Inhalt

VG München, Beschluss v. 29.07.2024 – M 10 S 24.50732
Titel:

Dublin-Verfahren (Zielstaat, Kroatien, Herkunftsstaat Türkei), Abschiebungsanordnung, Eidesstattliche Versicherung hinsichtlich im Herkunftsland geschlossener Ehe, Ehemann im nationalen Verfahren, Systemische Mängel im kroatischen Asylverfahren (bejaht)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1
VwGO § 80 Abs. 5
VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2
Dublin III-VO Art. 10
Dublin III-VO Art. 20 Abs. 5
GRCh Art. 4
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Kroatien, Herkunftsstaat Türkei), Abschiebungsanordnung, Eidesstattliche Versicherung hinsichtlich im Herkunftsland geschlossener Ehe, Ehemann im nationalen Verfahren, Systemische Mängel im kroatischen Asylverfahren (bejaht)
Fundstelle:
BeckRS 2024, 20759

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom *. Juli 2024 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im Weg des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die angeordnete Überstellung nach Kroatien im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
2
Die Antragstellerin, nach eigenen Angaben eine türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste am … Mai 2024 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am … Mai 2024 schriftlich Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom … Juni 2024.
3
Aufgrund der EURODAC-Ergebnismitteilung vom … Mai 2024, die zwei Treffermeldungen der Kategorie 1 und 2 vom gleichen Tag hinsichtlich Kroatien aufweist („[HR1[…]“ und „HR2[…]“ vom …5.2024 in T* …*), ergaben sich Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO). Am 21. Juni 2024 richtete die Antragsgegnerin ein auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmegesuch an Kroatien, das die dortigen Behörden unter Verweis auf Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO akzeptierten.
4
Im persönlichen Gespräch gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin III-VO vom … Juni 2024 hat die Antragstellerin zunächst angegeben, dass sie – anders als in den Angaben in der Niederschrift Teil 1 zum Asylantrag – religiös verheiratet sei. Sie hätten zwei Monate vor der Ausreise in I* … geheiratet. Sie hat ferner angegeben, dass man ihr in Kroatien zunächst das Handy abgenommen habe. Als sie sich geweigert habe, ihre Fingerabdrücke abzugeben, habe eine Polizistin sie zur Toilette mitgenommen, geschlagen und sie nackt ausziehen lassen, um zu kontrollieren, ob sie gefährliche Gegenstände bei sich trage. Ihre Kleidung sei auf den schmutzigen Toilettenboden geworfen worden. Am zweiten Tag habe sie ihre Fingerabdrücke abgegeben. Sie seien schließlich weiter nach Zagreb gefahren und man habe ihnen gesagt, sie würden Kroatien verlassen, denn man wolle sie dort nicht. In Bosnien sei sie von ihrem Ehemann getrennt worden. Auf Frage nach Verpflegung in Kroatien hat die Antragstellerin geantwortet, Polizeibeamte hätten ihr gesagt, dass sie Geld geben müssten, wenn sie etwas zu Essen haben wollten.
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Mit Bescheid vom *. Juli 2024, zugestellt am … Juli 2024, wurde der Asylantrag der Antragstellerin als unzulässig abgelehnt (Nr. 1), das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint (Nr. 2) und die Abschiebung nach Kroatien angeordnet (Nr. 3). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 19 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Die Antragstellerin hat am 17. Juli 2024 Klage gegen Bescheid vom 5. Juli 2024 erhoben und beantragt (sinngemäß) zugleich,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
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Zur Begründung wird vorgetragen, dass sie in Kroatien durch Beamte misshandelt worden sei. Außerdem befinde sich ihr Ehemann (M. Ö.) in Deutschland im nationalen Verfahren. Die Antragstellerin und M. Ö. versicherten an Eides statt, am … März 2024 in I* … geheiratet zu haben.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 25. Juli 2024,
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den Antrag abzulehnen.
11
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angegriffene Entscheidung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 24.50731, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der zulässige, insbesondere fristgerecht gestellte Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO hat in der Sache Erfolg.
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1. Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragstellerin regelmäßig zurück. Sofern die Klage dagegen bei summarischer Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein wird, tritt das Interesse an der sofortigen Vollziehung zurück. Bei offenen Erfolgsaussichten verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung, bei der jedoch die gesetzgeberische Entscheidung, die aufschiebende Wirkung einer Klage auszuschließen, zu berücksichtigen ist.
