Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 22.01.2024 – W 7 K 23.140
Titel:

Erfolgreiche Klage auf Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis

Normenketten:
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, § 104c
Leitsätze:
1. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und ihm wegen der Beziehungen zum anderen, aufenthaltsberechtigten Elternteil das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (Anschluss an BVerfG BeckRS 2023, 33162). (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zum Wohl des Kindes ist dabei im Grundsatz der Umgang mit beiden Elternteilen erforderlich, woraus zwar kein generelles Abschiebungsverbot folgt, wohl aber die Verpflichtung der Ausländerbehörde, bei aufenthaltsbeendenden Entscheidungen die vorfamiliäre Bindung angemessen zu berücksichtigen und insbesondere die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr des Vaters vor der Geburt einzustellen. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
3. Da maßgeblich die Sicht des betroffenen Kindes ist können Versäumnisse eines Elternteils, die zu einer Trennung der Familie in den ersten Lebensmonaten bis -jahren dieses Kindes hätten führen können, nichts an einem Duldungsanspruch ändern. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine Versagung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG verlangt nach aktivem, eigenverantwortlichem Handeln, das kausal für die fehlende Abschiebung geworden ist; über die Annahme eines atypischen Falles können außerdem passive Verhaltensweisen, die in ihrem Unrechtsgehalt einem aktiven Tun gleichkommen, unter im Übrigen unveränderten Anforderungen zu einer Versagung der Chancen-Aufenthaltserlaubnis führen. (Rn. 63) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Chancen-Aufenthaltserlaubnis, Duldung zur familienfreundlichen Ausgestaltung des Visumverfahrens, Atypischer Fall, Duldung, familienfreundliche Ausgestaltung des Visumverfahrens, Mitwirkungspflichtverletzung, atypischer Ausnahmefall
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2101

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 27. Januar 2023 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c AufenthG zu erteilen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis.
I.
2
Der Kläger ist ein am … … 1988 geborener nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste am 12. August 2016 ins Bundesgebiet ein und stellte einen Asylzweitantrag, nachdem er bereits zuvor in Italien erfolglos ein Asylverfahren durchlaufen hatte. Der Ankunftsnachweis wurde am 15. August 2016 ausgestellt.
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Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 3. Mai 2017 als unzulässig abgelehnt. Die gegen den Bescheid gerichtete Klage wurde durch das Verwaltungsgericht M. … mit Urteil vom … … 2020 (Az. . . ….), rechtskräftig seit 12. September 2020, abgewiesen.
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Nach Erlöschen seiner Aufenthaltsgestattung wurden für den Kläger Duldungsbescheinigungen ausgestellt und mehrfach verlängert. Grund für die Duldung waren zunächst fehlende Ausweispapiere.
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Am 2. Oktober 2017 erkannte der Kläger die Vaterschaft für seinen am … … 2018 geborenen deutschen Sohn vorgeburtlich an. In der Geburtsurkunde ist der Kläger als Vater eingetragen, allerdings mangels Urkundenüberprüfung mit dem Zusatz „Identität nicht nachgewiesen“. Am 4. Juni 2019 gaben der Kläger und seine deutsche Partnerin, die ein weiteres Kind hat, eine gemeinsame Sorgeerklärung ab. Nach entsprechender Gestattung zog der Kläger Ende 2019 in die gemeinsame Wohnung. Am … … 2022 wurde ein zweiter deutscher Sohn geboren, für den der Kläger ebenfalls sowohl vorgeburtlich am 10. November 2022 die Vaterschaft anerkannte als auch am selben Tag gemeinsam mit der Mutter eine Sorgeerklärung abgab. Auch hier ist der Kläger mangels Urkundenüberprüfung mit dem Zusatz „Identität nicht nachgewiesen“ in der Geburtsurkunde eingetragen. Der Kläger gab hierzu an, die 750 EUR für die Urkundenüberprüfung könne er nicht bezahlen.
6
Bis heute lebt der Kläger mit seiner deutschen Lebensgefährtin, den beiden gemeinsamen Söhnen, beide deutsche Staatsangehörige, sowie einem weiteren älteren Kind seiner Lebensgefährtin in häuslicher Gemeinschaft. Er übt mit der Mutter zusammen das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder aus.
7
Mit einem am 7. Juni 2019 eingegangenen Schreiben beantragte der Kläger beim Beklagten erstmals eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen und wegen nachhaltiger Integration. Nach entsprechender Aufforderung beantragte er einen nigerianischen Reisepass, der am 7. Januar 2020 ausgestellt wurde und bis zum 6. Januar 2025 gültig ist, und legte diesen vor. Am 15. Januar 2021 nahm der Kläger diese Anträge zurück. Zuvor war ihm erläutert worden, dass die Voraussetzungen derzeit nicht vorlägen, insbesondere ein Visum fehle und die Aufenthaltsdauer nicht für § 25b AufenthG genüge.
