Titel:
Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar
Normenkette:
AufenthG § 25 Abs. 5 S. 1, § 36 Abs. 2 S. 1, § 60a Abs. 2 S. 1, Abs. 2c S. 3
Leitsätze:
1. Ist der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten, dass ihr Wunsch, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, erweist sich dieser Wunsch auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist ein Familienmitglied auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen und kann diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden und ist dem pflegebedürftigen beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands wegen seiner Pflegebedürftigkeit nicht zumutbar, ist die Nachholung des Visumverfahrens von Verfassungs wegen unzumutbar. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltsduldung, Außergewöhnliche Härte (bejaht), Hochgradige Sehschwäche, Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens (bejaht), Psychische Erkrankung (Depression, Demenz), Qualifiziertes ärztliches Attest, Verfahrensduldung, Nachholung des Visumverfahrens, qualifizierte ärztliche Bescheinigung, Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 12.04.2023 – W 7 E 23.413
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2083
Tenor
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 12. April 2023 wird in der Ziff.
I. abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung über deren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 bzw. § 36 Abs. 2 AufenthG im Bundesgebiet zu dulden.
II. Unter Abänderung von Ziff. III des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg tragen die Antragstellerin ¼ und der Antragsgegner ¾ der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250 € festgesetzt.
Gründe
1
Die Beschwerde der Antragstellerin, einer 1951 geborenen kasachischen Staatsangehörigen, richtet sich gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 12. April 2023 insoweit, als ihr Hauptantrag (den Antragsgegner zu verpflichten, von der Abschiebung der Antragstellerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzusehen) abgelehnt worden ist.
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Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt die Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses.
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1. Eine – lediglich ausnahmsweise mögliche (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 30) – Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG setzt voraus, dass die Aussetzung der Abschiebung geboten ist, weil zweifelsfrei ein (Rechts-)Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels besteht bzw. – wenn der Ausländerbehörde in Bezug auf die Titelerteilung Ermessen eröffnet ist – keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten (BayVGH, B.v. 17.2.2023 – 10 CE 23.300 – juris Rn. 8). Hierbei ist die verwaltungsgerichtliche Prüfung des geltend gemachten Anspruchs auf Erteilung einer Verfahrensduldung nicht auf die Gründe in etwaigen vorangegangenen Behördenentscheidungen beschränkt (BayVGH, B.v. 17.2.2023 a.a.O. Rn. 9).
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Die Verfahrensduldung soll in der vorliegenden Streitigkeit die Ansprüche auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Aufenthaltstitel nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte; siehe hierzu 1.1) bzw. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG (Unmöglichkeit der Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen; siehe hierzu 1.2) absichern. Sowohl die Ausländerbehörde als auch das Verwaltungsgericht haben die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmungen verneint oder zumindest bezweifelt.
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1.1 Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass der im Ausland lebende Familienangehörige kein eigenständiges Leben mehr führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Hilfe angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris 37 ff.).
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Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug wegen Pflegebedürftigkeit gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt demgemäß eine spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe voraus. Das ist nicht bei jedem Betreuungsbedarf der Fall, sondern kann nur dann in Betracht kommen, wenn die geleistete Nachbarschaftshilfe oder im Herkunftsland angebotener professioneller pflegerischer Beistand den Bedürfnissen des Nachzugswilligen qualitativ nicht gerecht werden können. Wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person soweit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, so spricht dies dagegen, sie auf Hilfsleistungen Dritter verweisen zu können. Denn das humanitäre Anliegen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG respektiert den in den unterschiedlichen Kulturen verschieden stark ausgeprägten Wunsch nach Pflege vorrangig durch enge Familienangehörige, zu denen typischerweise eine besondere Vertrauensbeziehung besteht. Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet ist, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, erweist sich auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig. Dabei ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls geboten, bei der sowohl der Autonomieverlust des nachzugswilligen Ausländers als auch das Gewicht der familiären Bindungen zu den in Deutschland lebenden Familienangehörigen und deren Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme der familiären Pflege zu berücksichtigen sind (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 38 ff.).
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Die Antragstellerin hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass in ihrem Fall die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfüllt sind (1.1.1), es in ihrem Fall aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (1.1.2) und keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind (1.1.3), die eine Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen könnten.
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1.1.1 Die Antragstellerin hat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren durch die Vorlage des Ambulanzbriefes des Universitätsklinikums W. vom 14. März 2023 dargelegt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegen ihrer Pflegebedürftigkeit (hochgradige Sehschwäche und die damit verbundene Unfähigkeit, das alltägliche Leben alleine zu bewältigen; Angewiesenheit auf die familiäre Geborgenheit) erfüllt sind (1.1.1.2). Soweit sie die ärztlichen Atteste einer Fachärztin für Neurologie und Psychotherapeutische Medizin vorgelegt hat, ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass diese zum Nachweis einer psychischen Erkrankung nicht geeignet sind (1.1.1.1).