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2. Gemessen an diesen Maßstäben ist im hier maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) von einem voraussichtlichen Erfolg der Klage der Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid auszugehen. Nach summarischer Prüfung spricht derzeit überwiegendes dafür, dass die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG und die hierauf gestützte Abschiebungsanordnung einer rechtlichen Nachprüfung voraussichtlich nicht standhalten werden und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzen.
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Die von der Antragsgegnerin im Ausgangspunkt zutreffend angenommene Zuständigkeit Kroatiens gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO (bzw. nach Meinung Kroatiens gemäß Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO) und die darauf gestützte Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG erweist sich voraussichtlich als rechtswidrig, weil im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt überwiegendes dafürspricht, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylverfahrens der Antragstellerin gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3, Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist.
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a) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Der Begriff des Vertrauens meint im konkreten Rechtskontext in einer Situation des Nichtwissens das Bestehen von Normkonformitätserwartungen des überstellenden Staates an den Zielstaat, was im Grundsatz mit Kontrollverzichten und Unbeachtlichkeitsregeln einhergeht (vgl. Lübbe, NVwZ 2017, 674/676). In diesem Sinn reicht Vertrauen so weit, bis es von entgegenstehenden Realitäten erschüttert wird (vgl. Lübbe, a.a.O.). Den nationalen Gerichten obliegt insoweit die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragstellerin führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. Regelverstöße, die Betroffene schicksalhaft treffen, sind nicht vorhersehbar und lassen sich – anders als bei regelhaft vorkommenden Rechtsverstößen – nicht verlässlich prognostizieren (vgl. Lübbe, ʹ‘Systemic Flaws’ and Dublin Transfers: Incompatible Tests before the CJEU and the ECtHR?ʹ in International Journal of Refugee Law 2015, 135/137 f.). An die Feststellung systemischer Mängel sind daher hohe Anforderungen zu stellen. Systemische Schwachstellen bzw. Mängel, die eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, liegen nur dann vor, wenn Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhafte Defizite aufweisen und als Folge davon im konkreten Fall dem Asylbewerber im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss daraus die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 57 ff. = ZAR 2024, 171 ff. m. Anm. Pfersich; BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Hiermit geht grundsätzlich ein zweistufiges Prüfprogramm einher: Die Frage des Vorliegens systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat einerseits (1. Stufe) sowie die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Verletzung des Rechts aus Art. 4 GRCh andererseits (2. Stufe), die jeweils kumulativ vorliegen müssen (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 59-62). Daher machen selbst schwerwiegende Schwachstellen oder Mängel im Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen, die nicht nur vereinzelt vorkommen (und damit „systemisch“ sind), eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht unmöglich, wenn sich daraus im konkret zu entscheidenden Einzelfall keine Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung entgegen Art. 4 GRCh ableiten lässt (vgl. NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 28; vgl. für den Fall des Vorliegens einer konkreten Garantieerklärung durch den Dublin-Zielstaat bei ansonsten vorliegenden systemischem Mangel: BayVGH, B.v. 27.2.2023 – 24 ZB 22.50056 – juris Rn. 13). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die lediglich bestimmte Personengruppen betreffen (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff. m. Anm. Hruschka; BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Andererseits kann auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im Überstellungsstaat ist (vgl. EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91-95 = NVwZ 2017, 691/695 m. Anm. Hruschka). Der rechtliche Bezug zu Art. 4 GRCh setzt dabei in jedem Fall das Erreichen einer besonders hohen Erheblichkeitsschwelle voraus. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 62 f.; BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass es ungeachtet des europarechtlichen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein kann, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen müssen (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16 m.w.N.). Insoweit kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Dublin-Rechtskontext zu berücksichtigen ist, der Grundsatz des „mutual trust“ nicht im Sinn eines „blinden Vertrauens“ zur Rechtfertigung von Überstellungen zwischen EU-Mitgliedstaaten verstanden und auch nicht „schematisch“ bzw. „mechanisch“ angewandt werden (stRspr, vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 141 m.w.N. = NVwZ 2020, 937/940; U.v. 23.5.2016 – Avotiņš/Litauen, Nr. 17502/07 = HUDOC Rn. 114-116 = NJOZ 2018, 1515/1519; U.v. 3.7.2014 – Mohammadi/Österreich, Nr. 71932/12 – HUDOC Rn. 60 = BeckRS 2014, 127908; U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – HUDOC Rn. 342 ff. = NVwZ 2011, 413 ff.). Dass gegenseitiges Vertrauen nicht mit „blindem Vertrauen“ verwechselt werden darf, hat zuletzt auch die Generalanwältin im Verfahren C-753/22 vor dem Gerichtshof der Europäischen Union dargelegt (vgl. Schlussanträge vom 25.1.2024 – C-753/22 – BeckRS 2024, 688, Rn. 41). In der zitierten Entscheidung Ilias und Ahmed/Ungarn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter Verweis auf das M.S.S.-Urteil nachdrücklich bekräftigt, dass der abschiebende Staat nicht einfach unterstellen könne, der Asylbewerber werde im Drittstaat unter Einhaltung von Konventionsgarantien behandelt, er müsse vielmehr zunächst selbst prüfen, wie die dortigen Behörden ihr Asylrecht in der Praxis anwenden (vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 141 m.w.N. = NVwZ 2020, 937/940). Bei einer zutreffenden Handhabung der mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehenden Vermutungsregel ergeben sich insofern auch keine praktischen Unterschiede zwischen den Maßstäben des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. Lübbe, ʹ‘Systemic Flaws’ and Dublin Transfers: Incompatible Tests before the CJEU and the ECtHR?ʹ in International Journal of Refugee Law 2015, 135/139).
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b) Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Kammer mit (zwischenzeitlich rechtskräftig gewordenen) Urteilen vom 22. Februar 2024, auf deren Entscheidungsgründe vollumfänglich Bezug genommen wird, entschieden, dass im Mitgliedstaat Kroatien in mehrfacher Hinsicht systemische Mängel im dortigen Asylsystem vorliegen, aus denen sich die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Verletzung des Rechts aus Art. 4 GRCh ergeben kann (M 10 K 22.50479, M 10 K 23.50597 – beide juris). Hieran ist angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklung der Erkenntnismittellage (vgl. insbesondere zuletzt AIDA [10.7.2024], Country Report Croatia, Update 2023, S. 27 f.) seit dem Ergehen der oben genannten Kammerurteile ungeachtet der vom Bundesamt in Bezug genommenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung weiter festzuhalten. Aus dem genannten Update der Asylinformationsdatenbank AIDA für das Jahr 2023 ergibt sich, dass Kroatien in den ersten zehn Monaten dieses Jahres 11.285 Wiederaufnahmegesuche nach dem bilateralen Rückübernahmeabkommen an Bosnien-Herzegowina gerichtet hat (AIDA, a.a.O., S. 27). Bosnien-Herzegowina hat etwas mehr als die Hälfte dieser Ersuchen positiv beantwortet und 2.279 Personen wurden in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023 tatsächlich dorthin rücküberstellt. An Serbien wurden im gleichen Zeitraum 663 Wiederaufnahmegesuche gerichtet und 290 Personen rücküberstellt. Unabhängig davon hat Kroatien hat in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023 insgesamt 24.968 Rückkehrentscheidungen erlassen. Nach den Informationen des Centre for Peace Studies (CPS) besteht nach Zeugenberichten Betroffener und nach Angaben von in Bosnien-Herzegowina tätiger NGOs die Besorgnis, dass Rückübernahmeprozeduren nach dem bilateralen Rückübernahmeabkommen mit Bosnien-Herzegowina entgegen der nationalen Gesetzgebung und mit der Absicht erfolgen, den Zugang zum Asylverfahren zu verweigern (AIDA, a.a.O., S. 28: „Testimonies of persons expelled by readmission, as well as information from non-governmental organizations operating in BiH, cause concern that readmission procedures are being applied contrary to legislation and with the intention of denying access to the asylum system“). Gleichzeitig lässt sich diesem Bericht und anderen Quellen entnehmen, dass die Zunahme der Anzahl der Wiederaufnahmegesuche in Korrelation mit einer gestiegenen Anzahl von Asylanträgen steht und es ungeachtet dessen im Weg des regulären Verfahrens (vgl. Art. 2 Abs. 1 des Abkommens) regelmäßig und in nicht unerheblicher Zahl zu Rücküberstellungen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina kommt (vgl. I. Tanović-Sijerčić, „Bosnien/Migration: Fegefeuer für Unerwünschte“ (8.5.2024), https://forumcivique.org/artikel/bosnien-migration-fegefeuer-fuer-unerwuenschte/ [aufgerufen 26.7.2024]: „Die Rücküberstellungen erfolgten jedoch weiterhin über die offiziellen Grenzübergänge im Norden und Nordwesten des Landes, wobei jede Woche ein bis zwei Busse mit Geflüchteten von Kroatien nach Bosnien zurückgeschickt wurden. Nach Angaben des Sicherheitsministeriums von Bosnien-Herzegowina nahm das Land im Jahr 2022 im Rahmen des Rückübernahmeabkommens mit Kroatien 836 Drittstaatsangehörige auf. Die offiziellen Daten für 2023 liegen noch nicht vor, aber es ist davon auszugehen, dass die Zahl noch viel höher liegen wird.