8
Nachdem der Kläger im Verwaltungsverfahren einen Reisepass vorgelegt hatte, wurde seine Duldung nicht mehr wegen fehlender Ausweispapiere, aber aufgrund der Geburt seines ersten deutschen Kindes weiterhin verlängert.
9
Dem Kläger waren seit Januar 2018 zudem Gestattungen zur Ausübung der Erwerbstätigkeit erteilt worden. Mit Schreiben vom 1. September 2021 teilte der Beklagte dem Kläger mit, eine neuerliche befristete Beschäftigungserlaubnis nur zu erteilen, wenn der Kläger im Gegenzug verbindlich zusichere, einen Teil seiner Einnahmen anzusparen, um so in Zukunft das Visumverfahren durchführen zu können. Sein damaliger Bevollmächtigter erklärte am 29. September 2021 das Einverständnis mit dieser Vorgehensweise. Nachdem der Kläger – der zu dieser Zeit anwaltlich nicht mehr vertreten war – auf Nachfrage keinen aktuellen Sachstand zum Visumverfahren mitteilte, äußerte der Beklagte mit Schreiben vom 1. März 2022, er gehe davon aus, dass kein ernsthaftes Interesse an der Nachholung des Visumverfahrens bestehe.
10
Am 23. März 2022 wurde die Duldung des Klägers – deren Geltungsdauer am 10. März 2022 geendet hatte – als erloschen gestempelt. Es wurde darauf hingewiesen, dass kein Duldungsgrund mehr vorliege, insbesondere Reisedokumente vorhanden seien.
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Mit Schreiben seiner damaligen Bevollmächtigten vom 22. März 2022 ließ der Kläger beim Beklagten erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, hilfsweise eine Duldung beantragen. Er ließ insbesondere ausführen, er habe sich am … … 2021 im Visa-Portal der Deutschen Auslandsvertretung L. … registriert und legte entsprechende Screenshots vor. Eine Vorabzustimmung der Ausländerbehörde wurde ebenso wenig eingeholt wie ein Urkundenprüfverfahren eingeleitet wurde.
12
Mit Bescheid vom 2. Juni 2022 lehnte der Beklagte die Verlängerung der Gestattung der Erwerbstätigkeit ab, da der Kläger nicht mehr im Besitz einer Duldung sei und der am 22. März 2022 gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mangels ernsthaften Interesses am Nachholen des Visumverfahrens keine offensichtliche Aussicht auf Erfolg habe.
13
Am 30. August 2022 beantragte die ZAB ... die Abschiebung des Klägers. Vom Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen wurde am 5. Oktober 2022 ein Flugtermin für den 18. Oktober 2022 vorgemerkt. Ein Versuch, den Kläger an seiner Wohnadresse in Gewahrsam zu nehmen, scheiterte.
14
Ein Antrag auf Aussetzung der Abschiebung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde am 3. November 2022 abgelehnt, weil der Beklagte angesichts der neuerlichen Schwangerschaft der Partnerin des Klägers am 21. Oktober 2022 zusicherte, die Abschiebung bis zur Geburt und für acht Wochen nach der Niederkunft auszusetzen (. . . ….) und die Abschiebung stornierte. Ein zugehöriges Hauptsacheverfahren auf Erteilung einer Duldung (. . . ….) wurde am 3. Februar 2023 nach übereinstimmender Erledigungserklärung eingestellt.
15
Am 2. November 2022 teilte die Deutsche Auslandsvertretung L. … dem Beklagten mit, dass der Kläger am 14. Oktober 2022 einen Termin gehabt habe, zu diesem aber nicht erschienen sei.
16
Am 26. Oktober 2022 nahm die Partnerin des Klägers eine weitere Registrierung vor und übermittelte einen entsprechenden Screenshot.
17
Am 8. November 2022 stellte der Beklagte dem Kläger erneute Verlängerungen seiner Duldung in Aussicht, sollte er das Visumverfahren von Deutschland aus betreiben und umgehend eine Vorabzustimmung bei der örtlichen Ausländerbehörde beantragen. Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 9. November 2022 erklärte sich der Kläger mit diesem Vorgehen einverstanden. Einen Antrag auf Vorabzustimmung stellte sein Bevollmächtigter mit E-Mail vom 21. November 2022.
18
Mit Schreiben vom 30. Dezember 2022 beantragte der Bevollmächtigte des Klägers eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG, wies aber darauf hin, dass weiterhin die Bereitschaft zur Nachholung des Visumverfahrens bestehe, sollten die Voraussetzungen des Chancen-Aufenthaltsrechts wider Erwarten nicht vorliegen.
19
Daraufhin wurde die Duldung des Klägers am 11. Januar 2023 für sechs Monate verlängert.