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1.1.1.1 Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die ärztlichen Atteste einer Fachärztin für Neurologie und Psychotherapeutische Medizin vom 29. November 2022, 20. März und 26. Juni 2023, wonach bei der Antragstellerin Symptome einer (schweren) Depression sowie eine Demenz vorliegen, keinen ausreichenden Nachweis darstellen.
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Die Antragstellerin weist in ihrer Beschwerdeschrift zwar zutreffend darauf hin, dass für den „Nachweis“ des Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht auf die in § 60a Abs. 2c AufenthG normierten Voraussetzungen zurückzugreifen ist. § 60a Abs. 2c AufenthG gilt angesichts seines eindeutigen Wortlauts sowie der systematischen Stellung allein für Abschiebungen. Ebenso scheidet eine analoge Anwendung der Vorschrift aus. Hierfür fehlt es – wie bereits der Verweis in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auf § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG zeigt – an einer planwidrigen Regelungslücke (OVG NW, B.v. 10.11.2020 – 18 B 322/20 – juris Rn. 20).
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Gleichwohl ist das Verwaltungsgericht im Ergebnis richtig davon ausgegangen, dass der Nachweis einer psychischen Erkrankung nur anhand qualifizierter Belege gelingen kann. Scheidet die Anwendung des § 60a Abs. 2c AufenthG aus, ergeben sich die konkreten Anforderungen an den Nachweis gesundheitlicher Gründe aus dem allgemeinen Prozessrecht. Das Bundesverwaltungsgericht hat aus der in § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO normierten Pflicht des jeweiligen Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts – insbesondere mit Blick auf Umstände, die in dessen Sphäre fallen – mitzuwirken, gewisse Mindestanforderungen an die vorzulegenden Atteste abgeleitet, die zur Substantiierung eines Sachverständigenbeweisantrags, der das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen PTBS zum Gegenstand hat, erfüllt werden müssen (BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7). Diese Mindestanforderungen gelten auch mit Blick auf weitere psychische Erkrankungen (OVG NW, B.v. 10.11.2020 – 18 B 322/20 – juris Rn. 24). Damit ist die vorgenannte Rechtsprechung auch auf den vorliegenden Fall dergestalt zu übertragen, dass es zum Nachweis einer psychischen Erkrankung regelmäßig eines entsprechend qualifizierten fachärztlichen Attests bedarf.
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Diesen Anforderungen genügen die ärztlichen Atteste der Fachärztin für Neurologie und Psychotherapeutische Medizin nicht. Aus den Attesten ergibt sich entgegen der Meinung der Antragstellerin gerade nicht, auf welcher Grundlage die fachärztliche Untersuchung erfolgt ist. Es ist lediglich davon die Rede, dass sich die Antragstellerin mit ihrer Tochter vorgestellt habe, viel weine und ganz verzweifelt sei, weil die Augen so schlecht seien. Es ist von einer psychiatrischen Konsultation im Beisein der Tochter die Rede und die Stichwörter Antriebsmangel, Schlafstörungen, Ein- und Durchschlafstörungen, Anhedonie, Grübelzwang und Verzweiflung, mitunter suizidale Gedanken („Es wäre am besten, abends einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen“) werden erwähnt. Es bleibt unklar, ob die Angaben der Antragstellerin ungeprüft übernommen worden sind und wie die ausstellende Ärztin zu ihrer Diagnose gelangt ist, zumal eine Anamnese fehlt. Ein Nachweis einer psychischen Erkrankung ist damit nicht gegeben.
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1.1.1.2 Einen Anordnungsanspruch hat die Antragstellerin jedoch mit der Vorlage des Ambulanzbriefes des Universitätsklinikums W. vom 14. März 2023 dargelegt. Der Senat geht aufgrund dieser ärztlichen Stellungnahme davon aus, dass die Antragstellerin kein eigenständiges Leben mehr führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann.
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In dem Ambulanzbrief ist davon die Rede, dass die Antragstellerin hochgradig sehbehindert ist, was sich auf eine myope Makulopathie mit Beteiligung der Fovea zurückführen lasse. Aufgrund der bereits fortgeschrittenen Fibrosierung und Atrophie der Makula bestehe keine Therapiemöglichkeit oder Möglichkeit der Visusverbesserung. Die Antragstellerin sei aufgrund ihrer hochgradigen Sehbehinderung stark eingeschränkt, eine Bewältigung des alltäglichen Lebens sei ohne Hilfe durch andere Personen kaum möglich. Diese zwar nur allgemein gehaltene Aussage ist ausreichend, da sich die hochgradige Sehbehinderung, die auch im ärztlichen Attest der Fachärztin für Neurologie und Psychotherapeutische Anwendungen vom 20. März 2023 Berücksichtigung gefunden hat („Die Augen sind ja ganz schlecht. Die Patientin ist fast blind und weiß nicht, wie sie alleine zurechtkommen soll.“), in nahezu allen Alltagssituationen niederschlägt bzw. niederschlagen wird, sodass es hierzu keiner näheren Ausführungen bedurfte. Der Wunsch der Antragstellerin, vorrangig durch enge Familienangehörige – hier durch ihre dazu bereiten Töchter (beide deutsche Staatsangehörige) – gepflegt zu werden, ist zu respektieren. Das gewachsene familiäre Vertrauensverhältnis ist geeignet, den Verlust der Autonomie der 72-jährigen Antragstellerin infolge ihrer hochgradigen Sehschwäche in Würde kompensieren zu können. Das ist mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig anzusehen.