“). Insofern ist festzuhalten, dass die nunmehr bekanntgewordenen Informationen zur Vollzugspraxis des bilateralen Rückübernahmeabkommens mit Bosnien-Herzegowina im Jahr 2023 die allgemeine Lageeinschätzung der Kammer in den Urteilen vom 22. Februar 2024 weiter stützen bzw. sogar erhärten. Zudem spricht nach dem oben zitierten Medienbericht überwiegendes dafür, dass auch die Einschätzung der Kammer zur allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage für Drittstaatsangehörige in Bosnien-Herzegowina weiter zutrifft. Damit ist derzeit weiter davon auszugehen, dass die zwischenstaatlichen Regelungsmechanismen im bilateralen Rückübernahmeabkommen mit Bosnien-Herzegowina und insbesondere die oben dargestellten Erkenntnisse zur Vollzugspraxis dieses Abkommens im Jahr 2023 die Annahme tragen, dass Asylsuchenden in Kroatien (und damit auch Rückkehrende nach dem Dublin-System, vgl. Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, von dort nach Bosnien-Herzegowina abgeschoben zu werden.
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Nach den Angaben der Antragstellerin im Rahmen ihres persönlichen Gesprächs gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin III-VO, die nach dem vorliegenden Inhalt der Behördenakte uneingeschränkt verifizierbar sind (wie insbesondere dem in der EURODAC-Ergebnismitteilung genannten Ort des Aufgriffs in Kroatien) ist davon auszugehen, dass sie auf dem Landweg unerlaubt von Bosnien-Herzegowina (als Transitland) nach Kroatien eingereist ist. Ausgehend von den verfügbaren Informationen zur Örtlichkeit des Aufgriffs der Antragstellerin können die kroatischen Behörden im Sinn des bilateralen Rückübernahmeabkommens mit Bosnien-Herzegowina „vernünftigerweise annehmen“ (vgl. Art. 2 Abs. 1 des Abkommens), dass sie unmittelbar nach der Durchquerung von Bosnien-Herzegowina unerlaubt nach Kroatien eingereist ist. T* … befindet sich im äußersten Süden Kroatiens auf halber Strecke zwischen S* … und L* … (Bosnien-Herzegowina). Unter Berücksichtigung aller relevanten Vorschriften des bilateralen Rückübernahmeabkommens kann daher Kroatien seinerseits gegenüber Bosnien-Herzegowina gemäß Art. 2 Abs. 1 des Abkommens im regulären Verfahren – flankierend durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG, gegebenenfalls auch im Weg des Art. 33 Abs. 2 Buchst. c i.V.m. Art. 39 Abs. 1 RL 2013/32/EU – erzwingen, die Antragstellerin wiederaufzunehmen. Diese Regelungsmechanismen, die vorliegend tatbestandlich einschlägig sind, begründen unter ergänzender Berücksichtigung der Erkenntnisse zur gegenwärtigen Vollzugspraxis dieses Abkommens die hinreichende bzw. beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Kettenabschiebung nach Bosnien-Herzegowina (vgl. ausführlich VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris Rn. 44 ff.). Unabhängig davon war die Antragstellerin offenbar in Kroatien bereits entwürdigenden Behandlungen durch die dortige Polizei ausgesetzt (vgl. allg. zu physischer Gewalt durch Vollzugsbeamte, insbesondere auch einer angeordneten Entkleidung: EGMR, U.v. 22.10.2020 – Roth/Deutschland, Nr. 6780/18, 30776/18, Rn. 66 ff. = NJW 2022, 35), wobei es sich entgegen der Darstellung des Bundesamts im angefochtenen Bescheid nicht um einen „Einzelfall“ durch übergriffige Beamte, sondern um ein systemisch bestehendes Phänomen/Problem handelt (vgl. VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris Rn. 41 f.; vgl. auch B.v. 17.7.2023 – M 10 S 23.50684 – juris Rn. 4: Entkleiden und Leibesvisitation unter Zuhilfenahme von Hunden vor einer Menschenmenge). Körperliche Gewalt in Form von Schlägen und eine (mehr oder weniger) zwangsweise durchgeführte Entkleidung auf einer Toilette in Anwesenheit einer Polizeibeamtin stehen mit der ursprünglich verlangten Abgabe der Fingerabdrücke bzw. deren Durchsetzung durch Verwaltungszwang in keinem sachlichen Zusammenhang und dürfte vorliegend in der konkreten Art und Weise der Durchführung unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein im Kontext des Art. 3 EMRK wohl nicht mehr hinzunehmendes Maß an Demütigung und Herabwürdigung für die Antragstellerin erreicht haben.
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Die zuletzt ergangene untergerichtliche Rechtsprechung (vgl. VG Trier, B.v. 8.7.2024 – 2 L 2699/24. TR – juris/milo; VG München, B.v. 27.6.2024 – M 3 S 24.50679 – juris/milo; VG Ansbach, B.v. 19.6.2024 – AN 17 S 24.50374 – juris; B.v. 14.6.2024 – AN 17 S 24.50376 – juris; VG Berlin, B.v. 19.6.2024 – VG 9 L 24524 A – juris/milo; VG Stade, B.v. 6.6.2024 – 3 B 857/24 – juris/milo; VG Stuttgart, B.v. 3.6.2024 – A 3 K 3377/24 – juris/milo; VG Hannover, B.v. 3.6.2024 – 15 B 1826/24 – juris/milo; VG Hamburg, B.v. 21.5.2024 – 4 AE 1583/24 – juris/milo; VG Düsseldorf, B.v. 13.5.2024 – 12 L 984/24.A – juris/milo; VG Würzburg, B.v. 7.5.2024 – W 7 S 24.50124 – juris/milo), auf die sich das Bundesamt zuletzt an verschiedener Stelle bezogen hat, vermag am obigen Befund nichts zu ändern bzw. zieht die von der 10. Kammer ausgewerteten Erkenntnismittel und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen nicht substantiell in Zweifel. Ein Großteil der vom Bundesamt angeführten Entscheidungen erwähnt die Urteile der Kammer vom 22. Februar 2024 bereits lediglich im Rahmen umfänglicher Referenzen auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, ohne sich substantiell deren wesentlichen Argumentationssträngen auseinanderzusetzen. Soweit sich das Bundesamt und einzelne der oben genannten Entscheidungen mit Gegeneinwänden gegen die Rechtsprechung der 10. Kammer zum Mitgliedstaat Kroatien beziehen, vermögen diese sämtlich nicht zu überzeugen. Soweit vertreten wird, die Kammerurteile der 10. Kammer stünden „in besonderer Divergenz“ (so VG Sigmaringen, B.v. 23.4.2024 – A 14 K 2421/23 – juris/milo BA S. 13) zu denjenigen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 11. Mai 2023 (A 4 S 2666/22 – juris), wird in unzutreffender Weise unterstellt, dass die Urteile der 10. Kammer bei inhaltlich identischer Tatsachengrundlage lediglich eine andere Rechtsauffassung als im Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vertreten hätten. Dies trifft nicht zu, da aus einer Gegenüberstellung der Entscheidungsgründe der Kammerurteile vom 22. Februar 2024 mit der Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 11. Mai 2023 samt dem jeweils verwerteten Quellenmaterial bzw. den zugrunde gelegten Tatsachen (wozu gerade auch das einschlägige ausländische Recht und dessen Einordnung im Verhältnis zum verwerteten Quellenmaterial zählt, vgl. BVerwG, B.v. 5.3.2018 – 1 B 155.17 – juris Rn. 4; U.v. 19.7.2012 – 10 C 2.12 – juris Rn. 14) allein schon anhand der Referenzen sowie der Heranziehung des einschlägigen ausländischen Rechts unschwer zu erkennen ist, dass dies nicht der Fall ist. Nicht zuletzt die Ausführungen in diesem Beschluss zur aktuellen Vollzugspraxis des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina im Jahr 2023 unter Auswertung des zuletzt veröffentlichten Updates des Asylinformationsdatenbank AIDA verdeutlichen dies.