20
Mit Schreiben vom 12. Januar 2023 teilte der Beklagte mit, er müsse den Antrag auf eine Chancen-Aufenthaltserlaubnis als Rücknahme des – von einem Visum abhängigen – Antrags auf Familiennachzug werten, beide Anträge könnten nicht nebeneinander verfolgt werden.
21
Am 13. Juli 2023 wurde die Duldung des Klägers erneut als erloschen gestempelt. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 2. August 2023 (. . . ….) wurde der Beklagte daraufhin insbesondere wegen des sehr jungen Alters des zweiten Kindes des Klägers dazu verpflichtet, von der Abschiebung des Klägers vorläufig abzusehen. Am 3. November 2023 erteilte der Beklagte dem Kläger wieder eine Duldungsbescheinigung mit einer Gültigkeit von sechs Monaten zur familienfreundlichen Ausgestaltung des Visumverfahrens, woraufhin das diesbezügliche Hauptsacheverfahren (. . . ….) übereinstimmend für erledigt erklärt wurde.
22
Dem Kläger wurden während des Verfahrens wiederholt Beratungsangebote zur freiwilligen Ausreise und zur Möglichkeit der Visumnachholung gemacht. Ein erstes entsprechendes Gespräch mit der ZAB ... fand am 19. Oktober 2020 statt. Damals äußerte der Kläger, er wisse nicht, wie er dieses Verfahren finanzieren solle und wolle sich zunächst mit einem Rechtsanwalt besprechen. Danach wurde der Kläger mehrfach schriftlich auf die Notwendigkeit des Visumverfahrens hingewiesen und es wurden weitere Gespräche angeboten.
23
Mit Bescheid vom 27. Januar 2023, dem Kläger zugestellt am 31. Januar 2023, lehnte der Beklagte den Antrag auf eine Chancen-Aufenthaltserlaubnis ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen an, die Duldung des Klägers sei mit Ablauf des 10. März 2022 erloschen. Danach habe kein Duldungsgrund mehr bestanden. Frühestens ab dem 21. Oktober 2022, als der Beklagte gegenüber dem Verwaltungsgericht Würzburg eine Aussetzung der Abschiebung zugesagt hatte, sei der Kläger wieder als geduldet einzuordnen gewesen. Die Unterbrechung von sieben Monaten sei schon aufgrund ihrer Dauer schädlich für die Erteilung eines Aufenthaltsrechts nach § 104c AufenthG.
II.
24
Hiergegen ließ der Kläger mit Schriftsatz vom 1. Februar 2023 Klage erheben und beantragen,
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids der Zentralen Ausländerbehörde ... vom 27. Januar 2023 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c AufenthG zu erteilen.
25
Zugleich ließ er einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung stellen.
26
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, der Kläger erfülle die Voraussetzungen für die Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis. Am 20. Oktober 2016 habe er einen Asylantrag gestellt. Zwischen dem Ablauf seiner Duldungsbescheinigung am 10. März 2022 und der Zusicherung eines Verzichts auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen am 21. Oktober 2022 sei die Duldung nicht erloschen. Dies folge aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK, weil er auch zu dieser Zeit weiterhin mit seinem erstgeborenen Kind und dessen Mutter in familiärer Gemeinschaft zusammengelebt habe. Eine Abschiebung zu dieser Zeit wäre wegen der damit verbundenen Wiedereinreisesperre unzumutbar gewesen und hätte zur Duldung führen müssen. Die Zumutbarkeit des Visumverfahrens verhindere die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, nicht aber die Duldung. Die Duldung könne auch nicht durch Stempelung als „erloschen“ bereits Monate vor einer geplanten Abschiebung beseitigt werden. Die Abschiebung sei aber erst für den 18. Oktober 2022 geplant gewesen. In diesem Zusammenhang sei auch zu beachten, dass bei einer mehr als sechs Monate nicht erfolgten Abschiebung davon auszugehen sei, dass in der Rückschau eigentlich eine Duldung hätte erteilt werden müssen.
III.
27
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
28
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe sich am Stichtag des 31. Oktober 2022 nicht seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten. Ab 11. März 2022 habe kein Duldungsanspruch mehr bestanden. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass die Trennungszeiten bei Nachholung des Visumverfahrens zumutbar seien. Bei optimaler Vorbereitung im Inland betrüge die Trennungszeit vier Wochen. Würde der Kläger das Visumverfahren erst in Nigeria einleiten, sei eine Trennung von 2 Jahren und 3 Monaten zu erwarten. Dies gehe zulasten des Klägers, der nie ernsthaft die Nachholung des Visumverfahrens verfolgt habe.
