Titel:
Einwände gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung
Normenketten:
GG Art. 103 Abs. 1
BV Art. 91 Abs. 1
VwGO § 58, § 108 Abs. 2, § 149 Abs. 1 S. 2, § 152 Abs. 1, § 152a
Leitsätze:
1. Eine Rechtsmittelbelehrung, die § 58 VwGO für alle ordentlichen Rechtsbehelfe vorschreibt, ist bei der Anhörungsrüge, bei der es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt, nicht erforderlich. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör vermittelt keinen Schutz davor, dass ein Gericht dem Vorbringen von Beteiligten nicht folgt beziehungsweise dieses aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts nicht weiter aufnimmt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anhörungsrüge, Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung, Anspruch auf rechtliches Gehör, Akteneinsicht, tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung, Ausweisungsverfahren, Strafverfahren, Rechtsmittelbelehrung, außerordentlicher Rechtsbehelf
Fundstelle:
BeckRS 2024, 20319
Tenor
I. Die Anhörungsrüge wird verworfen.
II. Damit erledigt sich der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Anhörungsrügeverfahrens.
Gründe
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1. Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbaren Beschluss des Senats vom 12. Juni 2024 ist bereits unzulässig, weil verfristet. Nach § 152a Abs. 2 Satz 1 VwGO ist die Rüge innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben; der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Der Beschluss des Senats wurde der Klägerbevollmächtigten ausweislich der Empfangsbekenntnis am Mittwoch, den 19. Juni 2024, zugestellt. Die Anhörungsrüge ging jedoch erst am Donnerstag, den 4. Juli 2024, und damit einen Tag zu spät bei Gericht ein. Hat ein Verfahrensbeteiligter mehrere Bevollmächtigte und wird an jeden von ihnen eine Zustellung vorgenommen, so ist für den Fristbeginn die zeitlich zuerst bewirkte Zustellung maßgebend (Schoch/Schneider/Meissner/Schenk, Verwaltungsrecht, Stand Januar 2024, § 57 Rn. 21, 22). Auf einen eventuellen späteren Zugang des Beschlusses beim weiteren Bevollmächtigten kommt es somit nicht an. Eine Rechtsmittelbelehrung, die § 58 VwGO für alle ordentlichen Rechtsbehelfe vorschreibt, ist bei der Anhörungsrüge, bei der es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt, nicht erforderlich (BVerwG, B.v. 29.7.2009 – 5 B 46/09 u.a. – juris; BayVGH, B.v. 6.7.2011 – 22 ZB 11.1512 – juris Rn. 2).
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2. Im Übrigen wäre die Anhörungsrüge auch unbegründet. Der vorgenannte Beschluss des Senats verletzt den Kläger nicht im Sinne von § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO in entscheidungserheblicher Weise in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.
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a) Nach § 152a Abs. 1 Satz 1 VwGO ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist (Nr. 1) und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (Nr. 2). Die Anhörungsrüge stellt keinen Rechtsbehelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung dar.
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Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör, das verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 91 Abs. 1 BV sowie einfachgesetzlich in § 108 Abs. 2 VwGO garantiert ist, sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung, so dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395 <409> = juris Rn. 42; BayVGH, B.v. 18.4.2019 – 5 ZB 19.50014 – juris Rn. 7). Ein Gehörsverstoß liegt deshalb nur vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist, ohne dass es unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133/146 = juris Rn. 39; B.v. 22.11.2005 – 2 BvR 1090/05 – juris Rn. 26; B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – juris Rn. 45).
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Einwände gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt können die Annahme eines Gehörsverstoßes hingegen nicht begründen. Dahinter steht die Erwägung, dass diese grundsätzlich dem materiellen Recht zuzuordnen ist (vgl. BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 14.14 – juris Rn. 8). Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör vermittelt keinen Schutz davor, dass ein Gericht dem Vorbringen von Beteiligten nicht folgt beziehungsweise dieses aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts nicht weiter aufnimmt (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60, 305 <310> = juris Rn. 15). Art. 103 Abs. 1 GG statuiert auch keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts (vgl. BVerfG, B.v. 5.3.2018 – 1 BvR 1011/17 – juris Rn. 16; B.v. 29.5.1991 – 1 BvR 1383/90 – BVerfGE 84, 188 <190> = juris Rn. 7; B.v. 25.1.1984 – 1 BvR 272/81 – BVerfGE 66, 116 <147> = juris Rn. 77).
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b) Gemessen daran hat der Kläger eine Gehörsverletzung nicht dargelegt, sondern wendet sich im Wesentlichen gegen die rechtliche und tatsächliche Würdigung seines Vorbringens durch den Senat.
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Die Klägerseite trägt wie bereits im Zulassungsverfahren vor, dass der Ehefrau des Klägers im Strafverfahren zu Unrecht Akteneinsicht gewährt worden und nur deshalb ihre Aussage konsistent und glaubwürdig gewesen sei, die Gewährung von Akteneinsicht gegen Rechte des Beschuldigten und gegen obergerichtliche Rechtsprechung verstoßen habe, der Beschuldigte vor Gewährung von Akteneinsicht nicht gehört worden sei und das Gericht deswegen – auch aus Gründen des strafrechtlichen Urteils – keine Veranlassung gesehen habe, im Ausweisungsverfahren erneut die Strafbarkeit zu überprüfen, und die damalige Nebenklägerin zu vernehmen, sowie dass eine (Aufklärungspflicht-)Verletzung (wegen unterlassener Einvernahme der Nebenklägerin durch das Gericht) durch das Obergericht abgelehnt worden sei, da kein Beweisantrag gestellt worden sei. Damit rügt die Klägerseite nicht einmal, dass der Senat im Zulassungsverfahren Vorbringen des Klägers nicht zur Kenntnis genommen habe. Der Senat hat vielmehr das Vorbringen im angegriffenen Beschluss umfassend gewürdigt (zur Akteneinsicht und Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin: BA S. 10, zu Aufklärungspflicht und zum fehlenden Beweisantrag: BA S. 12, 13, zur erneuten Überprüfung der Strafbarkeit des Klägers im Ausweisungsverfahren: BA S. 6 ff.). Soweit die Klägerseite vorträgt, dass es für die Nebenklägerin von Vorteil gewesen sei, gegen den Kläger auszusagen, diese deshalb eine Aufenthaltserlaubnis erhalten habe und zumindest deren Akte beigezogen oder die Nebenklägerin als Zeugin vernommen hätte werden müssen, was das Obergericht nicht für notwendig erachtet habe, wird damit auch nicht geltend gemacht, dass der Senat Ausführungen des Klägers nicht beachtet habe. Vielmehr hat sich der Senat auch insoweit mit den vorgetragenen Einwänden im angegriffenen Beschluss ausführlich auseinandergesetzt (BA S. 12).
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3. Das Eilrechtsschutzgesuch mit Schriftsatz vom 11. Juli 2024, das als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 152a Abs. 6 i.V.m. § 149 Abs. 1 Satz 2 VwGO auszulegen ist, hat sich mit der Verwerfung der Anhörungsrüge erledigt.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO entsprechend in Verbindung § 3 Abs. 2 GKG sowie Nr. 5400 KV. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es demnach nicht. Weil das Aussetzungsverfahren ein unselbstständiges Zwischenverfahren ist, bedarf es keiner Kostenentscheidung (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl.2022, § 149 Rn. 4).
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Dieser Beschluss ist nach § 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO unanfechtbar.