Titel:
Internationale Zuständigkeit für Klagen gegen Verbraucher
Normenketten:
ZPO § 1061
Art. 17 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1, Abs. 2 VO (EU) 1215/2012
Rom-I-Verordnung Art. 6
Leitsätze:
1. Die Anerkennung eines ausländischen Schiedsspruchs setzt voraus, dass dieser verbindlich und abschließend ist. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Verbrauchergerichtsstand des Art. 18 Abs. 2 Brüssel Ia-VO ist ausschließlich und verdrängt in seinem Anwendungsbereich den deliktischen (Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO). (Rn. 59) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Ausschluss der Finanzinstrumente vom Geltungsbereich des Art. 6 der Rom-I-Verordnung wirkt sich nicht auf die Einstufung einer Person als „Verbraucher“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1215/2012 aus. (redaktioneller Leitsatz)
4. Auch bei einer negativen Feststellungsklage gegen den Verbraucher kommt Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 und nicht Art. 18 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012 zur Anwendung. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
anderweitige Rechtshängigkeit, Schiedsspruch, internationale Zuständigkeit, Verbraucher, negative Feststellungsklage
Fundstellen:
BKR 2024, 301
LSK 2024, 2026
BeckRS 2024, 2026
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerinnen haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 82.755,61 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Klägerin zu 1) ist eine in München ansässige, von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht beaufsichtigte Wertpapierhandelsbank. Bei ihr können Kunden spekulative Handelsgeschäfte in Finanzderivaten, auch sog. CDF-Trading, durchführen. Beim CDF-Trading werden Derivate erworben, die von der Kursentwicklung eines bestimmten Basiswerts (z.B. eines Rohstoffs) abhängen. Die Investoren können hierbei auf steigende oder fallende Kurse des Basiswerts setzen. Hierbei können größere Geldbeträge eingesetzt werden, als man zur Verfügung hat. Abgesichert werden diese Geschäfte über ein sog. Margin. Dies ist der Betrag, der zur Absicherung der Geschäfte hinterlegt werden muss. Um CDF-Tradings vornehmen zu können, müssen die Kunden eine spezielle von der Klägerin zu 1) zur Verfügung gestellte Software auf ihren Computer laden und ein Konto bei der Klägerin zu 1) eröffnen. Auf dieses Konto ist das Margin einzubezahlen. Mithilfe der Software können die Kunden sodann die Handelsgeschäfte über die Klägerin zu 1) abwickeln. Hierzu ist kein Kontakt zu Mitarbeitern der Klägerin zu 1) notwendig, sondern die Geschäfte werden online abgeschlossen.
2
Die Klägerin zu 2) ist jedenfalls auch in Tschechien für die Klägerin zu 1) als Vermittler tätig, um Kunden zu generieren. Die Vermittlung erfolgt in Tschechien durch sog. vertraglich gebundene Vertriebspartner. Dies war u.a. die in Tschechien ansässige Firma … Grundsätzlich wirbt die Klägerin zu 2) bzw. deren vertraglich gebundene Vertriebspartner auf allen Kanälen um Kontakte, sei es durch Veröffentlichung auf sozialen Netzwerken, in Zeitungen, Zeitschriften und Videokanälen. Die Klägerin zu 2) kann auch nicht ausschließen, dass die gebundenen Vertriebspartner ein sog. „cold calling“ betreiben, also potentielle Kunden anrufen, ohne mit diesen vorher jemals in Kontakt gestanden zu sein. Im konkreten Fall hat die Klägerin zu 2) bzw. deren vertraglich gebundener Betriebspartner … die Vermittlung des Beklagten an die Klägerin zu 1) übernommen.
3
Der Beklagte ist tschechischer Staatsangehöriger und in Tschechien wohnhaft. Er hat in Tschechien eine sog. Wirtschaftsschule und sodann eine zweijährige Aufbauschule EDV besucht. Er verfügt über eine Fachhochschulreife. Er ist in Tschechien in einem privaten Dialysezentrum beschäftigt. Dort gehört es zur Aufgabe des Beklagten die Patienten zu wickeln und zu wiegen, ferner sie umzubetten und wieder zum Krankenwagen zu geleiten.