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Ganz grundsätzlich ist dabei die (vom Verwaltungsgericht Würzburg verneinte) Frage, ob im Weg der Dublin III-VO rücküberstellte Personen „tatsächlich einem von Kroatien geschlossenen bilateralen Rückübernahmeabkommen unterfallen“ (VG Würzburg, B.v. 7.5.2024 – W 7 S 24.50124 – juris/milo BA S. 15 f.), richtigerweise durch die Heranziehung und Auslegung des einschlägigen Vertragstexts einschließlich jeder späteren Übung bei der Anwendung dieses Abkommens (vgl. Art. 31 Abs. 3 Buchst. b WVK) und jedes einschlägigen Völkerrechtssatzes zwischen den Vertragsparteien (vgl. Art. 31 Abs. 3 Buchst. c WVK) zu beantworten (vgl. VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris Rn. 24 f., 31 f., 44 ff.), wobei sich, wie oben ausgeführt, dem zuletzt veröffentlichten Update der Asylinformationsdatenbank AIDA maßgebliche Erkenntnisse entnehmen lassen. Die gegenteilige Vermutung der 17. Kammer des Verwaltungsgerichts Ansbach, es lägen schon keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das bilaterale Abkommen zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina überhaupt (noch) vollzogen werde, weil es vor dem EU-Beitritt Kroatiens abgeschlossen worden sei (vgl. VG Ansbach, B.v. 19.6.2024 – AN 17 S 24.50374 – juris Rn. 23), erweist sich jedenfalls mit den oben angeführten Erkenntnismitteln als nicht tragfähig. Die Argumentation der 17. Kammer des Verwaltungsgerichts Ansbach blendet aus, dass es bereits seit dem Jahr 2023 für das Vorjahr in der Erkenntnismittellage Hinweise für einen europarechtswidrigen Vollzug des bilateralen Rückübernahmeabkommens mit Bosnien-Herzegowina in der Absicht gab, Asylsuchenden den Zugang zum Asylverfahren in Kroatien (vgl. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU) systematisch zu erschweren bzw. sogar explizit zu verweigern (etwa AIDA Update vom 26.6.2023 bezüglich Kroatien; HRW, „Like We Were Just Animals“). Dabei ist auch nochmals klarzustellen bzw. zu betonen, dass es in diesem Zusammenhang nicht um gewaltsame „Push-Backs“ an der Grenzlinie bzw. im grenznahen Bereich zu Bosnien-Herzegowina geht. Die 10. Kammer hat in ihren Kammerurteilen vom 22. Februar 2024 auch nicht entscheidungstragend darauf abgestellt, dass „Push-Backs“ im Grenzbereich die beachtlich wahrscheinliche Gefahr von Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina begründen würden (vgl. auch zuletzt EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 57 ff. = ZAR 2024, 171 ff. m. Anm. Pfersich), sondern unter Heranziehung gerade auch der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32-34) und anderer Obergerichte (vgl. HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 48-51; OVG Saarl, U.v. 9.3.2017 – 2 A 364/16 – juris Rn. 28; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 48-52) darauf abgestellt, dass das regelhafte Stattfinden von Rücküberstellungen vom Dublin-Zielstaat in einen Nicht-EU-Drittstaat aufgrund eines völkerrechtlichen bilateralen Rückübernahmeabkommens im rechtlichen Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO beachtlich ist. Welche konkrete Entscheidungsform (Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG mit oder ohne asylrechtliche Drittstaatenentscheidung) dem Vollzug eines Rücküberstellungsgesuchs nach dem Rückübernahmeabkommen vorausgeht, ist dabei auch letztendlich nicht entscheidungserheblich, solange es Kroatien nach den aus dem letzten AIDA-Update zu entnehmenden Informationen erkennbar darauf ankommt, Drittstaatsangehörige regelhaft nach Bosnien-Herzegowina zu überstellen und ihnen dabei zugleich den Zugang zum Asylverfahren abzuschneiden. Da der Vollzug des Rückübernahmeabkommens die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und damit das Refoulement-Verbot nicht berühren soll (vgl. Art. 17 Abs. 2), ist auch nicht davon auszugehen, dass Kroatien offen eingestehen würde, Rücküberstellungen in einen an die EU angrenzenden Drittstaat vorzunehmen, den es selbst nicht als „sicher“ betrachtet (vgl. auch Art. 5 RL 2008/115/EG und Art. 39 Abs. 2 RL 2013/32/EU, vgl. zu Letzterem auch Vedsted-Hansen in Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Aufl. 2022, Art. 39 RL 2013/32/EU Rn. 3). Was diese und die vorgehenden Ausführungen zur Vollzugspraxis, die sich an den Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention (vgl. Art. 31 Abs. 3 Buchst. b und Buchst. c WVK) orientieren, mit einer „Überinterpretation“ (VG Ansbach, a.a.O., Rn. 23) des Rückübernahmeabkommens zu tun haben sollen, wird vom Verwaltungsgericht Ansbach weder nachvollziehbar noch überzeugend begründet. Das Verwaltungsgericht Ansbach setzt sich mit der naheliegenden rechtlichen Einordnung der gegenwärtigen kroatischen Staatspraxis in Bezug auf das bilaterale Rückübernahmeabkommen nicht auseinander und übergeht insofern auch den Umstand, dass die kroatische Staatspraxis auf eine rechtliche Grundüberzeugung zurückgeht, Bosnien-Herzegowina als „sicher“ unter dem Gesichtspunkt des in der Genfer Flüchtlingskonvention niedergelegten Refoulement-Verbots zu betrachten (vgl. Art. 17 Abs. 2 des Rückübernahmeabkommens). Angesichts der zusammenhängenden Bedeutung des Refoulement-Verbots als völkerrechtlichen Rechtssatz und der Anwendung des sicheren Drittstaatsprinzips (vgl. mit näheren Ausführungen die parlamentarische Versammlung des Europarats [PACE], „Readmission agreements: a mechanism for returning irregular migrants“, Rn. 6, 6.6, abrufbar unter https://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp?fileid=17874& lang=en) kann die gegenteilige (sinngemäße) Darstellung des Verwaltungsgerichts Ansbach, der Vollzug eines bilateralen Rückübernahmeabkommens habe nichts mit einer Anwendung des sicheren Drittstaatsprinzips zu tun, nicht überzeugen (vgl. anders auch B. Nur Osso, ʹUnpacking the Safe Third Country Concept in the European Union: B/orders, Legal Spaces, and Asylum in the Shadow of Externalizationʹ in International Journal of Refugee Law 2023, 272 ff. [abrufbar unter https://doi.org/10.1093/ijrl/eead028]; Guiffré, The Readmission of Asylum Seekers under International Law [Hart Publishing, 2020], S. 151 ff.; S. 187; s. auch PACE, a.a.O., Rn. 7.7).
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Zuletzt ist auch der Einwand, die „abstrakte Möglichkeit der Anwendung“ der zwischenstaatlichen Regelungen bilateralen Rückübernahmeabkommen Kroatiens mit Serbien und Bosnien-Herzegowina reiche generell nicht für die Annahme systemischer Mängel aus (so zuletzt VG Trier, B.v. 8.7.2024 – 2 L 2699/24. TR – juris/milo), wohl nicht mit der von der Kammer herangezogenen obergerichtlichen Rechtsprechung aus den Jahren 2016 und 2017, aus der sich verallgemeinerungsfähige Rechtssätze zur Relevanz von bilateralen Rückübernahmeabkommen im Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO ableiten lassen (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32-34: „die Gesetzeslage“, „gesetzliche[n] Zulässigkeit einer Abschiebung“; HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 48-51; OVG Saarl, U.v. 9.3.2017 – 2 A 364/16 – juris Rn. 28; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 48-52), in Einklang zu bringen. Da rückkehrende Asylsuchende nach dem Dublin-System nach ihrer Ankunft im Zielstaat wie Erstantragstellende auf internationalen Schutz (vgl. Art. 2 Buchst. b RL 2013/32/EU) zu behandeln sind (vgl. Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO), sind irgendwie geartete Überlegungen, Dublin-Rückkehrende als eigenständige/losgelöste Personengruppe aus dem Kreis aller Asylsuchenden in Kroatien zu definieren, mit dieser Vorschrift nicht in Einklang zu bringen. Insofern überspannt das von anderen Verwaltungsgerichten in der Sache angenommene Beweiserfordernis, die Vollzugspraxis des bilateralen Rückübernahmeabkommens mit Bosnien-Herzegowina müsse sich nicht nur allgemein auf Asylsuchende, sondern explizit auch auf rückgeführte Personen nach Kroatien im Weg der Dublin III-VO erstrecken, nicht nur die vom Bundesverwaltungsgericht zusammengefassten Gefahrenmaßstäbe zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit (U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 