Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Beschluss v. 14.06.2024 – JKII Qs 11/24 jug
Titel:

Beiordnung eines Verteidigers wegen Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge - Berücksichtigung weiterer anhängiger (Ermittlungs-) Verfahren

Normenketten:
StPO § 140 Abs. 2
JGG § 31 Abs. 2, § 68 Nr. 1
StGB § 55
Leitsätze:
1. Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Sinne des § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Ausreichend ist, wenn einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, drohen. (Rn. 10 – 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dasselbe gilt in einem Verfahren, in dem nicht mit der Verhängung von mindestens einem Jahr Jugendstrafe zu rechnen ist, wenn gegen den Angeklagten ein weiteres Ermittlungsverfahren anhängig ist, in dem ein Pflichtverteidiger gerade aufgrund der Höhe der zu erwartenden Jugendstrafe beigeordnet wurde. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beiordnung, Pflichtverteidiger, Straferwartung, Gesamtstrafe, Einheitsjugendstrafe, Ermittlungsverfahren
Vorinstanz:
AG Schwabach, Beschluss vom 22.05.2024 – 2 Ds 605 Js 52313/24 jug
Fundstelle:
BeckRS 2024, 21224

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten … gegen den Beschluss des Amtsgerichts Schwabach – Jugendrichter – vom 22. Mai 2024, Az. 2 Ds 605 Js 52313/24, wird dieser aufgehoben.
2. Dem Angeklagten … wird Rechtsanwalt P. als Pflichtverteidiger bestellt.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gründe