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Ohne dass es darauf rechtlich ankäme (s.o.) erfüllt der Ambulanzbrief entgegen der Meinung der Antragsgegnerin die Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung (§ 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG). Nach dieser Bestimmung soll die ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Die tatsächlichen Umstände und die Methode der Tatsachenerhebung liegen in der augenärztlichen Untersuchung der Antragstellerin mit der Angabe von Visus und Tensio. Die Diagnose und der lateinische Name ist mit „Myopia magna, Cataracta incipiens“ angegeben; der Schweregrad ergibt sich aus der Verwendung des Zusatzes „magna“. Als Folge der hochgradigen Sehbehinderung wird angegeben, die Antragstellerin sei dadurch stark eingeschränkt, eine Bewältigung des alltäglichen Lebens sei ohne Hilfe durch andere Personen kaum möglich.
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1.1.2 Die Antragstellerin hat dargelegt, dass für sie eine Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar ist. Grundsätzlich ist – und zwar auch in Fällen des Familiennachzugs und auch im Lichte des Art. 6 GG – die Durchführung eines Visumverfahrens zumutbar. Insbesondere kann nicht verlangt werden, dass – mangels Fiktionswirkung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug – zunächst eine „Verfahrensduldung“ erteilt wird, damit dann während der Laufzeit der Duldung unter Verzicht auf das Visumerfordernis der Antrag auf den Aufenthaltstitel geprüft und ggf. bewilligt wird, denn Zweck einer „Verfahrensduldung“ ist es weder, allgemein eine Fiktionswirkung zu ersetzen, noch, einen gleichsam „vorläufigen Aufenthaltstitel“ zu erteilen, vom Visumerfordernis zu befreien oder den Familiennachzug ergänzend zu §§ 27 ff. AufenthG zu regeln. Es ist nachzugswilligen Ausländern auch zuzumuten, sich vor der Ausreise nach Deutschland nach Visumerfordernissen zu erkundigen (vgl. zu Vorstehendem Maor in BeckOK Ausländerrecht, Stand: Oktober 2023, § 5 AufenthG Rn. 37 m.w.N. aus der Rechtsprechung).
17
Erfüllt jedoch die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied – wie hier – auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Darauf, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Fälle der Krankheit und Pflegebedürftigkeit eines Familienangehörigen, die diesen mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen sein lassen, sind insoweit als verfassungsrechtlich gebotene Anwendungsfälle von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu nennen (BayVGH, B.v. 24.4.2019 – 10 CS 18.2542 – juris Rn. 7 unter Bezugnahme auf BVerfG, B.v. 15.5.2011 – 2 BvR 1367/10 – juris Rn. 13 ff, 20 f.; Beiderbeck in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: Oktober 2023, § 5 AufenthG Rn. 17).
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Nach diesen Maßgaben ist die Ausreise der Antragstellerin zur Durchführung des Visumverfahrens unzumutbar bzw. ihre Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich, da die Antragstellerin aufgrund ihrer hochgradigen Sehbehinderung auf Lebenshilfe durch ihre Töchter angewiesen ist. Insoweit kann auf die Ausführungen unter 1.1.1 verwiesen werden.
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1.1.3 Es sind schließlich keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten. Im Rahmen des Ermessens sind die widerstreitenden Interessen zu gewichten und gegeneinander abzuwägen. Insoweit ist von einem indiziertem Ermessen auszugehen, weil diese Prüfung bereits im Rahmen der außergewöhnlichen Härte vorgenommen wurde (Zimmerer in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: Oktober 2023, § 36 AufenthG Rn. 26; Marx in GK-AufenthG, Stand: Dezember, § 36 Rn. 80). Aufgrund der außergewöhnlichen Härte habe einwanderungspolitische Belange kein entscheidendes Gewicht und rechtfertigen keine Ablehnung der begehrten Aufenthaltserlaubnis.
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1.2 Aus den vorstehenden Ausführungen wird auch ersichtlich, dass die Ausreise der Antragstellerin aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist (hochgradige Sehbehinderung und die Angewiesenheit auf persönlichen Beistand) und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, da ausweislich des Ambulanzbriefes des Universitätsklinikums W. die Möglichkeit der Visusverbesserung gerade nicht besteht.
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2. Der Antrag, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen die Antragstellerin bis zur Entscheidung über die vorliegende Beschwerde nicht durchgeführt werden dürfen (sog. „Schiebe-“ oder „Hängebeschluss“), ist durch die vorliegende Entscheidung gegenstandslos.
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3. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des erstinstanzlichen Verfahrens auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, hinsichtlich des Beschwerdeverfahrens auf § 154 Abs. 1 VwGO.
23
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 45 Abs. 1 Satz 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).