4
Im Mai 2018 rief den Beklagten eine namentlich nicht bekannte Frau an und bot dem Beklagten Investitionen in Aluminium mit einer Rendite von 30 % an. Es handelte sich um hoch spekulative Differenzkontrakte (CDF-Trading). Der Beklagte erklärte sich damit einverstanden, dass die Anruferin das Weitere veranlasse, damit er künftig derartige Transaktionen vornehmen könne. Anschließend rief den Beklagten ein … an. Die Klägerinnen können nicht ausschließen, dass dieser bei der Fa. … tätig war. Gemeinsam mit diesem füllte der Beklagte am 16.05.2018 einen online Antrag zur Eröffnung eines CFD- und Forexkontos bei der Klägerin zu 1) aus. Ausweislich des Kontoeröffnungsantrages vom16.05.2018 (Anlage K 1) gab der Beklagte an, dass er Arbeitnehmer sei, machte darüber hinaus aber keine weiteren Angaben zu seiner Erwerbstätigkeit. Gefragt nach seinen Vorkenntnissen/Erfahrungen nach dem WPHG gab der Beklagte bei der Kontoeröffnung an, dass er betreffend
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Anleihen, Zinsprodukte, Sparprodukte;
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Aktien, Investmentfonds, ETF`s und Zertifikate;
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Derivate, Optionen, Termingeschäften und Futures;
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Forex/CFD
über keinerlei Erfahrungen verfügte.
5
Nach dieser Eingabe erschien auf dem Kontoeröffnungsformblatt (Anlage K 1) folgender Hinweis: „Aufgrund ihrer Angaben gehen wir davon aus, dass sie über keine ausreichenden Kenntnisse verfügen, um über die CDF- und Forextrading verbundenen Risiken angemessen beurteilen zu können. Wir empfehlen eine Einführungsstudie z.B. in Form eines Infor – mationspaketes.“ Der Beklagte kreuzte daraufhin an: „Ich habe diesen Hinweis zur Kenntnis genommen. Ich möchte dennoch ein Konto eröffnen.“
6
Der Beklagte verpflichtete sich in Ziffer 6e des Antrags dafür zu sorgen, dass das damit eröffnete Tradingkonto fortlaufend eine ausreichende Deckung aufweist. Es wurde festgehalten, dass die Klägerin zu 1) nur dann im Namen des Beklagten Transaktionen durchführt bzw. die Aufträge erledigen wird, wenn eine ausreichende Kontodeckung vorhanden ist.
7
Unter Ziff. 6.h des Antrags wurde darauf hingewiesen, dass die Klägerin zu 1) keine Anlageberatung oder Empfehlung auf Finanzinstrumente vornimmt.
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Unter Ziff. 6.1 bestätigte der Beklagte, dass er das Informationspaket mit den allgemeinen Erläuterungen und einer Risikoaufklärung für CFD- und Forex- erhalten habe. In Ziffer 6.2 wurde festgehalten: „Ich bin bereit, die in den Informationsunterlagen aufgeführten erheblichen Risiken zu akzeptieren. Die genannten Finanzinstrumente sind als Spekulationsgeschäfte zu betrachten, die mit Risiken verbunden sind und zu einem kompletten Verlust des investierten Kapitals führen können.“
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Die Klägerin zu 1) eröffnete daraufhin ein Konto für den Beklagten zu den genannten Bedingungen. Der Beklagte lud sich die von der Klägerin zu 1) zur Verfügung gestellte Software hoch, die es ihm ermöglichte die fraglichen Transaktionen online abzuschließen.
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Zwischen dem 18.5.2018 bis 19.10.2018 bezahlte der Beklagte zu den nachfolgend genannten Zeitpunkten in 8 Tranchen insgesamt 82.755,71 EUR auf das bei der Klägerin zu 1) geführte Konto als Margin ein (Anlage K 3).
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Zwischen Mai und Oktober 2018 tätigte der Beklagte mindestens 150 Investitionen in die genannten Finanzprodukte, d.h. er führte mindestens 300 Einzeltransaktionen (Käufe und Verkäufe) durch. Die Klägerin zu 1) hat bei diesen Transaktionen selbst nicht mitgewirkt. Die Geschäfte hat der Beklagte jeweils online mithilfe der zur Verfügung gestellten Software abgeschlossen. Die Investments erwiesen sich nicht als lukrativ und der Beklagte verlor den gesamten auf das Konto der Klägerin zu 1) einbezahlten Betrag von 82.755,71 €.
