Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 01.08.2024 – 203 StObWs 240/24
Titel:

Strafvollzugsverfahren – Aufhebung eines angefochtenen Bescheids im laufenden Verfahren

Normenketten:
StPO § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 244 Abs. 2
StVollzG § 113
StVollzG § 115 Abs. 3
Leitsätze:
1. Kündigt die Justizvollzugsanstalt in einem laufenden Strafvollzugsverfahren an, den vom Strafgefangenen angefochtenen Bescheid aufzuheben, hat die Strafvollstreckungskammer nach § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 244 Abs. 2 StPO vor ihrer Entscheidung festzustellen, ob die Vollzugsanstalt den Akt zurückgenommen und ob sie in der Sache erneut entschieden hat. (Rn. 4)
2. Hat die JVA den angefochtenen Bescheid nicht aufgehoben, ist keine von Amts wegen zu prüfende Erledigung eingetreten. (Rn. 5)
3. Hat die JVA den angefochtenen Bescheid bereits aufgehoben, aber in der Sache noch nicht entschieden, hat die Strafvollstreckungskammer über den weiterhin anhängigen Verpflichtungsantrag nach Maßgabe von § 113 Abs. 1 StVollzG zu entscheiden. (Rn. 6)
4. Hat die JVA den angefochtenen Bescheid bereits aufgehoben und nunmehr erneut eine den Antragsteller belastende Entscheidung getroffen, kann der Antragsteller in dem bereits anhängigen Verfahren den neuen Bescheid zur Überprüfung stellen. (Rn. 7)
5. Hat die JVA den angefochtenen Bescheid aufgehoben und eine Entscheidung im Sinne des Antragstellers getroffen, ist gemäß § 115 Abs. 3 StVollzG eine Erledigung eingetreten. (Rn. 8)
Schlagworte:
Strafvollzug, Erledigung, Bescheid, Zurücknahme, Verpflichtungsantrag, Einsichtnahme, Daten, Notebook, Fortsetzungsfeststellungsantrag, Aufhebung
Vorinstanz:
LG Regensburg vom -- – SR StVK 46/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 20918

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 5. April 2024 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird als unbegründet zurückgewiesen.
3. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 100.- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller befindet sich im Strafvollzug in der Justizvollzugsanstalt (JVA) S. Mit Schreiben vom 1. Januar 2024, bei Gericht eingegangen am 4. Januar 2024, hat er beantragt, (1) zu erkennen, dass die Entscheidung der JVA vom 14. Dezember 2023, ihm die Einsichtnahme in seine digital gespeicherten Daten zu verweigern, rechtswidrig sei und (2) die JVA zu verpflichten, ihm die Möglichkeit der Einsichtnahme zu gewähren. Vor seiner Verlegung in die JVA S. hätte ihm die JVA L. zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens ein Notebook zur Verfügung gestellt. Die von ihm damit erstellten Daten wären dort auf einer CD-Rom gespeichert und an die JVA S. übermittelt worden. Seinen Antrag vom 15. Oktober 2023, ihm die Einsichtnahme in diese Daten zu ermöglichen, hätte die JVA S. am 14. Dezember 2023 mit einem Verweis auf den Anwaltszwang abgelehnt. Die Vollzugsbehörde hat in ihrer Stellungnahme vom 28. Februar 2024 mitgeteilt, dass die Entscheidung vom 14. Dezember 2023 aufgehoben und der Antrag neu verbeschieden werde. Mit Schreiben vom 16. März 2024 hat der Antragsteller seine Anträge vom 1. Januar 2024 aufrechterhalten und der Strafvollstreckungskammer mitgeteilt, dass die JVA seinen Antrag bislang nicht erneut verbeschieden hätte. „Sofern“ die JVA mitteile, die Entscheidung vom 14. Dezember 2023 würde aufgehoben, stelle er den Hauptsacheantrag um und beantrage zu erkennen, dass die Entscheidung der JVA vom 14. Dezember 2023 rechtswidrig gewesen sei.
