Inhalt

VGH München, Beschluss v. 02.08.2024 – 15 ZB 24.196
Titel:

Neuerrichtung eines Wohngebäudes und Gebot des "Einfügens"

Normenketten:
VwGO § 122 Abs. 2 S. 3, § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3
BauGB § 31, § 34 Abs. 1 S. 1, § 34 Abs. 3a S. 1 Nr. 1 lit. b, Nr. 2, Nr. 3
Leitsätze:
1. Die Neuerrichtung eines zuvor nicht vorhandenen Wohngebäudes kann nicht nach § 34 Abs. 3a BauGB zugelassen werden. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist höchstgerichtlich geklärt, dass § 31 BauGB nicht auf § 34 Abs. 1 BauGB anwendbar ist (BVerwG BeckRS 1979, 890). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wohngebäude in zweiter Reihe, Abweichung vom Erfordernis des Einfügens, Wohngebäude, Ersterrichtung, Gebot des Einfügens, Innenbereich, ernstliche Zweifel, Zulassungsantrag
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 12.10.2023 – RO 7 K 20.1513
Fundstelle:
BeckRS 2024, 20337

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 50.000…. Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Klägerin plant, das im nördlichen Bereich ihres Grundstücks bestehende Wohngebäude abzureißen und dort ein neues Einfamilienhaus in erster Reihe (Haus B) sowie im südlichen Bereich des Grundstücks ein Mehrfamilienhaus (Haus A) in zweiter Reihe zu errichten. Mit dem streitgegenständlichen Vorbescheid wurde durch die Beklagte die Bebauung des Grundstücks mit dem Haus B für zulässig erklärt und die Bebauung mit dem Haus A versagt.
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Die gegen die Versagung gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 12. Oktober 2023 abgewiesen. Das Vorhaben füge sich in Bezug auf das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen, die das Grundstück prägende faktische Baugrenze und die Bebauungstiefe nicht in die nähere Umgebung ein. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht. In rechtlich nicht zu beanstandender Weise ist das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erteilung des beantragten Vorbescheids hinsichtlich der Feststellung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit eines Mehrfamilienhauses in zweiter Reihe. Das Vorhaben füge sich insoweit nicht gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein und löse bodenrechtliche Spannungen aus. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen deshalb zunächst gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug auf die zutreffenden Gründe und sieht von einer weiteren Begründung ab. Lediglich ergänzend bleibt im Hinblick auf das Zulassungsvorbringen folgendes zu bemerken:
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Das Verwaltungsgericht hat nach den bei der Inaugenscheinnahme gewonnenen Eindrücken und anhand der gefertigten Lichtbilder sowie der Luftbilder und des topographischen Kartenmaterials zur Bestimmung des Maßes der baulichen Nutzung auf die – jeweils genauer eingegrenzte – Bebauung nördlich der D. …straße und die Bebauung südlich der A. …straße abgestellt (UA S. 9). Soweit die Klägerin vorträgt, dieser Rahmen sei unzutreffend, kommt es darauf im Rahmen der Prüfung des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht an. Denn das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Gründe gestützt. Es hat daneben – jeweils selbständig tragend – ausgeführt (UA S. 11), dass „das Vorhaben auch in Bezug auf die überbaubaren Grundstücksflächen nicht mehr innerhalb des Rahmens der vorhandenen Bebauung in der näheren Umgebung“ liegt. Das geplante Mehrfamilienhaus in zweiter Reihe überschreite ferner die faktische Baugrenze (UA S. 12) und auch die für das Baugrundstück nach der prägenden Umgebung maßgebliche Bebauungstiefe (UA S. 14). Es hat hierbei jeweils unter Würdigung des Einzelfalls die nähere Umgebung zutreffend für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB angeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert ermittelt (vgl. BVerwG, B.v. 4.1.2022 – 4 B 35.21 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 19.8.2022 – 15 ZB 22.1400 – juris Rn. 11). Eine Zulassung der Berufung kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn hinsichtlich jeder der selbständig tragenden Begründungen ein Zulassungsgrund dargelegt wird und vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2021 – 15 ZB 21.2277 – juris Rn. 6). In der Zulassungsbegründung trägt die Klägerin zwar zur Bestimmung der maßgeblichen Umgebung für die Beurteilung des Einfügens des Vorhabens nach dem Maß der baulichen Nutzung (Grundfläche, Geschossfläche, Höhe) vor. Sie geht aber nicht auf die weiteren tragenden Gründe des Verwaltungsgerichts ein, wonach sich das Vorhaben im Hinblick auf die überbaubaren Grundstücksflächen, namentlich die Baugrenzen und die Bebauungstiefe, nicht in die nähere Umgebung einfügt. Auch mit ihrem Schriftsatz vom 8. Mai 2024 tritt sie den zutreffenden Gründen des Verwaltungsgerichts insoweit nicht substantiiert entgegen. Sie übersieht, dass das Verwaltungsgericht für die Beurteilung der überbaubaren Grundstücksflächen – wie oben ausgeführt, zutreffend – von einer anderen maßgeblichen Umgebung ausgegangen ist als beim Maß der baulichen Nutzung. Auf die vom Verwaltungsgericht auch bei Einhaltung des Rahmens zudem angeführten bodenrechtlichen Spannungen (UA S. 14 f.) geht das Zulassungsvorbringen ebenfalls nicht ein.