A.
1
Seit November 2023 ermittelte die Polizeiinspektion S. gegen Angeklagten unter anderem wegen Diebstahls und Unterschlagung von Fahrrädern.
2
Nach Abschluss der Ermittlungen im Verfahren mit dem Aktenzeichen 605 Js 52313/24 jug wurde die Akte an die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth übersandt, wo sie am 1. Februar 2024 einging. Am 12. März 2024 erhob die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth unter anderem gegen den Angeklagten Anklage zum Amtsgericht Schwabach – Jugendrichter – wegen Unterschlagung eines Fahrrads. Die Anklage wurde dem Angeklagten am 30. März 2024 ausweislich der Postzustellungsurkunde durch Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten an dessen Wohnanschrift zugestellt. Mit Schreiben vom 2. April 2024, per Fax an demselben Tag beim Amtsgericht Schwabach eingegangen, beantragte Rechtsanwalt P. für den Angeklagten Akteneinsicht und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Mit Schreiben vom 11. April 2024 erinnerte Rechtsanwalt P. an seinen Beiordnungsantrag.
3
Im Verfahren mit dem Aktenzeichen 605 Js 54506/24 jug erhob die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 25. März 2023 unter anderem gegen den Angeklagten Anklage wegen Diebstahls eines Fahrrads zum Amtsgericht Schwabach – Jugendrichter. Die Anklage wurde dem Angeklagten am 8. April 2024 ausweislich der Postzustellungsurkunde durch Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten an dessen Wohnanschrift zugestellt. Mit Schreiben vom 12. April 2024, beim Amtsgericht Schwabach am 15. April 2024 eingegangen, beantragte Rechtsanwalt P. für den Angeklagten Akteneinsicht und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Mit Schreiben vom 21. Mai 2024 erinnerte Rechtsanwalt P. an seinen Beiordnungsantrag.
4
Das Amtsgericht Schwabach – Jugendrichter – verband mit Beschluss vom 22. Mai 2024, Az. 2 Ds 605 Js 52313/24 jug, die Verfahren mit den Aktenzeichen 2 Ds 605 Js 52313/24 jug und 2 Ds 605 Js 54506/24 jug zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung und lehnte mit gesondertem Beschluss von demselben Tag, Az. 2 Ds 605 Js 52313/24 jug, unter anderem den Antrag des Verteidigers des Angeklagten … auf Beiordnung als Pflichtverteidiger ab. Zur Begründung führte das Gericht an, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 68 JGG nicht vorliege. Der Beschluss wurde am 24. Mai 2024 zugestellt. Ebenfalls mit Beschluss vom 22. Mai 2024, Az. 2 Ds 605 Js 52313/24 jug, ließ das Amtsgericht Schwabach – Jugendrichter – die Anklage der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 12. März 2024 zur Hauptverhandlung zu und eröffnete unter anderem gegen den Angeklagten das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Schwabach – Jugendrichter.
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Gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Schwabach – Jugendrichter – legte Rechtsanwalt P. mit Schreiben vom 24. Mai 2024 per Fax, beim Amtsgericht Schwabach eingegangen an demselben Tag, Beschwerde ein und bezog sich zur Begründung auf die Beiordnung in einem anderen gegen den Angeklagten geführten Verfahren, welches gesamtstrafenfähig im Hinblick auf das vorliegende Verfahren sei. Seinem Schreiben fügte er eine Verfügung des Amtsgerichts Nürnberg – Ermittlungsrichter – vom 22. Mai 2024, Gz. 59 Gs 5913/24 bei, aus welcher hervorgeht, dass Rechtsanwalt P. dem Angeklagten im Verfahren mit dem Az. 604 Js 65723/23 gemäß § 140 Abs. 2 StPO als Pflichtverteidiger beigeordnet wurde.
6
Unter dem 27. Mai 2024 beschloss das Amtsgericht Schwabach – Jugendrichter –, der Beschwerde unter Bezugnahme auf die im Beschluss vom 22. Mai 2024 dargestellten Erwägungen nicht abzuhelfen und übersandte die Akten zur Vorlage der Beschwerde an die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth.
7
Mit Verfügung vom 7. Juni 2024 legte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die Akten dem Landgericht Nürnberg-Fürth mit dem Antrag vor, die Beschwerde aus den zutreffenden Gründen des Beschlusserlasses zurückzuweisen.
B.
8
I. Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässig. Das als Beschwerde bezeichnete Schreiben von Rechtsanwalt P. vom 24. Mai 2024 ist angesichts der diesem zu entnehmenden Begründung dahingehend auszulegen, dass es sich lediglich gegen die Ablehnung der Beiordnung als Pflichtverteidiger richtet und nicht auch die anderen Entscheidungen des Amtsgerichts Schwabach – Jugendrichter – vom 22. Mai 2024 angreift.
9
II. Die sofortige Beschwerde ist auch in der Sache begründet.
10
Das Amtsgericht Schwabach hat die Bestellung von Rechtsanwalt P. zum notwendigen Verteidiger zu Unrecht abgelehnt, denn die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Sinne des § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO gebietet die Beiordnung gemäß § 141 Abs. 1 StPO.
11
Nach gefestigter Rechtsprechung ist dies bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe der Fall (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 29 m.w.N.). Drohen einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Rechtsfolge“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge es in diesem Fall lediglich vom Zufall ab – etwa der Frage, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht –, ob ein Angeklagter eine Pflichtverteidigung erhält (OLG Naumburg, Urteil vom 22.05.2013, Az. 2 Ss 65/13; vgl. auch KG, Beschluss vom 06.01.2017, Az. 4 Ws 212/16 m.w.N.; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 29 m.w.N.).
12
Zwar dürfte der Angeklagte angesichts der ihm zur Last gelegten Taten im gegenständlichen Verfahren in erster Instanz nicht mit der Verhängung einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr zu rechnen haben. Gleichwohl hat er nach Auffassung der Kammer einen Anspruch auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers, weil gegen ihn ein weiteres Ermittlungsverfahren anhängig ist, in dem Rechtsanwalt P. ihm ausweislich der Verfügung des Amtsgerichts Nürnberg – Ermittlungsrichter – vom 22. Mai 2024, Gz. 59 Gs 5913/24, gerade aufgrund der Höhe der zu erwartenden Jugendstrafe beigeordnet wurde. Das weitere gegen den Angeklagten geführte Ermittlungsverfahren betrifft letztlich voraussichtlich gesamtstrafenfähige Taten, sodass die Beiordnung geboten ist.
C.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 467 StPO analog.