Titel:
rechtmäßige Ausweisung
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1
Leitsatz:
Die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, orientiert sich an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung und findet ihre obere Grenze regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 S. 2 StGB. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Darlegungsgebot, Kumulative Mehrfachbegründung, Spezial- und generalpräventive Ausweisung, Bleibeinteresse, Abwägung, Verwurzelung, Ausweisung, Aserbaidschan, kumulative Mehrfachbegründung, spezialpräventive Ausweisung, generalpräventive Ausweisung
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 11.10.2023 – AN 5 K 22.2664
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2081
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich der Kläger gegen seine erstinstanzlich bestätigte Ausweisung sowie damit verbundene Nebenentscheidungen und verfolgt sein erstinstanzlich abgelehntes Begehren der Aufenthaltserlaubniserteilung weiter.
2
Der Kläger, ein aserbaidschanischer Staatsangehöriger, der seit 25. Oktober 2002 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet war (die Ehe wurde am 4. September 2020 rechtskräftig geschieden) und mit dieser zwei in den Jahren 2002 und 2004 geborene Kinder hat, war nach erfolglosem Asylverfahren (der Asylantrag des Klägers wurde mit bestandskräftig gewordenem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge <jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge> vom 16.2.2000 unter Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in die Russische Föderation oder Aserbaidschan abgelehnt) vom 18. November 2002 bis 5. Juni 2020 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG (Bl. 434 d.A.). Mit Schreiben vom 22. Februar 2021 beantragte der Kläger durch seinen Bevollmächtigten die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (welche er damit begründete, dass er es aufgrund der psychischen Belastung in der Haft versäumt habe, rechtzeitig die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu beantragen) sowie „höchst vorsorglich“ die Erteilung einer Duldung. Die Beklagte setzte die Entscheidung über die Anträge mit Schreiben vom 9. Juli 2021 vor dem Hintergrund des anhängigen Strafverfahrens aus. Aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen der Ausreisemöglichkeiten wurde dem Kläger am 17. Mai 2021 eine (im Hinblick auf das laufende Strafverfahren) letztmalig bis 30. September 2022 verlängerte Duldung erteilt.
3
Am 1. Dezember 2022 erließ die Beklagte den angefochtenen Bescheid, mit welchem sie den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland auswies (Ziffer 1 des Bescheides), ein auf die Dauer von fünf Jahren ab der Ausreise bzw. Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnete (Ziffer 2), die sofortige Vollziehbarkeit der Ziffer 2 anordnete (Ziffer 3) und die Erteilung bzw. Verlängerung des beantragten Aufenthaltstitels (Ziffer 4) sowie die Ausstellung bzw. Erneuerung der Duldung ablehnte (Ziffer 5). Des Weiteren wurde unter der Ziffer 6 des Bescheides die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt, der Kläger unter der Ziffer 7 zur Ausreise bis 30. Dezember 2022 aufgefordert sowie unter der Ziffer 8 die Abschiebung des Klägers insbesondere nach Aserbaidschan angedroht.
4
Die am 22. Dezember 2022 erhobene Klage auf Aufhebung der Ausweisungsverfügung sowie der belastenden Nebenentscheidungen und Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung bzw. Verlängerung der beantragten Aufenthaltserlaubnis hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 11. Oktober 2023 abgewiesen.
5
Hiergegen richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung.
6
1. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen des Klägers in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.1) bzw. der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (1.2) liegen nicht vor.
7
1.1 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehen nur dann, wenn der Rechtsmittelführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellt (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente schlagen jedoch nach dem Rechtsgedanken des § 144 Abs. 4 VwGO nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – juris Rn. 9). Maßgeblich für die Beurteilung dieses Zulassungsgrundes ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), so dass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 15.1804 – juris Rn. 7).
8
1.1.1 Soweit der Kläger vorträgt, die Straftat, die zum Anlass der Ausweisung gemacht worden sei, datiere aus dem Jahr 2017, sie liege mittlerweile fast sieben Jahre zurück, seit dieser Zeit sei der Antragsteller durch den Strafvollzug geläutert, nicht mehr straffällig geworden und habe damit gezeigt, dass er keine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, die Berufung auf die Gefährlichkeit lasse sich mithin auf die zu Grunde liegenden Tatsachen nicht mehr stützen, insbesondere sei die Gefährlichkeit unter Berücksichtigung der Anlassstraftat nur hinsichtlich vergleichbarer Straftaten zu beachten, wendet er sich ausschließlich gegen die von dem Verwaltungsgericht bestätigte spezialpräventive Begründung der Ausweisung durch die Beklagte. Er lässt damit aber außer Acht, dass die Beklagte und ihr folgend das Verwaltungsgericht die Ausweisung selbständig tragend auch auf generalpräventive Gründe gestützt haben. Ist ein Urteil entscheidungstragend auf mehrere selbständige Begründungen gestützt (kumulative Mehrfachbegründung), kann die Berufung aber nur dann zugelassen werden, wenn im Hinblick auf jede der Urteilsbegründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht ist und vorliegt, da anderenfalls das Urteil mit der nicht in zulassungsbegründender Weise angefochtenen Begründung Bestand haben könnte (BayVGH, B.v. 21.9.2022 – 15 ZB 22.1621 – juris Rn. 18 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 61).
9
1.1.2 Des Weiteren trägt der Kläger vor, die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen am weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergebe, dass Art. 6 GG und Art. 8 EMRK und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das Ausweisungsinteresse zurücktreten ließen, weil für den Kläger nach 20-jährigem Aufenthalt im Bundesgebiet der weitere Verbleib hier gewährleistet sein müsse und die im Raum stehenden Straftaten, insbesondere die letzte Straftat aus dem Jahr 2017 nicht das Gewicht hätten, welches die extrem langjährigen rechtmäßigen Aufenthaltszeiten im Bundesgebiet zurücktreten lassen würden. Denn hier sei eine Art Verfestigung der sozialen wirtschaftlichen und persönlichen Bindungen entstanden, die nicht durch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten wegen einfacher Körperverletzung und früherer Verurteilungen zu überwiegend Geldstrafen zurückgestellt werden könnte. Die Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung auf der einen Seite müsse immer im Verhältnis zur tatsächlich vorliegenden Gefahr liegen. Die Straftat, die zum Anlass der Ausweisung gemacht worden sei, datiere aus dem Jahr 2017. Sie liege mittlerweile fast sieben Jahre zurück. Seit dieser Zeit sei der Antragsteller geläutert durch den Strafvollzug, nicht mehr straffällig geworden und habe damit gezeigt, dass er keine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Die Berufung auf die Gefährlichkeit lasse sich mithin auf die zu Grunde liegenden Tatsachen nicht mehr stützen. Insbesondere sei die Gefährlichkeit unter Berücksichtigung der Anlassstraftat nur hinsichtlich vergleichbarer Straftaten zu beachten. Die Ausweisung erweise sich insofern als unverhältnismäßig. Diese Unverhältnismäßigkeit im Hinblick auf die hohe Integration im Bundesgebiet schlage auf die Rechtmäßigkeit des Urteils und damit auf die Ernsthaftigkeit der Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Urteils durch. Es müsse sichergestellt werden, dass in solchen Fällen, in denen gravierende Straftaten im Raum stünden, (diese) nicht bei der Gefährlichkeit Berücksichtigung fänden, wenn sich später herausstelle, dass die ursprüngliche Vermutung der gravierenden Straftaten durch Freispruch nicht aufrechtzuerhalten sei.
10
Damit hat der Kläger die Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen. Das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt nicht das öffentliche Ausweisungsinteresse. Die Ausweisung ist nach den Maßstäben des Art. 6 GG sowie des Art. 8 Abs. 1 EMRK auch nicht unverhältnismäßig.
11
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Der Gesetzgeber hat im Ausweisungsrecht in differenzierter Weise die Schutzwürdigkeit familiärer Bindungen ausdrücklich berücksichtigt und ihnen normativ verschieden gewichtete Bleibeinteressen zugeordnet (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG). Die Katalogisierung schließt es aber nicht aus, dass andere, nicht ausdrücklich in § 55 Abs. 1 AufenthG benannte Interessen und Umstände bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung jeweils mit einem Gewicht einzustellen sein können, das einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse entsprechen kann (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 5 Rn. 5).
12
Gemessen daran begegnet die von dem Verwaltungsgericht vorgenommene Gesamtabwägung keinen ernstlichen Zweifeln:
13
Nach der gesetzlichen Typisierung liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG (aufgrund der Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht N. vom 1.10.2019 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten) vor. Dieses Ausweisungsinteresse hat die Beklagte, wie ausgeführt, zutreffend auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt. Das Vorbringen des Klägers zum angeblichen Fehlen einer konkreten Wiederholungsgefahr und damit eines spezialpräventiven Ausweisungsinteresses ist damit unbeachtlich. Soweit der Kläger mit seinem Verweis darauf, dass die (letzte) Straftat im Jahr 2017 begangen worden sei, die hinreichende Aktualität des Ausweisungsinteresses in Zweifel zieht, vermag der Senat dem nicht zu folgen:
14
Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Die Verjährungsfrist für den Verstoß beginnt demnach mit der Beendigung der Tat (vgl. im einzelnen BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8) und beträgt hier zehn Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB i.V.m. §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB). Damit ist die absolute Verjährungsfrist gemäß § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB noch nicht abgelaufen, weshalb die Tat zur Begründung des Ausweisungsinteresses herangezogen werden kann.
15
Dem schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht schon kein gleich gewichtiges Bleibeinteresse des Klägers gemäß § 55 AufenthG gegenüber. Insbesondere ist der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt nicht gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, denn dieses vertypte Bleibeinteresse setzt den tatsächlichen Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis voraus; eine Antragstellung in Verbindung mit § 81 Abs. 4 AufenthG genügt nicht (vgl. dazu BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32.22 juris Rn. 13 ff.), weshalb der Vortrag des Klägers zu angeblichen Wiedereinsetzungsgründen hinsichtlich der rechtzeitigen Antragstellung auf Verlängerung der (zuletzt erteilten) Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich ist. Im Übrigen greift der Kläger die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zu seinen Bleibeinteressen mit dem Antrag auf Berufungszulassung nicht an. Sonstige Bleibeinteressen des Klägers, welchen aufgrund der konkreten Umstände ein gleichrangiges Gewicht wie einem vertypten besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse zukäme, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere lebt der Kläger seit der Ehescheidung im Jahr 2020 nicht mehr mit seiner deutschen Ex-Ehefrau oder seinen mittlerweile volljährig gewordenen Kindern zusammen.
16
Soweit der Kläger sinngemäß geltend macht, dass er aufgrund seines 20-jährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet verwurzelt sei und die Ausweisung deshalb einen nicht gerechtfertigten Eingriff in sein nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Privatleben darstelle, ist festzustellen, dass selbst eine Einstufung des Klägers als „faktischer Inländer“, auf welche der klägerische Vortrag sinngemäß hinauslaufen soll, nicht unter allen Umständen dazu führen würde, dass die Ausweisung einen nicht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen und unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Privatleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen würde und damit rechtswidrig wäre (vgl. dazu BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 32.22 – juris Rn. 16 ff.). Denn auch die Ausweisung einer Person, die aufgrund ihrer Verwurzelung in Deutschland und der damit korrespondierenden Entwurzelung im Heimatland als faktischer Inländer behandelt werden muss, ist nicht von vornherein unzulässig. Vielmehr ist der besonderen Härte, die mit einer solchen Ausweisung einhergeht, durch eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können, sowie im Rahmen der Interessenabwägung durch eine besonders sorgfältige Prüfung und Erfassung der individuellen Lebensumstände des Ausländers, seiner Verwurzelung in Deutschland einerseits und seiner Entwurzelung im Herkunftsland andererseits, Rechnung zu tragen (BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32.22 – juris Rn. 17 m.V.a. EGMR, U.v. 30.11.1999 – 34374/97, Baghli/Frankreich – NVwZ 2000, 1401 Rn. 45 f.; EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, Ziebell – juris Rn. 82 f.; BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19; B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24; BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 33; B.v. 2.8.2023 – 1 B 20.23 – juris Rn. 3).
17
Diesen rechtlichen Anforderungen genügen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts. Es hat zu Recht berücksichtigt, dass sich der Kläger während seines Aufenthalts im Bundesgebiet keineswegs rechtstreu verhalten hat, und darauf verwiesen, dass ein Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 7. August 2023 für den Kläger zwölf Eintragungen in verschiedenen Deliktsfeldern aufweise. Des Weiteren hat das Verwaltungsgericht (der Beklagten folgend) in die Abwägung eingestellt, dass die beiden Kinder des Klägers inzwischen volljährig und nicht mehr auf den Kläger angewiesen sind und auch keine familiäre Lebensgemeinschaft mehr mit ihnen besteht, ebenso wenig mit der Ex-Ehefrau des Klägers. Zudem hat das Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass schützenswerte familiäre und sonstige Bindungen im Bundesgebiet nicht vorliegen. Diese Feststellungen hat der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen nicht in Frage gestellt. Das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung, dass er mit einer deutschen Staatsangehörigen die Ehe schließen wolle, hat das Verwaltungsgericht zu Recht mit dem Hinweis darauf für unbeachtlich gehalten, dass der Kläger diesen Vortrag nicht hinreichend konkretisieren konnte, weil insbesondere noch kein Termin für die Eheschließung beim Standesamt feststeht oder verbindlich bestimmbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 28.11.2016 – 10 CE 16.2266 – juris Rn. 11 m.w.N.). Davon ausgehend ist die Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts, dass das Ausweisungsinteresse des Klägers dessen Bleibeinteresse überwiegt, nicht zu beanstanden.
18
1.2. Soweit der Kläger daneben die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) geltend macht und ausführt, grundsätzliche Bedeutung habe die Frage, ob der Antrag auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis von einem in Haft befindlichen Ausländer nicht schon wegen der Haftumstände nicht von Amts wegen im Sinne eines „unverschuldeten Nichtverlängerungsantrags“ (gemeint wohl: eines unverschuldet nicht gestellten Verlängerungsantrags), ähnlich wie bei einer Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand, als rechtzeitig gestellt zu gelten habe, auch wenn dieser erst mehrere Monate nach Haftentlassung erfolge, kommt es darauf für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Versagung der Erteilung bzw. Verlängerung des Aufenthaltstitels durch die Beklagte nicht an. Denn dieser steht bereits die Titelerteilungssperre gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG aufgrund des mit der Ausweisung verbundenen, wirksamen Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 2 des Bescheids der Beklagten) entgegen. Die aufgeworfene Frage ist damit jedenfalls nicht klärungsfähig, weil sie sich in einem Berufungsverfahren nicht in entscheidungserheblicher Weise stellen würde, und hat folglich keine grundsätzliche Bedeutung.
19
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
20
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
21
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).