Inhalt

VGH München, Beschluss v. 06.02.2024 – 2 CE 24.32
Titel:

Erfolgreicher Eilantrag der Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten - einseitige Auflösung der Doppelhauseigenschaft

Normenketten:
VwGO § 123
BauNVO § 22
BayBO Art. 75
Leitsätze:
1. Die Doppelhaus-Festsetzung bzw. die Ausführung als Doppelhaus in der offenen Bauweise gem. § 22 Abs. 2 S. 1 BauNVO kann nachbarschützend sein mit der Folge, dass eine einseitige Aufhebung des Doppelhauses zu einer Verletzung drittschützender Normen führen kann. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die beiden „Haushälften“ eines Doppelhauses können auch zueinander versetzt oder gestaffelt an der Grenze errichtet werden, sie müssen jedoch zu einem wesentlichen Teil aneinandergebaut sein. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten wegen einseitiger Auflösung der Doppelhauseigenschaft, Ermessensreduzierung auf Null, Winkelhaus, Rücksichtnahmegebot
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 20.12.2023 – Au 4 E 23.1992
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2082

Tenor

I. Unter Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 20. Dezember 2023 wird der Antragsgegner verpflichtet, unverzüglich die Bauarbeiten zur Errichtung eines Einfamilienhauses mit Garage auf dem Grundstück der Beigeladenen Fl.Nr. …5 der Gemarkung B* … durch eine für sofort vollziehbar zu erklärende bauaufsichtliche Verfügung vorläufig einzustellen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf jeweils 3.750, – € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller begehren den Erlass einer bauaufsichtlichen Verfügung, mit der die Bauarbeiten auf dem Grundstück der beigeladenen Nachbarn vorläufig eingestellt werden.
2
Die Grundstücke der Antragsteller und der Beigeladenen waren mit an der Grundstücksgrenze teilweise aneinandergrenzenden Wohnhäusern bebaut. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der insoweit offene Bauweise mit der Maßgabe festsetzt, dass nur Einzel- und Doppelhäuser zulässig sind. Am 19. Juni 2023 legten die Beigeladenen ein Vorhaben zur Behandlung im Genehmigungsfreistellungsverfahren für den Neubau eines Einfamilienhauses mit Garage auf ihrem Grundstück vor. Danach soll ein nach allen Seiten freistehendes Einzelhaus mit zwei Vollgeschossen errichtet werden. Am 12. Juli 2023 teilte die Standortgemeinde den Beigeladenen mit, dass ein Genehmigungsverfahren nicht durchgeführt werde und mit dem Vorhaben begonnen werden dürfe. Anschließend wurde das frühere Wohnhaus der Beigeladenen abgebrochen und mit den Bauarbeiten für den Neubau begonnen.
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Am 16. November 2023 beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner, bauaufsichtlich einzuschreiten. Über den Antrag ist bislang noch nicht förmlich entschieden worden.
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Am 1. Dezember 2023 beantragten die Antragsteller beim Verwaltungsgericht Augsburg die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Mit Beschluss vom 20. Dezember 2023 lehnte das Verwaltungsgericht Augsburg den Antrag im Wesentlichen mit der Begründung ab, bei den früher aneinander gebauten Wohnhäusern habe es sich nicht um ein Doppelhaus gehandelt.
5
Mit der Beschwerde verfolgen die Antragsteller ihr Rechtsschutzziel weiter. Ihr Bevollmächtigter trägt vor, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts liege tatsächlich ein Doppelhaus vor, sodass die einseitige Aufkündigung der Doppelhauseigenschaft durch den Neubau eines freistehenden Gebäudes auf dem Grundstück der Beigeladenen rücksichtslos sei. Der Antragsgegner und die Beigeladenen verteidigen den angegriffenen Beschluss.
6
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
7
Die zulässige Beschwerde ist in Ansehung des Beschwerdevorbringens (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Eine einstweilige Anordnung kann auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder eine drohende Gefahr zu verhindern oder aus sonstigen Gründen geboten ist (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Eine derartige Anordnung setzt voraus, dass ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) besteht und sich der Antragsteller auf ein Anordnungsanspruch berufen kann. Das Vorliegen beider Voraussetzungen ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Um die Hauptsache nicht vorwegzunehmen, ist das Gericht in der Regel auf den Erlass von – wie hier – vorläufigen Regelungen beschränkt.
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1. Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ohne Erlass einer für sofort vollziehbar erklärten Baueinstellung droht die weitere Verwirklichung des Bauvorhabens auf dem Grundstück der Beigeladenen, das sich gegenüber den Antragstellern als rücksichtslos darstellt (vgl. unten 2.). Mit der Fortsetzung der Bauarbeiten schreitet die Rechtsverletzung der Antragsteller fort und verfestigt sich.
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2. Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Anordnung der Einstellung von Bauarbeiten gem. Art. 75 Abs. 1 BayBO setzt voraus, dass Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt werden. Ein Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften kann sich sowohl aus formellen wie auch aus materiellen Rechtsverstößen ergeben. Die Vorschrift eröffnet grundsätzlich einen Ermessensspielraum der Behörde. Ein Anspruch der Antragsteller als Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten setzt voraus, dass die verletzte Norm nachbarschützenden Charakter hat und der Rechtsverstoß so schwer wiegt, dass eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist. Beides ist hier der Fall.
10
a) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass die Doppelhaus-Festsetzung bzw. die Ausführung als Doppelhaus in der offenen Bauweise gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO nachbarschützend sein kann (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BeckRS 2000, 30098169) mit der Folge, dass eine einseitige Aufhebung des Doppelhauses zu einer Verletzung drittschützender Normen führen kann (vgl. BayVGH, B.v. 20.6.2023 – 2 ZB 22.231 – BeckRS 2023, 17204, Rn. 7). Nach dieser Rechtsprechung werden die benachbarten Grundeigentümer durch den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs eingebunden. Ihre Baufreiheit wird zugleich erweitert und beschränkt. Durch die Möglichkeit des Grenzanbaus wird die bauliche Nutzbarkeit der (häufig schmalen) Grundstücke erhöht (vgl. BayVGH, B.v. 20.6.2023 – 2 ZB 22.231 – BeckRS 2023, 17204, Rn. 7). Das wird durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an der gemeinsamen Grenze, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen, „erkauft“ (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 22). Diese enge Wechselbeziehung, die jeden Grundeigentümer zugleich begünstigt und belastet, begründet ein nachbarliches Austauschverhältnis und legt dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung dergestalt auf, dass dieses nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 21).
11
Ein Doppelhaus i.S.d. § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist dann anzunehmen, wenn zwei Gebäude zum einen derart zusammengebaut werden, dass sie einen Gesamtbaukörper bilden, der als Ganzes einen seitlichen Grenzabstand einhält, was hier der Fall ist, auch wenn der sich in Nord-Süd-Richtung erstreckende Hauptbaukörper mit einheitlicher Firstrichtung an der gemeinsamen Grundstücksgrenze um ca. 1,50 m versetzt ist und am jeweiligen nördlichen Ende der beiden Haushälften im rechten Winkel nach Westen hin jeweils ein weiterer kleinerer Baukörper angrenzt. Mit dem Erstgericht mag man zwar insoweit von einem sogenannten Winkelhaus sprechen, das als abweichende Bauweise im Sinne von § 22 Abs. 4 BauNVO festgesetzt werden kann. Eine solche Festsetzung erfolgte im hier zu entscheidenden Fall jedoch gerade nicht. Aus dem Umstand, dass sich am weiter nördlich angrenzenden Grundstück ein der jeweiligen Haushälfte auf dem streitgegenständlichen Grundstück bzw. dem Grundstück der Antragsteller vergleichbares Einzelhaus befindet, kann nichts gegen die Einstufung der beiden Haushälften als Doppelhaus hergeleitet werden, nachdem dieses Einzelhaus auf allen Seiten einen seitlichen Grenzabstand einhält. Auch die vom Erstgericht in Bezug genommene Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Februar 2019 (Az. 1 CS 18.2514) gibt für die Einstufung der beiden Haushälften als zufällig aneinandergebaute Einzelhäuser nichts her. Vielmehr wurden im hier zu entscheidenden Fall beide Baugenehmigungen, die die Errichtung der jeweiligen Gebäude auf dem Grundstück der Beigeladenen und demjenigen der Antragsteller gestatteten, ohne Abweichungen von den Abstandsflächen erteilt, die aber bei fehlender Doppelhauseigenschaft notwendig gewesen wären.
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Die beiden Haushälften müssen zum anderen in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BeckRS 2000, 30098169). Diese Voraussetzungen lagen in Bezug auf die Bestandsgebäude bis zum Abriss des Wohnhauses der Beigeladenen entgegen der Ansicht des Erstgerichts vor. In welchem Umfang vor diesem Hintergrund ein vorderer oder rückwärtiger Versatz möglich ist, ohne das nachbarliche Austauschverhältnis aus dem Gleichgewicht zu bringen oder die „harmonische Beziehung“, in der die einzelnen Gebäude zueinanderstehen müssen, in Frage zu stellen, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird mit dem Erfordernis des wechselseitig verträglichen und abgestimmten Aneinanderbauens