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Mit Schreiben vom 23.04.2019 an den tschechischen Ombudsmann für Finanzgeschäfte forderte der Beklagte von der Fa. … die Rückzahlung des Betrags von 82.755,71 € (Anlage K 2) und leitete vor dem tschechischen Finanzschiedsrichter (Aktenzeichen …) ein freiwilliges Schiedsverfahren gegen die Fa. … und die beiden Klägerinnen ein.
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Der Beklagte stützt seinen Rückzahlungsanspruch im Wesentlichen darauf, dass er von den Klägerinnen nicht ausreichend aufgeklärt und informiert worden sei (Anlage K3).
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Mit einem an den tschechischen Finanzschiedsrichter gerichteten Schreiben vom 10.11.2020 (Anlage K 6) hat der Beklagte zudem ergänzend folgendes vorgetragen:
„Ich empfinde das Ganze als langandauernden, groß angelegten und gut organisierten finanziellen Raub von den Kunden, einen Betrug internationaler Art, welcher von der B.-Bank verwaltet wurde, von dem ich versuche, die CNB, den Finanzschiedsrichter, Polizei und Staatsanwaltschaft zu überzeugen“.
15
In diesem Verfahren wiesen die Klägerinnen und die Fa.die vom Beklagten geltend gemachten Ansprüche zurück.
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Mit Schiedsspruch vom 27.03.2023 entschied das tschechische Finanzschiedsgericht, dass die vom Beklagten geltend gemachten Ansprüche gegen die Fa. … abgewiesen werden, während die Klägerinnen verpflichtet wurden die Klägerinnen zur Zahlung von Schadensersatz an den Beklagten verpflichtet sind (Anlage B 4).
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Die Klägerinnen sind der Auffassung, ihrer Klage stünde das Verfahren vor dem tschechischen Finanzschiedsrichter nicht entgegen. Dieses sei kein förmliches Gerichtsverfahren, so dass keine anderweitige Rechtshängigkeit bestehe. Ohnehin sei in dem Verfahren – obwohl in der Anlage K1 ausdrücklich die Geltung deutschen Rechts vereinbart worden sei – tschechisches Recht zur Anwendung gekommen. Nach Verfahrensordnung für das Schiedsgerichtsverfahren sei dieses ohnehin in dem Moment unzulässig geworden, in dem am 11.03.2022 das hiesige Klageverfahren eingeleitet worden sei. Daher sei der Schiedsspruch vom 27.03.2023 irrelevant.
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Die Klägerinnen meinen, das Landgericht München I sei für die negative Feststellungsklage international und örtlich zuständig.
19
Die Klägerinnen behaupten, der Beklagte sei professioneller Anleger und kein Verbraucher i.S.d. Art. 17 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012. Daher sei 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit nicht maßgebend. Aus den Angaben des Beklagten im Kontoeröffnungsantrag (Anlage K1) ergäbe sich, dass der Beklagte die streitgegenständlichen Investition nicht zur Deckung seines privaten Eigenbedarfs getätigt habe, sondern ausschließlich zu Spekulationszwecken. Der Beklagte habe selbst – wie sich aus der Anlage K3 ergäbe – darüber nachgedacht, professioneller Kunde zu werden. Der Beklagte habe sich für das Webseminar Basic Steps on NT 4 angemeldet und sich ein PDF e book mit Anlagestrategien heruntergeladen. Es sei klar, dass der Beklagte die Verträge zu gewerblichen Zwecken geschlossen habe und es sich bei den Investitionen um rein gewerbliche Tätigkeiten des Beklagten handele. Den 150 bis 200 Investments, die der Beklagte in 5 Monaten getätigt habe, lägen zwischen 300 und 400 Transaktionen zugrunde. Die Transaktionen seien hoch komplex und zeitaufwändig gewesen, da die optimalen Kauf- und Verkaufszeitpunkte hätten eruiert werden müssen. Dazu sei die stetige Verfolgung der Kurswerte in Frage kommender Anlageprodukte unerlässlich und der Festlegung der Hebewerte, zu denen die Transaktionen ausgeführt werden. