Titel:
EU-Unterhaltsberechtigtenzulage als Kostenbeitrag bei stationärer Unterbringung des Kindes einzusetzen
Normenketten:
SGB VIII § 92 Abs. 3 (idF vom 29.8.2013)
SGB VIII § 94 Abs. 3 (idF vom 3.12.2013)
EStG § 65, § 74, § 76
EU-BeamtStat Art. 67 Abs. 1 lit. b
Leitsätze:
Die Unterhaltsberechtigtenzulage eines EU-Beamten ist nicht für den Unterhalt des Beamten bestimmt, sondern steht der Leistung von Kindergeld gleich. Der Elternteil ist deshalb zur Leistung eines monatlichen Kostenbeitrages zur Eingliederungshilfe für die stationäre Unterbringung im Rahmen einer Jugendhilfemaßnahme verpflichtet (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Unterhaltsberechtigtenzulage nach Art. 67 Abs. 1 lit. b EU-BeamtStat ist eine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistung. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3. Dem Kindergeld vergleichbare Leistungen unterfallen ebenfalls der Regelung in § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII idF vom 3.12.2013. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Unterhaltsberechtigtenzulage ist in der gewährten Höhe vollständig nach § 94 Abs. 3 SGB VIII idF vom 3.12.2013 einzusetzen. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenbeitrag aus Kindergeld, Unterhaltsberechtigtenzulage, Aufklärungspflicht, Kostenbeitrag, Jugendhilfemaßnahme, stationäre Unterbringung, Kindergeld
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 15.01.2025 – 12 BV 24.1689
Fundstellen:
FamRZ 2024, 1790
LSK 2024, 20769
BeckRS 2024, 20769
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Kostenbeitragsbescheid vom 18. Juli 2019, mit welchem er zur Zahlung eines monatlichen Kostenbeitrags in Höhe der dem deutschen Kindergeld entsprechenden Unterhaltsberechtigtenzulage für stationäre Jugendhilfemaßnahmen für seinen Sohn verpflichtet wurde.
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Der Kläger ist Vater des am … Februar 2005 geborenen Leistungsempfängers. Die Eltern des Leistungsempfängers beantragten am 10. April 2019 für ihren Sohn Eingliederungshilfe in Form der stationären Unterbringung.
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Mit Bescheid vom 18. Juni 2016 bewilligte die Beklagte gegenüber den (wohl) gemeinsam sorgeberechtigten Eltern für den Leistungsempfänger Eingliederungshilfe in Form der stationären Unterbringung gemäß § 35a SGB VIII ab dem 10. Juni 2016.
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Wohl auf Grund eines Telefonats zwischen einer Mitarbeiterin der Beklagten und dem Kläger am 12. Juli 2019 übersandte der Kläger wohl im Folgenden eine Bestätigung des … … vom 15. Juli 2019, wonach der Kläger für den Leistungsempfänger seit dem 1. Juni 2008 eine Unterhaltsberechtigtenzulage, die dem deutschen Kindergeld entspreche, erhalte und seit dem 1. Oktober 2017 die doppelte Unterhaltsberechtigtenzulage in Höhe von 7.171,88 EUR erhalte.
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Die Beklagte belehrte den Kläger mit Schreiben vom 18. Juli 2019, zugestellt am 25. Juli 2019, über seine Kostenbeitragspflicht für die ab 10. Juni 2019 gewährte Eingliederungshilfe und forderte ihn auf, Auskunft über seine Einkommensverhältnisse zu erteilen.
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Mit streitgegenständlichem Leistungsbescheid der Beklagten gegenüber dem Kläger ebenfalls vom 18. Juli 2019, zugestellt ebenfalls am 25. Juli 2019, wurde der Kläger verpflichtet, einen Kostenbeitrag in Höhe der dem deutschen Kindergeld entsprechenden Unterhaltsberechtigtenzulage vom 10. Juni 2019 bis zum 30. Juni 2019 in Höhe von 502,52 EUR sowie ab dem 1. Juli 2019 bis auf weiteres monatlich in Höhe von 717,88 EUR zu leisten. Zur Begründung wurde auf § 94 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 7 Kostenbeitragsverordnung Bezug genommen.
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Zum 27. Juli 2019 wurde die Hilfeleistung beendet.
