitgegenstand bei einer Ermessensentscheidung auch den angegriffenen ablehnenden Bescheid (Eyermann, 16. Aufl. 2022, VwGO § 113 Rn. 40; Decker in BeckOK VwGO, 69. Ed. 1.4.2024, VwGO § 113 Rn. 69), der in einer Konstellation wie der vorliegenden wohl überholt bzw. erledigt ist, weil die den Bescheid erlassende Behörde im Nachgang ihre Entscheidung geändert hat. Selbst wenn aber Ermessenserwägungen überholt bzw. erledigt wären, könnte deswegen das Rechtsschutzbedürfnis für die Verpflichtungsklage nicht entfallen. Welche Ermessenserwägungen bei der gerichtlichen Überprüfung in den Blick zu nehmen sind, ist eine Frage der Begründetheit.
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2.2. Dem Rechtsschutzbedürfnis steht ebenfalls nicht entgegen, dass gegenüber dem Kläger eine Wohnsitzauflage erlassen wurde. Der Beklagte trägt insofern vor, dass der Kläger deshalb kein Sachbescheidungsinteresse habe, weil er zur Wohnsitznahme in … verpflichtet sei und der Beschäftigungsort in … damit 1 Stunde und 40 Minuten (einfache Fahrtstrecke) entfernt sei.
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Die Wohnsitzauflage kann der Erteilung der Beschäftigungserlaubnis jedoch nicht entgegengehalten werden. Die Wohnsitzauflage erlischt automatisch, ohne Beteiligung oder Zustimmung der Ausländerbehörde, sobald der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG; ausführlich hierzu VG München, U.v. 23.2.2023 – M 24 K 22.3600 – juris Rn. 47). Dies wäre mit Aufnahme der begehrten Beschäftigung der Fall, sodass der Kläger ab diesem Zeitpunkt nicht mehr verpflichtet wäre in … zu wohnen und er damit auch nicht die genannte Fahrtstrecke zurücklegen müsste. Hinsichtlich der Lebensunterhaltssicherung ist anzunehmen, dass der Kläger bei Feinkost …, … wieder unter den gleichen Bedingungen beschäftigt würde wie zuletzt im Jahr 2023. Das bedeutet, dass der Kläger voraussichtlich wieder 38 Stunden/Woche zum Mindestlohn (derzeit 12,41 EUR) arbeiten würde. Dies würde eine Bruttovergütung von 1.886,32 EUR (zuzüglich Überstundenvergütung) ergeben.
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3. Die Klage ist im tenorierten Umfang begründet (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung der Beschäftigungserlaubnis bei Feinkost … in …, sodass die Klage insoweit unbegründet ist (hierzu 3.1.). Der Kläger hat allerdings einen – derzeit unerfüllten – Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis bei Feinkost … in …, sodass die Klage insoweit begründet ist (hierzu 3.2.).
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3.1. Der Kläger hat keinen unmittelbaren Anspruch auf Erteilung der Beschäftigungserlaubnis bei Feinkost … in … Die Sache ist jedenfalls nicht spruchreif im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Unabhängig davon, ob die Rechtslage vor oder nach Erlass des § 60a Abs. 5b AufenthG maßgeblich ist, steht die Entscheidung über die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis bei Feinkost … in … im Ermessen der Behörde. Denn vor Erlass dieser Vorschrift hatte die Behörde gemäß § 4a Abs. 4 AufenthG bei der Entscheidung über die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis ohnehin einen Ermessensspielraum (vgl. BayVGH, B.v. 29.10.2020 – 10 CE 20.2240 – juris Rn. 8). Auch nach Erlass des § 60a Abs. 5b AufenthG steht der Behörde im konkreten Fall des Klägers Ermessen hinsichtlich des Antrags auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis in Wolnzach zu. Zwar „soll“ die Ausländerbehörde demnach eine Beschäftigungserlaubnis bei Vorliegen der Voraussetzungen erteilen, was bei Vorliegen aller Regelerteilungsvoraussetzungen zu einer Ermessensreduktion auf Null führen kann. Allerdings liegt hier jedenfalls ein atypischer Fall vor, sodass eine von dem „Soll“ abweichende Entscheidung möglich ist (vgl. hierzu BT-Drs. 20/10090, S. 17). Die Frage, ob im Rahmen von Soll-Vorschriften ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 1 C 31/14 – juris Rn. 21).