29
Zudem habe man die geplante Abschiebung binnen sechs Monaten ab dem 11. März 2022 eingeleitet. Außerdem werde auf Nr. 1.4.1 der Anwendungshinweise des Innenministeriums hingewiesen, wonach eine Chancen-Aufenthaltserlaubnis trotz Erfüllung der Voraufenthaltszeiten in atypischen Fällen nicht erteilt werden solle, wenn die Voraufenthaltszeit nur durch künstliches Hinauszögern der Ausreise erreicht worden sei. Der Prozess bzgl. der Nachholung des Visumverfahrens dauere bereits seit 2,5 Jahren an und auch der Antrag nach § 104c AufenthG sei nun Teil der Verzögerung. Denn als er im November 2022 verbindlich erklärt habe, das Visumverfahren nachzuholen, sei die Gesetzesänderung zum Jahresende bereits absehbar gewesen. Der Kläger habe „auf Zeit gespielt“.
30
Der Kläger ließ darauf erwidern, ein atypischer Sachverhalt liege nicht vor. Er habe ernsthaft vorgehabt, das Visumverfahren nachzuholen. Mit E-Mail vom 21. November 2022 habe man die örtliche Ausländerbehörde um eine Vorabzustimmung gebeten. Dem Kläger könne nun nicht angelastet werden, dass er die Vergünstigung des § 104c AufenthG nutzen wolle. Im Antrag vom 30. Dezember 2022 habe er auch ausdrücklich darauf hinweisen lassen, dass er weiterhin zur Durchführung des Visumverfahrens bereit sei, wenn die Voraussetzungen für eine Chancen-Aufenthaltserlaubnis nicht vorliegen sollten.
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4. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung am 22. Januar 2024, wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, auch in den Verfahren . . . … . . . … . . . … … . . . …, sowie auf die beigezogenen Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

32
Die Klage ist zulässig und begründet. Der angegriffene Bescheid vom 27. Januar 2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Zudem ist die Sache spruchreif (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG (sog. Chancen-Aufenthaltsrecht).
33
Nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie § 5 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat, er sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben.
34
Die Erteilungsvoraussetzungen liegen vor. Der Kläger ist derzeit geduldet (1.) und erfüllt die erforderliche Voraufenthaltszeit zum Stichtag (2.). Die Mitwirkungspflichtverletzungen des Klägers erreichen zudem nicht die Intensität, die zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG bzw. zur Annahme eines atypischen Falls erforderlich wäre. Denn in der Gesamtbetrachtung waren nicht Pflichtverletzungen, sondern war vielmehr die Geburt der Kinder des Klägers kausal für die unterbliebene Abschiebung (3.). Eine handschriftlich unterzeichnete schriftliche Erklärung seines Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland hat der Kläger der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung übergeben.
35
1. Der Kläger ist seit dem 3. November 2023 wieder ein geduldeter Ausländer im Sinne von § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG. An diesem Tag wurde ihm eine erneute Duldung mit Gültigkeit bis zum 3. Mai 2024 erteilt, wie der Beklagte mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2023 im Verfahren W 7 K 23.1010 mitteilte.
36
2. Der erforderliche Voraufenthalt zum Stichtag liegt vor.
37
Der Kläger hat sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren – also spätestens seit dem 31. Oktober 2017 – ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten.
38
Ab dem 15. August 2016 war sein Aufenthalt in der Bundesrepublik gestattet, später wurden Duldungen, zunächst wegen fehlender Reisedokumente, sodann zur familienfreundlichen Ausgestaltung des Visumverfahrens erteilt. § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG differenziert dabei nicht danach, aus welchem Grund die Duldung erteilt wurde. Auch die Duldung zur familienfreundlichen Ausgestaltung des Visumverfahrens ist deshalb auf die fünfjährige Voraufenthaltszeit anzurechnen und kann im Einzelfall zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG und damit im Ergebnis zur Entbehrlichkeit des Visumverfahrens führen.
39
Bzgl. der Voraufenthaltszeiten einzig problematisch ist der Zeitraum vom 11. März 2022, dem auf das Erlöschen der befristeten Duldungsbescheinigung des Klägers folgenden Tag, und dem 21. Oktober 2022, dem Tag als dem Kläger wegen der bevorstehenden Geburt seines zweiten Sohnes eine neuerliche Duldungsbescheinigung erteilt wurde (siehe dazu das Verfahren W 7 E 22.1522).
40
Ebenso wie im Fall des § 25b AufenthG, dessen Anwendung den Status eines „geduldeten Ausländers“ voraussetzt, ist auch im Fall des § 104c AufenthG ein Ausländer aber sowohl geduldet, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt wurde, als auch dann, wenn er einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hat (BayVGH, B.v. 9.3.2023 – 19 CE 23.183 – juris Rn. 34).
41
Auch im vorgenannten Zeitraum war die Abschiebung des Klägers i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich, sodass trotz Fehlens von Duldungsbescheinigungen ein Anspruch auf Duldung bestand. Eine Unmöglichkeit aus rechtlichen Gründen liegt vor, wenn sich aus nationalen Gesetzen, Verfassungsrecht, Unionsrecht oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 19 CE 22.2514 – juris Rn. 14). Hier war die Abschiebung unter Berücksichtigung von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK auch vom 11. März 2022 bis zum 21. Oktober 2022 rechtlich unmöglich.