14: „[e]in eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis […] [kann] nicht verlangt werden“). Sie misst damit zugleich auch Rückgeführten nach der Dublin III-VO im Vergleich zu anderen Asylsuchenden in Kroatien (gemeint: die bereits dort sind, ein Asylgesuch geäußert haben und nicht weitergereist sind) einen höherwertigeren Rechtsstatus zu, der in Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO keine normative Anknüpfungsgrundlage und auch keine Stütze in der zu Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 i.V.m. Art. 2 Buchst. b RL 2013/32/EU ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union findet (vgl. EuGH, U.v. 9.9.2021 – C-768/19 – juris Rn. 49; U.v. 17.12.2020 – C-808/18, Kommission/Ungarn – juris Rn. 89 f.). Anders ausgedrückt: Auch Drittstaatsangehörige, die in Kroatien bislang „nur“ ein Asylgesuch geäußert haben und nach den Erkenntnismitteln vom Vollzug des bilateralen Rückübernahmeabkommens betroffen sind, gelten als im unionsrechtlichen Sinn als Antragsteller (Art. 2 Buchst. b RL 2013/32/EU) – ebenso wie rückgeführte Personen nach der Dublin III-VO, die nach Ankunft in Kroatien erklären (müssen), ihr (zwischenzeitlich eingestelltes) Asylverfahren wiederaufnehmen zu wollen. Insofern ist die in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung immer wieder anzutreffende Ausführung, dass „Dublin-Rückkehrer im kroatischen Asylsystem bereits registriert“ seien, im rechtlichen Kontext des Art. 2 Buchst. b RL 2013/32/EU ohne Bedeutung und blendet überdies den Umstand aus, dass nach der Standard-Mitteilung Kroatiens auf Wiederaufnahmegesuche der Antragsgegnerin die Asylverfahren in Kroatien regelmäßig eingestellt oder in absentia negativ entschieden worden sind. Aus diesem Grund dürfte auch zu erklären sein, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beim regelhaften Stattfinden von Abschiebungen vom Dublin-Zielstaat in einen Nicht-EU-Drittstaat die Beweislast für die Behauptung, eine im Weg des Dublin-Systems rückgeführte Person sei von einer derartigen Vollzugspraxis nicht betroffen, beim Bundesamt gesehen hat (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 34 a.E.). Mit dieser Rechtsprechung hat sich bislang weder das Bundesamt noch die von ihr in Bezug genommenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen ausreichend auseinandergesetzt. Das Gericht merkt vorsorglich an, dass sich das Bundesamt wohl früher oder später nicht nur mit der oben genannten Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2017 (13a B 17.50003 – juris Rn. 34 a.E.), sondern generell auch mit den neueren, hier herangezogenen Erkenntnismitteln wie etwa dem AIDA-Update vom 10. Juli 2024 (S. 27 u. S. 28) befassen müssen wird (vgl. zum Darlegungsgebot im Berufungszulassungsverfahren bereits BayVGH, B.v. 4.3.2024 – 24 ZB 24.30079 – juris Rn. 5).
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c) Ob die Unzulässigkeitsentscheidung vorliegend auch aufgrund einer möglichen vorrangigen Zuständigkeit der Antragsgegnerin aus Art. 10 Dublin III-VO bzw. die Abschiebungsanordnung aufgrund eines inländischen Abschiebungshindernisses (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) rechtswidrig sind (vgl. insofern zur Prüfungskonzentration von zielstaats- und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen beim Bundesamt: BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 11), kann nach den vorstehenden Ausführungen für das vorliegende Verfahren zunächst dahingestellt bleiben. Ob die Antragstellerin und ihr Lebensgefährte nach türkischem Recht rechtswirksam die Ehe eingegangen sind (vgl. Art. 13 Abs. 1 EGBGB), wäre gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren zu klären, sofern sich die Frage des Erfolgs im Klageverfahren nicht mehr anhand der Frage des Zuständigkeitsübergangs nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO entscheiden sollte.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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4. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 80 AsylG).