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Ein atypischer Fall, der eine vom „Soll“ abweichende Entscheidung ermöglicht, ist aufgrund des Zusammenhangs der vom Kläger begangenen Straftaten und der Örtlichkeit der angestrebten Arbeitsstätte in … anzunehmen. Die Straftraten, die mehrere Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz, Nachstellung und sexuelle Nötigung umfassen, hat der Kläger gegenüber einer in … lebenden Geschädigten begangen. Hierauf sprach sich das Polizeipräsidium ... für eine Umverteilung außerhalb des Landkreises Pf. aus. Es sei notwendig eine ausreichende Distanz zu dem ehemaligen Tatopfer herzustellen, denn der Kläger scheine Anweisungen schlecht zu verstehen habe sich uneinsichtig gezeigt. Daraus folgt, dass auch eine Beschäftigung des Klägers in … bedenklich ist, weil dies die Distanz zum ehemaligen Tatopfer wieder verringern würde. Die Behörde ist berechtigt, unter Berücksichtigung dieser Erwägungen im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung von der gesetzlichen Rechtsfolge („soll“) abzuweichen, sodass eine Ermessensreduktion auf Null ausscheidet.
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3.2. Der Beklagte ist zur erneuten Verbescheidung über den Antrag auf Beschäftigungserlaubnis bei Feinkost … in … unter Beachtung der Rechtssauffassung des Gerichts verpflichtet (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung der Beschäftigungserlaubnis bei Feinkost … in …
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Einen Antrag, den Beklagten zur erneuten Verbescheidung zu verpflichten, hat die Klagepartei zwar nicht ausdrücklich gestellt. Ein entsprechendes Begehr ist jedoch stets als Minus in einem Verpflichtungsantrag enthalten (vgl. BVerwG, U.v. 4.6.1996 – 4 C 15/95 – juris Rn. 31; BayVGH, U.v. 20.12.2022 – 5 B 22.1532 – juris Rn. 35).
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer entsprechenden Erlaubnis liegen vor. Insbesondere ist eine Zustimmung der Agentur für Arbeit nach § 32 Abs. 2 Nr. 5 BeschV entbehrlich, weil der Kläger sich seit 2015 gestattet beziehungsweise geduldet im Bundesgebiet aufhält. Auch ein Ausschlussgrund nach § 60 Abs. 6 AufenthG ist weder durch den Beklagten vorgetragen noch ersichtlich.
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Der sich in der Rechtsfolge ergebende Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Erteilung der Beschäftigungserlaubnis bei Feinkost Oliviera in Wolnzach war im maßgeblichen Zeitpunkt nicht erfüllt. Das der Behörde zukommende Ermessen (s.o.) hat diese nicht pflichtgemäß gemäß § 40 BayVwVfG ausgeübt. Unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs gemäß § 114 Satz 1 VwGO war die Ausübung des Ermessens fehlerhaft.