42
Zwar gewährt weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK einen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt. Allerdings verpflichten sie die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des betroffenen Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zu berücksichtigen. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und ihm wegen der Beziehungen zum anderen, aufenthaltsberechtigten Elternteil das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. insgesamt BVerfG, B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – BeckRS 2023, 33162).
43
Im Zeitraum vom 11. März 2022 – 21. Oktober 2022 war der ältere Sohn des Klägers vier Jahre alt. Zudem stand die Geburt des zweiten Sohnes des Klägers, die am … … 2022 per Kaiserschnitt erfolgte, unmittelbar bevor. Errechneter Geburtstermin war der … … 2022. Es muss daher – unter Berücksichtigung dessen, dass es sich beim errechneten Geburtstermin um einen Anhaltspunkt, nicht um eine tagesgenaue Angabe der Schwangerschaftszeiten handelt, – davon ausgegangen werden, dass die Partnerin des Klägers während des gesamten streitigen Zeitraums schwanger war.
44
Die Lebensgemeinschaft der Familie konnte auch lediglich in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden. Allein der Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger. Seine Partnerin und die beiden gemeinsamen Kinder sind deutsche Staatsbürger.
45
Es ist daher eine Prognose darüber anzustellen, welchen Trennungszeitraum der Betroffene realistischerweise zu erwarten hat, um in einem nächsten Schritt prüfen zu können, ob eine ggf. ermittelte vorübergehende Trennung aus Sicht des betroffenen Kindes zumutbar ist (BVerfG, B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – BeckRS 2023, 33162 Rn. 23).
46
Zunächst stand der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG lediglich das fehlende Visum i.S.d. § 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG inkl. Urkundenüberprüfung entgegen, sodass sich die Trennung bei einer Abschiebung des Klägers als vorübergehend – begrenzt auf die Dauer der Nachholung des Visumverfahrens – dargestellt hätte. Auch die Sperrwirkung des unanfechtbar abgelehnten Asylantrags nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wäre der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Ausreise des Klägers nicht mehr entgegengestanden.
47
Für die Prognose des mit dem Visumverfahren einhergehenden Trennungszeitraums sind – nachdem klärungsbedürftig ist, ob der Kläger zwischen dem 11. März 2022 und dem 21. Oktober 2022 zu dulden war – nicht die aktuellen Auskünfte des deutschen Generalkonsulats in L. maßgeblich, sondern die Lage, wie sie sich im Jahr 2022 darstellte.
48
Zu beachten ist weiterhin, dass der Kläger beim deutschen Generalkonsulat in L. bereits einen Termin gebucht hatte, der am 14. Oktober 2022 stattfinden sollte, sodass diesbezüglich die Wartezeit exakt angegeben werden kann.
49
Es ist davon auszugehen, dass bei einer Abschiebung des Klägers am 11. März 2022 als frühestem denkbaren Zeitpunkt ein „mindestens fünf Monate“ dauerndes Urkundenüberprüfungsverfahren in Nigeria durchzuführen gewesen wäre. Sodann hätte sich – bei Vorliegen einer zwischenzeitlich einzuholenden Vorabzustimmung der Ausländerbehörde – eine „mindestens 5 Wochen“ dauernde Antragsbearbeitung ab dem 14. Oktober 2022 angeschlossen (für den streitigen Zeitraum wird die Prognose des BayVGH, B.v. 24.2.2022 – 19 CE 22.12 – juris Rn. 41 zugrunde gelegt).
50
Im Idealfall wäre auf Grundlage dieser Auskünfte eine Trennung bis zum 18. November 2022 und damit von ca. acht Monaten zu prognostizieren gewesen, wobei einzustellen ist, dass das Generalkonsulat in L. bei seiner Auskunft explizit von Mindestzeiten ausgeht.
51
Eine potentielle weitere Verlängerung der Trennungszeit hätte im Fall einer Abschiebung in diesem Zeitraum das Einreise- und Aufenthaltsverbot von 36 Monaten aus dem bestandskräftigen Bescheid des Bundesamts vom 3. Mai 2017 mit sich gebracht. Auch dieses muss in die Prognoseentscheidung eingestellt werden (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 56). Insofern wäre ein Verkürzungsantrag bei der zuständigen Ausländerbehörde nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlich geworden. Abhängig von dessen Bearbeitungsdauer hätte sich die Trennungszeit erheblich verlängern können, insbesondere wenn deswegen der Termin am 14. Oktober 2022 storniert worden wäre und sich eine Wartezeit auf einen neuen Termin von „über 1 Jahr“ angeschlossen hätte (vgl. BT-Drs. 20/6782, S. 74).
52
Die prognostizierte Trennungsdauer bei einer Abschiebung am 11. März 2022 beläuft sich auf dieser Grundlage im Idealfall auf ca. acht Monate, hätte aber auch mehr als zwei Jahre betragen können, insbesondere wenn der Kläger die Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gerichtlich hätte durchsetzen müssen. Ohne Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots hätte sogar eine Trennungszeit von ca. drei Jahren und sechs Monaten eintreten können. Die Prognose der Höchstdauer des Trennungszeitraums ist jedenfalls mit größeren Unsicherheiten behaftet.
53
Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte der Kläger damit selbst bei einer Abschiebung am 11. März 2022 die Geburt seines zweiten Sohnes am ... 2022 versäumt.
54
Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht nur ein bereits geborenes Kind bei der Entscheidung über die Zumutbarkeit einer Abschiebung von Bedeutung ist, sondern bereits die Schwangerschaft Vorwirkungen entfaltet. Die Vaterschaft eines hier lebenden Ausländers für ein noch ungeborenes Kind stellt einen Umstand dar, der unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und der Pflicht des Staates, sich gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG schützend und fördernd vor das ungeborene Kind zu stellen, aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses entfalten kann (BayVGH, B.v. 12.8. 2022 – 10 ZB 22.1511 – juris Rn. 19). Zum Wohl des Kindes ist dabei im Grundsatz der Umgang mit beiden Elternteilen erforderlich (BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 22). Daraus folgt zwar kein generelles Abschiebungsverbot, allerdings die Verpflichtung der Ausländerbehörde, bei aufenthaltsbeendenden Entscheidungen die vorfamiliäre Bindung angemessen zu berücksichtigen und insbesondere die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr des Vaters vor der Geburt einzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 11.10.2017 – 19 CE 17.2007 – juris Rn. 9; B.v. 17.10.2023 – 19 CE 23.1578 – juris Rn. 12; SächsOVG, B.v. 15.9.2006 – 3 BS 189/06 – juris Rn. 2; SächsOVG, B.v. 13.1.2021 – 3 B 397/20 – juris Rn. 15).
55
Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn der Vater – wie hier der Kläger – mit der Mutter des ersten gemeinsamen Kindes, für das er sorgeberechtigt ist, weiterhin in häuslicher Gemeinschaft lebt und die elterliche Sorge auch tatsächlich ausübt, sodass kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass der Kläger auch zum neugeborenen Kind eine schützenswerte Beistandsgemeinschaft eingehen wird. Die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung war hier sicher zu erwarten (vgl. SächsOVG, B.v. 13.1.2021 – 3 B 397/20 – juris Rn. 18).
56
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass für die aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen regelmäßig zu fordern ist, dass der ausländische Vater seine Vaterschaft mit Zustimmung der Mutter anerkannt hat (BayVGH, B.v. 17.10.2023 -19 CE 23.1578 – juris Rn. 12 m.w.N.), diese Anerkennung hier aber erst am 10. November 2022 erfolgte und auch der Beklagte erst im Zusammenhang mit der gescheiterten Abschiebung am 18. Oktober 2022 und dem darauf folgenden Gerichtsverfahren von der neuerlichen Schwangerschaft erfuhr. Nachdem maßgeblich allerdings die Sicht des betroffenen Kindes ist (vgl. BVerfG B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – BeckRS 2023, 33162 Rn. 23), können solche Versäumnisse seines Vaters, die zu einer Trennung der Familie in den ersten Lebensmonaten bis -jahren dieses Kindes hätten führen können, nichts an dem Duldungsanspruch ändern. Die Maßgeblichkeit der verspätet bekannt gemachten Schwangerschaft folgt auch aus dem von § 104c Abs. 1 AufenthG materiell-rechtlich definierten entscheidungserheblichen Zeitpunkt, indem aus der Sicht des 31. Oktober 2022 als Stichtag zu bewerten ist, inwieweit in den fünf vorausgegangenen Jahren ein (materieller) Duldungsanspruch bestand. Zudem ist davon auszugehen, dass im Fall eines konkreten Abschiebungsversuchs die Schwangerschaft unmittelbar bekannt gemacht worden wäre, wie es auch im Zusammenhang mit der gescheiterten Abschiebung am 18. Oktober 2022 tatsächlich geschehen ist.
57
Schon im Hinblick auf die bevorstehende Geburt des zweiten Sohnes des Klägers war seine Abschiebung daher auch vom 11. März 2022 bis zum 21. Oktober 2022 gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich. Der Kläger hätte mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest den Geburtstermin versäumt und hätte beim ungünstigsten Verlauf des Verwaltungs- und ggf. Gerichtsverfahrens erst nach ca. drei Jahren und sechs Monaten zu seiner Partnerin und den beiden Kindern zurückkehren können, sodass der jüngste Sohn des Klägers am Beginn seines Lebens ohne Vater aufgewachsen wäre.