nicht gefordert, dass die ein Doppelhaus bildenden Gebäude vollständig oder im Wesentlichen deckungsgleich aneinandergebaut werden müssen (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 22). Die beiden „Haushälften“ können auch zueinander versetzt oder gestaffelt an der Grenze errichtet werden, sie müssen jedoch zu einem wesentlichen Teil aneinandergebaut sein. Dabei betont das Bundesverwaltungsgericht, dass sich der Umfang, in dem die beiden Haushälften an der Grenze zusammengebaut sein müssen, weder abstrakt-generell noch mathematisch-prozentual festlegen lässt und die Umstände des Einzelfalls maßgeblich sind (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 22). Quantitativ sind dabei weiter insbesondere die Geschosszahl, die Gebäudehöhe, die Bebauungstiefe und -breite sowie das durch diese Maße im Wesentlichen bestimmte oberirdische Brutto-Raumvolumen zu berücksichtigen. Diese Merkmale waren bei beiden Gebäuden weitgehend identisch. Der bis zum Abriss bestehende Baukörper der Beigeladenen war über eine Länge von ca. 5,80 m an den Baukörper der Antragsteller angebaut, versprang dahinter um mehr als ca. 6,50 m in den rückwärtigen Gartenbereich hinein und nach vorne zur Erschließungsstraße um weitere ca. 1,50 m. Der Versprung um ca. 6,50 m war jedoch erkennbar durch die gewollte Symmetrie beider Baukörper und den Umstand, dass die jeweils nach Westen abgehenden Nebenbaukörper jeweils im Norden des Hauptbaukörpers zum Liegen kommen sollten, bedingt, sodass hier der Tatsache, dass beide Baukörper an der gemeinsamen Grundstücksgrenze weniger als die Hälfte aneinandergebaut waren, keine Bedeutung dahingehend zukommt, dass nach wertender Betrachtungsweise nicht mehr von einem Doppelhaus gesprochen werden kann. Denn vor diesem Hintergrund liegt eine Ausnahme von der Regel – falls man eine solche überhaupt anerkennen wollte (bejaht von BayVGH, U.v. 31.1.2011 – 1 N 09.582 – BeckRS 2012, 51239) – vor, dass insbesondere dann, wenn bei zwei an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinandergebauten Gebäuden mehr als die Hälfte einer Grenzwand freisteht, es schon in quantitativer Hinsicht an der ein Doppelhaus i.S.v. § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO kennzeichnenden wechselseitigen Abstimmung fehlt. Qualitativ kommt es unter anderem auch auf die Dachgestaltung und die sonstige Kubatur des Gebäudes an. Insoweit lag eine vollständige Übereinstimmung vor.
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b) Dieser Verstoß gegen den Nachbarschutz ist auch so schwerwiegend, dass das der Bauaufsichtsbehörde eingeräumte Ermessen auf Null reduziert ist: Durch das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben, das nicht an der Grenze, sondern unter Einhaltung der gesetzlichen Abstandsflächen errichtet werden soll, heben die Beigeladenen einseitig die zwischen den benachbarten Grundstückseigentümern begründete Schicksalsgemeinschaft auf. Hierdurch wird das nachbarliche Austauschverhältnis durch die vorgesehene einseitige Auflösung der Schicksalsgemeinschaft in einem Maße aus dem Gleichgewicht gebracht, das deutlich über das hinausgeht, was ein nicht auf die andere Haushälfte abgestimmter Anbau mit sich bringt. Die Antragsteller, die hierdurch in ihrer Rechtsstellung erheblich betroffen werden, bedürfen des Schutzes gegen eine einseitige Auflösung der Schicksalsgemeinschaft und können nicht darauf verwiesen werden, sie könnten auch ein freistehendes Gebäude unter Wahrung der gesetzlichen Abstandsflächen errichten (vgl. BayVGH, B. v. 20.6.2023 – 2 ZB 22.231 – juris). Demgegenüber kann nicht eingewandt werden, zum jetzigen Zeitpunkt liege kein Doppelhaus mehr vor, die Errichtung eines freistehenden Einfamilienhauses auf dem Grundstück der Beigeladenen sei nach den Festsetzungen des Bebauungsplans zulässig und das grenzständig stehende Gebäude der Antragsteller sei bestandsgeschützt. Mit dieser Argumentation könnte der oben dargelegte Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot in jedem Fall dadurch unterlaufen werden, dass einfach ein – nicht genehmigungsbedürftiger – Abriss einer Doppelhaushälfte vorgenommen und im sich anschließenden Genehmigungsverfahren vorgetragen wird, es liege nunmehr kein Doppelhaus mehr vor.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 155 Abs. 4 VwGO. Eine hier auch mögliche Kostentragungspflicht der Beigeladenen (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO) scheidet aus, da der Antragsgegner bei korrektem Verhalten dem Antrag auf Baueinstellung hätte entsprechen müssen, sodass es zu keinem diesbezüglichen Gerichtsverfahren gekommen wäre. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit den Nrn. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der aktuellen Fassung.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).