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Zur Überprüfung der ermessensleitenden Erwägungen sind nicht diejenigen im Bescheid der Zentralen Ausländerbehörde vom 8. September 2022 in den Blick zu nehmen. Diese können nicht als zum maßgeblichen Zeitpunkt ermessensleitend angesehen werden, da die Zentrale Ausländerbehörde nach Erlass des genannten Bescheides zwischenzeitlich eine Beschäftigungserlaubnis erteilt hatte. Das Landratsamt B... hat auf diese Gründe auch weder ausdrücklich noch sonst erkennbar Bezug genommen. Zur Nicht-Erteilung der Beschäftigungserlaubnis durch das Landratsamt B... wird von diesem mit Stellungnahme vom 14. März 2024 ausgeführt, dass der Kläger kein Sachentscheidungsinteresse mehr habe, da der Beschäftigungsort mittlerweile mit einer Fahrstrecke von 1 Stunde und 40 Minuten einfach vom Ort der geltenden Wohnsitzauflage entfernt sei. Dieser Grund ist – wie bereits oben ausgeführt – unzutreffend, weil die Wohnsitzauflage mit Beginn der Beschäftigung aufgrund der Sicherung des Lebensunterhalts automatisch und ohne Beteiligung oder Zustimmung der Ausländerbehörde entfällt. Deshalb hätte er nicht in die Ermessenserwägungen eingestellt werden dürfen, sodass insofern ein Ermessensfehler vorliegt.
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Darüber hinaus genügen die Ausführungen nicht dem Erfordernis, alle wesentlichen öffentlichen und privaten Belange in die Ermessenserwägungen einfließen zu lassen. Steht der Behörde ein Ermessensspielraum zu, muss sie alle Erwägungen anstellen, die nach dem gesetzlichen Entscheidungsprogramm von ihr gefordert werden. Übersieht sie einen wesentlichen Gesichtspunkt, so sind ihre Ermessenserwägungen unvollständig und rechtswidrig (Erwägungsdefizit; vgl. BVerwG, U.v. 18.5.1990 – 8 C 48/88 – juris Rn. 17; Schübel-Pfister in Eyermann, 16. Aufl. 2022, VwGO § 114 Rn. 24). Auch wenn die Behörde nicht verpflichtet ist, alle nur erdenklichen Gesichtspunkte vollständig zu erfassen, hat sie jedenfalls alle wesentlichen öffentlichen Belange, die im Zweck des ermächtigenden Gesetzes liegen, sowie die betroffenen privaten Belange zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U.v. 16.6.1970 – I C 47.69 – juris Rn. 13; U.v. 14.10.1965 – II C 3.63 – juris Rn. 31; Schübel-Pfister in Eyermann, 16. Aufl. 2022, VwGO § 114 Rn. 24). Die Ausführungen zu den Gründen der Ablehnung der Beschäftigungserlaubnis beschränken sich auf den oben genannten Grund bezüglich der Wohnsitzauflage, sodass nicht alle wesentlichen öffentlichen und privaten Belange in die Entscheidung eingeflossen sind. Etwaige weitere Gründe wurden weder im gerichtlichen Verfahren ergänzt (§ 114 Satz 2 VwGO), noch ergeben sich solche aus der vorgelegten Behördenakte.
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Bei einer neuen Entscheidung – nunmehr unter Zugrundelegung des § 60a Abs. 5b AufenthG – wird die Behörde insbesondere die gesetzliche Intendierung des Ermessens („soll“) sowie die dann aktuellen öffentlichen und privaten Belange zu berücksichtigen haben.
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4. Eine Entscheidung über den Hilfsantrag ist nicht veranlasst, da der Kläger mit seinem Begehr im Hauptantrag teilweise Erfolg hatte und damit die Bedingung des Hilfsantrags – nämlich die Erfolglosigkeit des Hauptantrags – nicht erfüllt ist. Unabhängig davon weist das Gericht darauf hin, dass ein Antrag bzw. eine Klage auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis ohne Bezeichnung eines konkreten Arbeitgebers und ohne bestehendes Beschäftigungsangebot mangels Bestimmtheit keinen Erfolg haben kann. Denn die näheren Umstände des Beschäftigungsverhältnisses können die Entscheidung über die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis maßgeblich beeinflussen.
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5. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger unterliegt, soweit die Klage gegen die unmittelbare Verpflichtung auf Erteilung der Beschäftigungserlaubnis abgewiesen wird. Der Beklagte unterliegt, soweit er zur erneuten Verbescheidung verpflichtet wird. Der Wert ist jeweils mit 1/2 zu gewichten, sodass eine entsprechende Kostenteilung sachgerecht ist.
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6. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).