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Es handelt sich auch nicht um einen Fall, in dem ein möglicherweise versäumter Geburtstermin – etwa weil aus Gründen der Gefahrenabwehr eine endgültige Aufenthaltsbeendigung in Betracht käme – unter Berücksichtigung des Kindeswohls hinzunehmen wäre. Einziger Anlass einer Abschiebung wäre hier angesichts der im Übrigen gesicherten Aufenthaltsperspektive (s.o.) das versäumte Visumverfahren gewesen. Zwar handelt es sich dabei um ein wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung (BVerwG, U.v. 10.12.2014 – 1 C 15.14 – juris). Die Folgen einer vorübergehenden Trennung haben im Rahmen der Abwägungsentscheidung jedoch insbesondere ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48). Dies muss insbesondere dann gelten, wenn zu befürchten steht, dass ein neugeborenes Kind seinen Vater nicht am Beginn seines Lebens kennenlernen und eine Bindung zu ihm aufbauen kann. Zumindest am Anfang des Lebens des Kindes muss die Steuerung der Zuwanderung als öffentliches Interesse daher hinter dem privaten Interesse an der familiären Lebensgemeinschaft und dem Kindeswohl zurückstehen.
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Es kann daher dahinstehen, inwieweit die Trennung vom älteren, vierjährigen Sohn angesichts der Unsicherheiten, die das 36-monatige Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Prognose der Dauer einer Nachholung des Visumverfahrens mit sich bringt, unter Berücksichtigung von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK schon für sich genommen zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung führen musste.
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Dass in einem Fall wie dem vorliegenden die Stichtagsregel des § 104c AufenthG dazu führt, dass die verfassungsrechtlich gebotene zeitliche Verzögerung des Visumverfahrens letztlich seine vollständige Entbehrlichkeit herbeiführt, ist als bewusste gesetzgeberische Entscheidung zu respektieren. Ergebnisse, die vom „Normalfall“ abweichen, sind sämtlichen Stichtagsregelungen inhärent und vom Gesetzgeber beabsichtigt. Im Übrigen ist die Entbehrlichkeit des Visumverfahrens nicht die einzige Konsequenz der Berufung auf § 104c AufenthG. Der Kläger erhält auf diese Weise gerade nicht die von ihm ursprünglich begehrte Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung, sondern einen Titel, der ihm insbesondere für den Übergang zu einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG weitere Integrationsbemühungen abverlangen wird. Für dieses aliud gelten auch andere Voraussetzungen, zu denen die Nachholung des Visumverfahrens nicht zählt.
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3. Es liegen auch keine Mitwirkungspflichtverletzungen des Klägers vor, die eine Intensität erreichen, die zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG bzw. zur Annahme eines atypischen Falls erforderlich wäre.
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Nach § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG soll die Chancen-Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und dadurch seine Abschiebung verhindert. Die tatbestandlichen Falschangaben können sich dabei nicht nur auf die Identität, sondern auf sämtliche abschiebungsrelevanten Umstände beziehen (Röder in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand 15.10.2023, § 104c AufenthG Rn. 76). Nach der gesetzgeberischen Wertung begründen Mitwirkungspflichtverletzungen unterhalb der Schwelle des § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG in aller Regel auch keinen atypischen Fall, sodass beide Fragen hier im Zusammenhang behandelt werden können (vgl. VG Schwerin, U.v. 24.1.2023 – 1 A 1110/21 SN – juris Rn. 27; Röder in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand 15.10.2023, § 104c AufenthG Rn. 101).
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Die Gesetzesbegründung definiert eine hohe Schwelle für schädliche Mitwirkungspflichtverletzungen und verlangt nach aktivem, eigenverantwortlichen Handeln, das kausal für die fehlende Abschiebung geworden ist (BT-Drs.20/3717, S. 44 f.). Über die Annahme eines atypischen Falles können außerdem passive Verhaltensweisen, die in ihrem Unrechtsgehalt einem aktiven Tun gleichkommen, unter im Übrigen unveränderten Anforderungen zu einer Versagung der Chancen-Aufenthaltserlaubnis führen, ohne dem Telos des Gesetzes entgegenzuwirken (vgl. VG Schwerin, U.v. 24.1.2023 – 1 A 1110/21 SN – juris Rn. 27).