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Die Bevollmächtigten des Klägers bestellten sich mit Schreiben vom 19. August 2019 gegenüber der Beklagten und beantragten die Aussetzung der Vollziehung des Kostenbeitragsbescheides vom 18. Juli 2019, welche im Folgenden erfolgte.
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Ebenfalls am 19. August 2019 erhoben die Bevollmächtigten für den Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragten,
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Der Bescheid des Beklagten vom 18. Juli 2019 über die Heranziehung des Klägers zu einem „Kostenbeitrag in Höhe der dem deutschen Kindergeld entsprechenden Unterhaltsberechtigtenzulage“ wird aufgehoben.
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass es sich bei der vom Kläger für seinen Sohn bezogenen Unterhaltsberechtigtenzulage nicht um deutsches Kindergeld im Sinne des § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII handle. Der Begriff des Kindergeldes sei eng zu verstehen; dem Kindergeld lediglich „vergleichbare Leistungen“ anderer staatlicher Organisationen würden nicht unter § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII unterfallen.
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Die Beklagte legte mit Schriftsatz vom 24. August 2020 die Akten vor und beantragte,
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Zur Begründung trug die Beklagte vor, bei der in Rede stehenden Unterhaltsberechtigtenzulage handle es sich um einen einkommensunabhängigen Festbetrag, der je Kind gewährt werde. Damit entspräche er dem deutschen Kindergeld.
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Mit Schriftsatz vom 22. Januar 2024 erklärte die Beklagte und mit Schriftsatz vom 29. Mai 2024 die Klageseite den Verzicht auf mündliche Verhandlung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 18. Juli 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist für die vorliegende Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, folglich der Zeitpunkt des Bescheidserlasses, ebenso ist auf die zum damaligen Zeitpunkt geltende Rechtslage abzustellen.
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Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Bescheid ist § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in der Fassung vom 29. August 2013 (im Folgenden: a.F.) i.V.m. § 7 der Verordnung zur Festsetzung der Kostenbeiträge für Leistungen und vorläufige Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe (Kostenbeitragsverordnung) in der Fassung vom 4. Dezember 2013 (im Folgenden. a.F.).
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Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht in Streit, dass der Kläger dem Grunde nach zu den Kosten der seinem Sohn gewährten Eingliederungshilfe in Form der stationären Unterbringung beizutragen hat und es im vorliegenden Rechtsstreit auf deren Rechtmäßigkeit nicht ankommt.
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Der Kläger wurde über die bestehende Kostenbeitragspflicht entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in der Fassung vom 29. August 2013 (im Folgenden a.F.) auch ausreichend belehrt.
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Bei der Mitteilung der Leistungsgewährung und der Aufklärung über die unterhaltsrechtlichen Folgen gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII handelt es sich um eine materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung der Kostenbeitragserhebung, die das Gericht von Amts wegen zu prüfen hat. Die Erhebung des Kostenbeitrags ist erst ab dem Zeitpunkt der Aufklärung zulässig (VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn. 64).
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Die Mitteilungs- und Aufklärungspflicht gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist auch materielle Tatbestandsvoraussetzung für die Erhebung eines Kostenbeitrags in Höhe des Kindergeldes i.S.v. § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn. 66 m.w.N.). Die mit Schreiben der Beklagten vom 18. Juli 2019 erfolgte Aufklärung genügt daher für die Erhebung des vorliegend streitgegenständlichen Kostenbeitrags bereits ab 10. Juni 2019 nicht. Allerdings befindet sich eine ausreichende Aufklärung und Belehrung über die unterhaltsrechtlichen Folgen der Jugendhilfemaßnahme (vgl. hierzu ausführlich VG München, a.a.O., Rn. 67 ff.; VGH BW, U.v. 15.9.21 – 12 S 487/19 – juris Rn. 48) bereits in dem von dem Kläger unterschriebenen Formular „Antrag – Information zur Kostenbeteiligung“ vom 10. April 2019. In diesem Formular war auch konkret die Kostenbeteiligung in Höhe des Kindergeldes benannt. Zudem war der Kläger als Sorgeberechtigter und Antragsteller spätestens mit dem Leistungsbeginn am 10. Juni 2019 ausreichend über die Art, den Umfang und die voraussichtliche Dauer der Hilfe informiert. Dem Schutzzweck des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. wurde damit genüge getan, ein bestimmtes Formerfordernis hinsichtlich der Aufklärung besteht hingegen nicht (vgl. VG München, U.v. 21.7.2021 – M 18 K 18.2472 – n.v., Rn. 38).
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Die Beklagte durfte den Kläger mit dem streitgegenständlichen Bescheid zur Zahlung der Unterhaltsberechtigtenzulage nach § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. als dem Kindergeld vergleichbare Leistung verpflichten.
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Gemäß 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. hat, sofern Leistungen über Tag und Nacht außerhalb des Elternhauses erbracht werden, der Elternteil, der Kindergeld für den jungen Menschen bezieht, dieses unabhängig von einer Heranziehung zu einem Kostenbeitrag aus Einkommen einen Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes zu zahlen.
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Die Unterhaltsberechtigtenzulage ist einen dem Kindergeld vergleichbare Leistung (hierzu unter 1), welche dem Anwendungsbereich des § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII unterfällt (hierzu unter 2). Zudem ist die Unterhaltsberechtigtenzulage für den jungen Menschen in vollem Umfang einzusetzen (hierzu unter 3).
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1) Die – vorliegend geforderte – Unterhaltsberechtigtenzulage ist eine dem (deutschen) Kindergeld vergleichbare Leistung.
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Gemäß Art. 62, 67 Abs. 1 lit. b), Abs. 3 EU-Beamtenstatut i.V.m Art. 2 Anhang VII des EU-Beamtenstatuts erhalten Beamte der Gemeinschaft für jedes unterhaltsberechtigte Kind eine Kinderzulage von monatlich 326,44 EUR. Diese Leistung ist mit dem Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG bzw. dem BKGG vergleichbar.
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Die Vergleichbarkeit der anderweitig gewährten Leistung ist nach deren Funktion zu beurteilen. Eine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistung ist anzunehmen, wenn sie nach ihrem Sinn und Zweck ebenfalls dem Familienleistungsausgleich dient, also einen Beitrag zur finanziellen Entlastung der Familie darstellt. Nicht abzustellen bei der Frage der Vergleichbarkeit mehrerer kindbezogener Leistungen ist hingegen auf deren rechtliche Ausgestaltung, sondern allein darauf, ob die zu vergleichende Leistung wirtschaftlich die gleiche Zielrichtung verfolgt wie das Kindergeld (VGH BW, U.v. 15.9. 2021 – 12 S 487/19 – juris 38 m.w.N.).
31
Die Unterhaltsberechtigtenzulage stellt eine dem Kindergeld vergleichbare Leistung dar. Sie verfolgt denselben Sinn und Zweck wie das deutsche Kindergeld, nämlich den Unterhalt des Kindes, für welches die Leistung gewährt wird, sicherzustellen. Dies wird insbesondere durch Art. 67 Abs. 4 EU-Beamtenstatut i.V.m. mit Anhang VII Art. 2 Abs. 7 deutlich, der vorsieht, dass die Zulage auch für Kinder des Beamten gezahlt wird, für die er nicht sorgeberechtigt ist. Die Auszahlung erfolgt in diesen Fällen im Namen und für Rechnung des Beamten an den Sorgeberechtigten. Die Kinderzulage ist nicht für den Unterhalt des Beamten bestimmt, sondern für den des Kindes (vgl. OLG Koblenz, B.v. 8.3.2017 – 13 UF 401/16 – juris Rn. 33 ff.; BFH, U.v. 13.7.2016 – XI R 16/15 – juris Rn. 25; EuG, U.v. 3.3.1993 – T 69/91 – juris Rn. 34; EuGH, U.v. 14.6.1988 – C-33/87 – juris Rn. 15). Dies wird ferner auch durch die Tatsache unterstrichen, dass die in Rede stehende Unterhaltsberechtigtenzulage – anders als andere Zulagen – einkommensunabhängig gewährt wird, also den realen Unterhaltsbedarf des Kindes, welcher unabhängig vom Einkommen des Beziehenden ist, sicherzustellen soll.
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Ferner geht die Vergleichbarkeit der Unterhaltsberechtigtenzulage mit dem deutschen Kindergeld auch aus der im Gesetz angelegten Rangstellung hervor. So regelt § 65 Satz 1 Nr. 3, S. 3 EStG in der Fassung vom 26. Juni 2013 (im Folgenden. a.F.) das Verhältnis der Unterhaltsberechtigtenzulage zum deutschen Kindergeld insofern, dass aufgrund jener Unterhaltsberechtigtenzulage für EU-Beamte das deutsche Kindergeld nicht versagt werden darf. Wiederum besagt Art. 67 Abs. 2 EU-Beamtenstatut spiegelbildlich, dass „anderweitig gezahlten Zulagen gleicher Art“ von der Unterhaltsberechtigtenzulage zum Abzug zu bringen sind. Somit stellt das deutsche Kindergeld ein systematisches Äquivalent zur Unterhaltsberechtigtenzulage da, weil andernfalls der in Art. 67 Abs. 2 EU-Beamtenstatut normierte Grundsatz Doppelleistungen für dasselbe Kind zu verhindern, bei nicht vergleichbaren Leistungen sinnwidrig wäre und ins Leere laufen würde. Im Übrigen wird eine Vergleichbarkeit der Unterhaltsberechtigtenzulage mit dem deutschen Kindergeld auch an deren steuerlicher Gleichbehandlung deutlich. Beide Leistungen werden dem Empfänger steuerfrei gewährt (vgl. OLG Koblenz, a.a.O., Rn. 37). Zudem geht auch das Europäische Patentamt entsprechend der Bestätigung vom 15. Juli 2019 von einer Vergleichbarkeit der gewährten Leistung und dem deutschen Kindergeld aus, worauf sich die beklagte insbesondere bezog.
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Hingegen ist die Unterhaltsberechtigtenzulage insbesondere auf Grund dieser Zweckbestimmung nicht mit dem beamtenrechtlichen Familienzuschlag deutscher Beamten vergleichbar (vgl. hierzu OLG Koblenz, B.v. 8.3.2017 – 13 UF 401/16 – juris Rn. 35 ff.), welcher im Rahmen des Jugendhilferechtlichen Kostenbeitragsrechts als Einkommensbestandteil nach § 93 SGB VIII Berücksichtigung findet (VGH BW, B.v. 18.8.2021 – 12 S 1431/19 – juris Rn. 13).
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2) Dem Kindergeld vergleichbare Leistungen unterfallen ebenfalls der Regelung in § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F.
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Das Gericht folgt insoweit nicht der – von dem Bevollmächtigten des Klägers in Bezug genommenen – Ansicht des Verwaltungsgerichts Freiburg (U.v. 11.10.2017 – 4 K 4413/16 – juris Rn. 61), wonach der Begriff des Kindergeldes in § 93 Abs. 2 SGB VIII eng zu verstehen sei und nicht jegliche staatliche Leistung, die kinderbezogen gewährt werde, erfasse, sondern lediglich Zahlungen auf Grundlage von Abschnitt X EStG und dem Bundeskindergeldgesetz. Zur Begründung hierzu bezieht sich das Verwaltungsgericht Freiburg insbesondere auf den Verweis in § 94 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII auf § 74 EStG. Lediglich vergleichbare Leistungen – wie die im dortigen Verfahren streitgegenständliche Schweizer Kinderzulage (vgl. zu deren Vergleichbarkeit zum Kindergeld auch: VGH BW, U.v. 15.9.2021 – 12 S 487/19 – juris Rn. 30 m.w.N) – seien daher gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dem Einkommen hinzuzurechnen.
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Das erkennende Gericht erachtet hingegen die Argumentation des Verwaltungsgerichts Freiburg als nicht ausreichend und überzeugend. Vielmehr eröffnet § 94 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII a.F. Trägern der öffentlichen Jugendhilfe lediglich die Möglichkeit, einen dem Anspruch nach § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nicht nachkommenden Elternteil nach § 74 Abs. 2 EStG in Anspruch zu nehmen, sofern diesem Kindergeld nach EStG gewährt wird. Bei dieser Regelung handelt es sich vielmehr lediglich um eine Erstattungsregelung, jedoch kann aus dieser keine Definition des in Satz 1 genannten Kindergeldbegriffes abgeleitet werden. Dem entspricht auch die Begründung der Gesetzesänderung zum 21. Dezember 2022, mit welcher die Regelung in § 94 Abs. 3 SGB VIII um Satz 3 ergänzt wurde, welcher auf das BKGG verweist. Dort wird ausgeführt, dass es sich insoweit lediglich um die Klarstellung handelt, dass ein Erstattungsanspruch auch möglich ist, wenn die Eltern das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz beziehen (BT-Drs. 19/26107, S. 113). Zudem kann das Gericht auch den in der Entscheidung des VG Freiburg zitierten Fundstellen (a.a.O.) keine eindeutige Aussage zu der Frage der Behandlung von dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen entnehmen. Auch im Übrigen konnte das Gericht hierzu weder eindeutige Rechtsprechung noch Kommentarliteratur auffinden.
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Das Gericht hat daher die Vorschrift nach ihrer zu Grunde liegenden Systematik, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck, insbesondere anhand der Gesetzesbegründungen, ausgelegt.
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Der Gesetzgeber hatte bereits die erstmalige Aufnahme der Regelung eines Kostenbeitrags hinsichtlich des Kindergeldes durch die Neufassung des § 94 Abs. Abs. 3 Satz 1 SGB VIII i.d.F. vom 8. September 2005 damit begründet, dass damit dem Unverständnis darüber begegnet werde, dass Eltern, deren Kinder im Rahmen der Jugendhilfe außerhalb des Elternhauses untergebracht sind und dort den Lebensunterhalt erhalten, noch durch das Kindergeld „belohnt“ würden. Die dadurch nicht zu rechtfertigende Schlechterstellung der Eltern, die ihr Kind selbst erziehen, werde beseitigt. Durch die Änderung werde erreicht, dass Eltern bzw. ein Elternteil bei der Heranziehung zu den Kosten in den genannten Fällen einen Kostenbeitrag mindestens in Höhe des auf das Kind bzw. den Jugendlichen entfallenden Kindergeldes (oder einer diesem vergleichbaren Leistung) zu leisten haben bzw. hat (BT-Drs. 15/4532, S. 17).
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Mit der weiteren Neufassung des § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII durch das Gesetz zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz – KJVVG) vom 29. August 2013 hat der Gesetzgeber das Ziel verfolgt, wie bisher bei vollstationären Leistungen das Kindergeld bei der Kostenheranziehung einzubeziehen. Allerdings sollte eine bestehende Ungleichbehandlung kostenbeitragspflichtiger Eltern beseitigt werden. Durch die Neuregelung wollte der Gesetzgeber erreichen, dass der Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes neben dem Kostenbeitrag aus Einkommen erhoben wird (Krome in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 94 SGB VIII (Stand: 20.04.2023), Rn. 16). Zudem sollte hierdurch erreicht werden, dass weder das Kindergeld für das betroffene Kind noch das Kindergeld für seine Geschwister zum Einkommen zählen (BR-Drs. 93/13, S. 13).
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Dementsprechend erscheint es sachgerecht und im Sinne des Gesetzgebers, dass mit dem Begriff „Kindergeld“ in § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (und gleichlaufend in § 93 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII) auch dem Kindergeld vergleichbare Leistungen erfasst sein sollen (tendenziell ebenso, aber im Ergebnis offengelassen: VGH BW, U.v. 15.9.21 – 12 S 487/19 – juris Rn. 44; bejahend wohl auch BFH, U.v. 28.4.2010 – III R 44/08 – juris Rn. 20 ff., 25).
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3) Die Unterhaltsberechtigtenzulage ist in der gewährten Höhe auch vollständig nach § 94 Abs. 3 SGB VIII a.F. einzusetzen.
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Der Kläger erhält gemäß Art. 67 Abs. 3 EU-Beamtenstatut die doppelte Unterhaltsberechtigtenzulage für seinen leistungsberechtigten Sohn. Gemäß dieser Regelung kann die Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder durch besondere mit Gründen versehene Verfügungen der Anstellungsbehörde auf den doppelten Betrag erhöht werden, wenn durch beweiskräftige ärztliche Unterlagen nachgewiesen wird, dass das betreffende Kind wegen einer geistigen oder körperlichen Behinderung den Beamten mit erheblichen Ausgaben belastet.
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Aus dem Gesetz ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Kostenbeteiligung über § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ausschließlich in Höhe des nach deutschem Recht zu gewährenden Kindergeldes zu erfolgen hat. Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass die zweckgleiche Leistung in ihrem vollem Umfang – ggf. lediglich begrenzt über die Kosten der Maßnahme, § 94 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII – einzusetzen ist. Nachdem vorliegend auch die Verdoppelung der Unterhaltsberechtigtenzulage ebenfalls ausschließlich bezweckt, die durch eine Behinderung oder Erkrankung des Kindes zusätzlichen Kosten zu berücksichtigen, dient sie damit ebenfalls der Unterhaltsdeckung für dieses Kind.
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Dies entspricht auch der zu § 94 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII i.V.m § 74 Abs. 2 EStG ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung. Demnach ist maßgeblich für die Berechnung des einzelnen Erstattungsanspruchs jeweils (nur) dasjenige Kindergeld, das nach den gleichen Vorschriften gezahlt wird wie das Kindergeld für das Kind, auf das sich der Erstattungsanspruch bezieht BFH, U.v. 28.4.2010 – III R 44/08 – juris Rn. 20 ff., 23). Dementsprechend ist bei der Aufteilung des Kindergeldes nach Köpfen entsprechend § 76 Satz 2 Nr. 1 EStG zu trennen zwischen dem Kindergeld nach § 66 EStG und dem Kindergeld nach einer anderen Regelung, dort dem deutsch-türkischen Abkommen. Denn da der Erstattungsanspruch nach § 94 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII, § 74 Abs. 2 EStG, § 104 Abs. 1 Sätze 1 und 4 SGB X insbesondere die Ersparnis des Kindergeldberechtigten bei der Leistung des Kindesunterhalts abschöpfen soll, erscheint es geboten, dieser Typisierung bei der Aufteilung des Kindergeldes nach Köpfen analog § 76 Satz 2 Nr. 1 EStG Rechnung zu tragen (a.a.O., Rn. 22). Dementsprechend wurde im dortigen Fall das zum Kindergeld nach § 66 EStG geringere Kindergeld nach dem deutsch-türkischen Abkommen bei der Berechnung entsprechend berücksichtigt. Ebenso scheint es sachgerecht, vorliegend die höhere Unterhaltsberechtigtenzulage nach dem EU-Statut vollständig zu berücksichtigen. Denn der deutliche Unterschied der Höhe der kinderbezogenen Leistungen resultiert hier nicht aus einem anderen Unterhaltsbedarf aufgrund eines niedrigeren Preisniveaus im Ausland, sondern ergibt sich aus der individuellen Beeinträchtigung eines Kindes.
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Dies entspricht auch dem Rechtsgedanken des § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII, welcher regelt, dass Geldleistungen, die dem gleichen Zwecke wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe dienen, nicht zum Einkommen zählen, sondern unabhängig von einem Kostenbeitrag einzusetzen sind. Dabei handelt es sich zwar um eine von § 94 Abs. 3 Satz. 1 SGB VIII unabhängige Anspruchsgrundlage, ihrem Sinn und Zweck nach wird aber der eindeutige Wille des Gesetzgebers deutlich, solche Leistungen, die für die Kompensation von Beeinträchtigungen gewährt werden, bei vollstationärer Unterbringung in Gänze einzufordern. Die Verdopplung der Unterhaltsberechtigtenzulage für den Sohn des Klägers beruht vorliegend gerade auf dessen Behinderung, welche auch für die Leistung der Eingliederungshilfe in Form der stationären Unterbringung ursächlich gewesen sein dürfte.
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Der streitgegenständliche Bescheid ist damit – auch wenn er jegliche rechtlichen Ausführungen vermissen lässt – zum maßgeblichen Zeitpunkt rechtmäßig. Nachdem die Eingliederungshilfe jedoch zum 26. Juli 2019 beendet wurde, hat die Beklagte – sofern noch nicht geschehen – die Leistungspflicht auf diesen Zeitpunkt zu beschränken.
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Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO abzuweisen.
48
Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
49
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 S. 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.
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Die Berufung wird gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO zugelassen, da die Rechtssache hinsichtlich der Frage, ob dem Kindergeld vergleichbare Leistungen im Rahmen des § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII Berücksichtigung finden, rechtliche Schwierigkeiten aufweist und grundsätzliche Bedeutung zukommt.