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Entgegen der Auffassung der Klägerin ist auch ein Abweichen vom Gebot des Einfügens nach § 34 Abs. 3a Satz 1 Nr. 1 Buchst. b, 2, 3 BauGB nicht möglich, weil das geplante Mehrfamilienhaus im rückwärtigen Teil des Baugrundstücks ersichtlich keine bloße Erweiterung des bereits vorhandenen Einfamilienhauses darstellt. Zwar kann nach § 34 Abs. 3a Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BauGB vom Erfordernis des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung nach Absatz 1 Satz 1 im Einzelfall abgewichen werden, wenn die Abweichung der Erweiterung, Änderung oder Erneuerung eines zulässigerweise errichteten, Wohnzwecken dienenden Gebäudes dient, städtebaulich vertretbar und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
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Die Neuerrichtung eines zuvor nicht vorhandenen Wohngebäudes kann aber nicht nach § 34 Abs. 3a BauGB zugelassen werden (BayVGH, B.v. 30.3.2015 – 2 ZB 13.1962 – juris Rn. 14). Demnach muss ein Wohnzwecken dienendes Gebäude vorhanden sein, auf das sich die genannten Vorhaben Erweiterung, Änderung und Erneuerung beziehen müssen (Vorhaben im Zusammenhang mit dem vorhandenen Gebäudebestand). Es bedarf also einer bestimmten Übereinstimmung (Identität) des durch das Vorhaben entstehenden neuen Gesamtvorhabens mit dem vorhandenen Bestand (Altbestand). Eine Erweiterung setzt einen funktionalen und baulichen Zusammenhang zwischen dem vorhandenen Gebäude und der vorgesehenen baulichen Erweiterung voraus; ein vom vorhandenen Gebäude getrenntes Gebäude ist keine Erweiterung. Bei einer grundsätzlich möglichen Kombination von Erneuerung und Erweiterung darf kein Baukörper entstehen, der sich nach Standort und Bauvolumen als anderer Baukörper darstellt, der nicht mehr dem Zweck des § 34 Abs. 3a Satz 1 Nr. 1 Buchst. b – Vorhaben im Zusammenhang mit vorhandenem Wohnzwecken dienendem Gebäude – entspricht. Die Erweiterung unter Beseitigung der bisherigen baulichen Anlage mit anschließender Neuerrichtung darf nicht dazu führen, dass das genehmigte Bauwerk ein aliud zu dem früheren Gebäude darstellt (so auch Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Januar 2024, § 34 Rn. 88a f.; BayVGH, B.v. 30.3.2015 – 2 ZB 13.1962 – juris Rn. 14).
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Gemessen an diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen des § 34 Abs. 3a BauGB nicht gegeben. Es liegt, anders als die Klägerin meint, keine Verbindung einer Erneuerung mit einer Erweiterung vor, die sich nicht nur auf das Einfamilienhaus, sondern auch auf das Mehrfamilienhaus bezieht. Wie sich aus den Plänen in den Behördenakten ergibt, soll zwar das im nördlichen Bereich des Grundstücks bestehende Wohngebäude abgerissen und durch ein neues Wohngebäude (Haus B) im nördlichen Bereich ersetzt werden. Im südlichen, bisher unbebauten, als Garten genutzten Bereich soll aber ein völlig neues Mehrfamilienhaus (Haus A) entstehen, das in keinem Zusammenhang mit dem vorhandenen Gebäudebestand steht. Die in den Plänen eingezeichneten Nebenanlagen genügen nicht, um einen funktionalen und baulichen Zusammenhang i.S.d. § 34 Abs. 3a BauGB herstellen zu können. Für eine verfassungskonforme Auslegung des § 34 BauGB in Anbetracht der Wohnungsnot gibt es keine Anhaltspunkte.
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2. Die Rechtssache weist auch nicht die geltend gemachten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) auf. Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, ist der Sachverhalt des vorliegenden Falles geklärt und lässt sich ohne weiteres anhand der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften beurteilen.
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3. Schließlich hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung verlangt, dass eine Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich, bislang höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist; die Frage muss ferner im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer berufungsgerichtlichen Klärung zugänglich sein und dieser Klärung auch bedürfen (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 22.1.2019 – 5 B 1.19 D – juris Rn. 2 m.w.N.; B.v. 25.8.2015 – 1 B 40.15 – BayVBl 2016, 104 Rn. 6 m.w.N.; BayVGH, B.v. 4.6.2018 – 14 ZB 17.390 – juris Rn. 14 m.w.N.). Um den auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer fristgemäß (1.) eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, (2.) ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, (3.) erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und (4.) darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 7.2.2017 – 14 ZB 16.1867 – juris Rn. 15 m.w.N.).
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Die Frage, „inwieweit § 31 Abs. 3 BauGB, der in Gebieten mit angespannten Wohnungsmarkt nach § 201a BauGB eine Befreiungsmöglichkeit von den Festsetzungen im Bebauungsplan für Wohnungsvorhaben vorsieht, entsprechend auf § 34 BauGB anwendbar ist“, ist nicht klärungsbedürftig. Es ist höchstgerichtlich geklärt, dass § 31 BauGB nicht auf § 34 Abs. 1 BauGB anwendbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.5.1979 – IV C 23.76 – juris Rn. 19; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Januar 2024, § 31 Rn. 19). Zudem ist eine Befreiung ausgeschlossen, wenn das Vorhaben in seiner Umgebung nur durch Planung zu bewältigende Spannungen hineinträgt (vgl. BVerwG, U.v. 2.2.2012 – 4 C 14.10 – juris Rn. 22). Bodenrechtlich relevante Spannungen hat das Verwaltungsgericht hier aber gerade festgestellt (UA S. 14 f.). Die nach § 31 Abs. 3 BauGB erforderliche grundstücksbezogene Besonderheit (vgl. BVerwG, U.v. 24.4.2024 – 4 C 2.23 – juris Rn. 27) ist zudem weder dargelegt noch ersichtlich.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.2 und 9.1.1.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung von 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).