2
Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 01. Januar 2024 mit Beschluss vom 5. April 2024 als unzulässig zurückgewiesen. Das Begehren stelle einen kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag dar. Nachdem die JVA zumindest angekündigt hätte, die Entscheidung vom 14. Dezember 2023 aufzuheben, bestehe für den Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag kein Rechtsschutzbedürfnis. Der im Schreiben vom 16. März 2024 gestellte Antrag festzustellen, dass die Ablehnung am 14. Dezember 2023 rechtswidrig gewesen sei, erweise sich ebenfalls als unzulässig, denn diese Entscheidung sei „durch die Aufhebung nicht mehr existent“. Gegen den ihm am 9. April 2024 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 22. April 2024 zur Niederschrift des Rechtspflegers Rechtsbeschwerde eingelegt und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Er beanstandet insbesondere, dass die Strafvollstreckungskammer die Aufhebung des Bescheides nicht geprüft und seinen Verpflichtungsantrag nicht beachtet hat. Auch seinen Fortsetzungsfeststellungsantrag habe sie nicht mit der Begründung, der Bescheid sei mittlerweile aufgehoben, ablehnen dürfen. Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt, die Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen, da die angefochtene Entscheidung keine Rechtsfehler erkennen ließe.
II.
3
Die zulässige Rechtsbeschwerde hat mit der Sachrüge Erfolg. Der angefochtene Beschluss kann keinen Bestand haben. Die Begründung der Strafvollstreckungskammer trägt die Ablehnung der Anträge des Antragstellers nicht.
4
1. Wie die Rechtsbeschwerde zutreffend ausführt, hat die Strafvollstreckungskammer unter Nichtbeachtung des Untersuchungsgrundsatzes nach § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG i.V.m. § 244 Abs. 2 StPO, Art. 208 BayStVollzG (vgl. Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 115 Rn. 2 m.w.N.; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. 2020, 12. Kapitel Rechtsbehelfe I § 115 Rn. 2) versäumt, festzustellen, ob die JVA S. den angefochtenen Bescheid vom 14. Dezember 2023 mittlerweile aufgehoben und ob sie in der Sache erneut entschieden hat. Ohne vorgeschaltete Klärung dieser den Streitgegenstand bestimmenden Fragen kann eine Entscheidung über die Anträge hier nicht erfolgen.
5
a. Sollte die JVA den angefochtenen Bescheid bislang nicht aufgehoben haben, wäre entgegen der Rechtsauffassung des Tatgerichts keine – stets von Amts wegen zu prüfende (st. Rspr., vgl. BayObLG, Beschluss vom 25. Januar 2021 – 204 StObWs 378/20-, juris Rn. 22; Arloth/Krä a.a.O. § 115 Rn. 9 und Rn. 1) – Erledigung eingetreten. Eine Maßnahme ist erledigt, wenn sie nicht mehr unmittelbar fortwirkt (Spaniol in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil IV § 115 StVollzG Rn. 69; KG Berlin, Beschluss vom 24. September 2020 – 5 Ws 164/20 Vollz –, juris Rn. 11). Eine bloße Absichtserklärung der Vollzugsbehörde ließe die Beschwer und damit das Rechtsschutzbedürfnis an einer gerichtlichen Klärung nicht entfallen. Die Strafvollstreckungskammer hätte in diesem Fall über den ursprünglich gestellten kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag zu entscheiden. Das in der Antragsschrift vom 1. Januar 2024 unter Ziffer 1 formulierte Begehren kann von der Strafvollstreckungskammer unter Berücksichtigung des weiteren Vortrags des Antragstellers (vgl. Seite 2 „Die Anfechtungsklage ist statthaft“), seines Rechtsschutzziels und mit Blick auf die Subsidiarität eines Feststellungsantrags (vgl. zur Auslegung und zur Subsidiarität Senat, Beschluss vom 27. November 2023 – 203 StObWs 456/23 –, juris Rn. 9 m.w.N.) als Anfechtungsantrag ausgelegt werden. Da der Antragsteller in seinem Schreiben vom 16. März 2024 seine Anträge vom 1. Januar 2024 ausdrücklich aufrechterhalten hat, schadet insoweit die unter einer Bedingung gestellte Antragsänderung in einen Feststellungsantrag nicht.
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b. Sollte die JVA den angefochtenen Bescheid bereits aufgehoben, aber in der Sache noch nicht entschieden haben, wäre entgegen der Rechtsauffassung der Strafvollstreckungskammer keine Erledigung des Verpflichtungsantrags eingetreten. In diesem Fall hätte die Strafvollstreckungskammer, wie die Rechtsbeschwerde ebenfalls zutreffend darlegt, über den weiterhin anhängigen Verpflichtungsantrag nach Maßgabe von § 113 Abs. 1 StVollzG zu entscheiden. Das Gericht könnte der JVA nach § 113 Abs. 2 StVollzG eine Frist setzen und das Verfahren bis zum Fristablauf aussetzen. Entscheidet die Behörde innerhalb der Frist, ist das Verfahren nach zwingender gesetzlicher Bestimmung (§ 113 Abs. 2 S. 3 StVollzG) auch ohne ausdrückliche Antragsänderung erledigt. Soweit der Antragsteller daneben die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung vom 14. Dezember 2023 beantragt hat, könnte ihm, eine rechtzeitige Antragstellung nach § 112 Abs. 1 StVollzG unterstellt, ein Feststellungsinteresse nicht mit der Begründung, dass der ursprünglich angefochtene Bescheid mittlerweile aufgehoben worden sei, versagt werden. Denn § 115 Abs. 3 StVollzG bestimmt die Rücknahme als gesetzlich normierten Fall der Erledigung, der den Fortsetzungsfeststellungantrag eröffnet. Bei der Prüfung des Feststellungsinteresses spielt auch eine Rolle, wenn die JVA, ohne die Rechtswidrigkeit einer zuvor ergriffenen Maßnahme anzuerkennen, die Erledigung des darüber geführten Rechtsstreits selbst herbeigeführt hat (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 20. März 2013 – 2 BvR 67/11 –, BVerfGK 20, 249 – 259, juris Rn. 19).
7
c. Sollte die JVA den angefochtenen Bescheid bereits aufgehoben und nunmehr erneut eine den Antragsteller belastende Entscheidung getroffen haben, also den angefochtenen Bescheid im laufenden Verfahren gegen einen neuen Bescheid ausgewechselt haben, wäre der Bescheid vom 14. Dezember 2023 nicht mehr tauglicher Gegenstand eines Anfechtungsantrags. In diesem Fall könnte der Antragsteller in dem bereits anhängigen Verfahren den neuen Bescheid zur Überprüfung stellen und sein Rechtsschutzziel weiter mit einem kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag verfolgen (vgl. OLG Nürnberg, Entscheidung vom 25. Januar 1989 – Ws 31/89 –, juris) oder den Rechtsstreit für erledigt erklären (vgl. Laubenthal a.a.O. § 115 Rn. 18).
8
d. Sollte die JVA den angefochtenen Bescheid aufgehoben und eine Entscheidung im Sinne des Antragstellers getroffen haben, wäre gemäß § 115 Abs. 3 StVollzG eine Erledigung eingetreten (zur Erledigung bei Anträgen auf begünstigende Maßnahmen vgl. Spaniol a.a.O. Rn. 73; OLG Celle, Beschluss vom 5. September 2023 – 1 Ws 188/23 (StrVollz) –, juris Rn. 7). Die Strafvollstreckungskammer hätte auf eine sachdienliche Anpassung der bislang gestellten Anträge hinzuwirken (vgl. Senat, Beschluss vom 22. August 2023 – 203 StObWs 298/23 –, juris Rn. 10; OLG Celle, Entscheidung vom 4. Mai 1988 – 1 Ws 124/88 (StrVollz) –, juris).
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2. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass die Strafvollstreckungskammer auch keine Feststellungen zu der Form der Bekanntgabe des Bescheids vom 14. Dezember 2023 getroffen hat, so dass der Senat die Einhaltung der Frist von § 112 Abs. 1 StVollzG nicht prüfen kann.
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3. Das Verfahren ist in der Sache nicht entscheidungsreif. Dies führt dazu, dass der Beschluss der Strafvollstreckungskammer aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen ist. Die weitergehende Rechtsbeschwerde – gerichtet auf Entscheidung nach dem Verpflichtungsantrag des Antragstellers – erweist sich daher als unbegründet.
III.
11
Die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 65, 60, 52 Abs. 1 GKG. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer dieser vorbehalten.