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Die zu § 104c AufenthG ergangenen Anwendungshinweise binden das Gericht in seiner Entscheidung zwar nicht. Sie sind bei der Auslegung der Bestimmung gleichwohl von Relevanz. Auch hier wird die hohe Schwelle für eine Annahme schädlicher Mitwirkungspflichtverletzungen betont. So sprechen die „Anwendungshinweise“ des Bundesministeriums des Innern und für Heimat vom 23. Dezember 2023 davon, dass es sich um wiederholte Pflichtverletzungen von langer Dauer und mit besondere Intensität handeln muss (S. 4). Die „Hinweise für die Ausländerbehörden“ des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration vom 27. Januar 2023 sprechen – im Zusammenhang mit dem atypischen Fall – davon, dass die „[m]ehrjährige Voraufenthaltszeit nur durch erhebliche Missachtung rechtsstaatlicher Abläufe und künstliches Hinauszögern der Ausreise erreicht [worden ist], insbesondere: schriftliche Erklärung über die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise nicht eingehalten“ (S. 19).
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Gemeinsam sind diesen Hinweisen die Betonung der Kriterien des wiederholten Verhaltens und der Kausalität für die unterbliebene Abschiebung, wie sie auch (kumulativ) von § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG definiert werden.
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Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger im Verwaltungsverfahren Mitwirkungspflichtverletzungen begangen hat. Die Kommunikation mit der Behörde erfolgte entgegen § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG immer wieder mit größeren Verzögerungen. Insbesondere fand am 19. Oktober 2020 ein erstes Beratungsgespräch zur freiwilligen Nachholung des Visumverfahrens statt, in dessen Nachgang der Kläger sich erst am 25. August 2021 erstmals im Terminvergabesystem des Generalkonsulats in L. … registrierte. Diese Registrierung wiederum kommunizierte er erst im März 2022 an den Beklagten. Am 29. September 2021 ließ der Kläger zwar anwaltlich seine Zustimmung zur Nachholung des Visumverfahrens mitteilen, dann unternahm er augenscheinlich aber nichts mehr, um diesen Termin vorzubereiten und die Dauer des Verfahrens vor Ort zu verkürzen. Insbesondere ersuchte er die Ausländerbehörde nicht um eine Vorabzustimmung und leitete keine Urkundenüberprüfung ein. Offenbar beabsichtigte der Kläger niemals ernsthaft, den Termin, den er am 14. Oktober 2022 schließlich versäumte, auch wahrzunehmen.
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Dessen ungeachtet fehlt es jedenfalls an der Kausalität dieses Verhaltens für die fehlende Abschiebung, wie sie zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis erforderlich wäre. Denn in der rückblickenden Gesamtbetrachtung war die Ursache für die unterbliebene Abschiebung des Klägers nicht dessen fehlende Mitwirkung am Verwaltungsverfahren, sondern die Geburt zweier Kinder zu Beginn und kurz nach dem Ende des für die Stichtagsregelung des § 104c Abs. 1 AufenthG maßgeblichen Zeitraums und die damit einhergehende rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung. Selbst wenn der Kläger den Termin in L. am 14. Oktober 2022 ordnungsgemäß vorbereitet hätte, wäre eine Mindestdauer von fünf Wochen zu prognostizieren gewesen (s.o.). Die Wahrnehmung des Termins konnte ihm ca. sechs Wochen vor der Geburt seines zweiten Sohnes daher – selbst bei ordnungsgemäßer Vorbereitung – unter Berücksichtigung von Art. 6 GG nicht zugemutet werden. Denn auf diese Weise hätte er es gleichermaßen dem Zufall überlassen, ob er bei der Geburt seines Sohnes vor Ort ist oder nicht. Unmittelbar nach dem versäumten Termin hat der Kläger sich erneut für ein Visum registriert und jetzt auch die Vorabzustimmung der Ausländerbehörde beantragt. Auch vor diesem Hintergrund überschreitet sein (pflichtwidriges) Verhalten nicht die hohe Schwelle, die unter § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG bzw. – bzgl. des Unterlassens – als atypischer Fall zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis führen kann.
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4. Der Spruchreife der Streitsache steht auch nicht § 79 Abs. 2 AufenthG entgegen. Denn zwar hat der Beklagte am 7. Dezember 2023 den Kläger wegen des Verdachts der illegalen Erwerbstätigkeit ohne Erlaubnis beim Hauptzollamt Sch. angezeigt. Über den Aufenthaltstitel kann aber ohne Rücksicht auf den Ausgang dieses Verfahrens entschieden werden. Denn die Sache wäre nur dann nicht entscheidungsreif, wenn eine schädliche Strafe i.S.d. § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu erwarten wäre. Demnach müsste eine Straftat von mehr als 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz nur von Ausländern begangen werden können, im Raum stehen. Dies ist als Konkretisierung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu verstehen (BT-Drs. 20/3717, S. 45), sodass dem Kläger auch nach dieser Bestimmung keine Taten unterhalb der Schwelle vorgehalten werden können. Es widerspräche Sinn und Zweck des § 104c AufenthG, wenn Bußgelder aus Ordnungswidrigkeitenverfahren, die in ihrem Unrechtsgehalt unterhalb der von § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG definierten Schwelle angesiedelt sind, die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verhindern könnten. Das Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis muss deshalb nicht ausgesetzt werden.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.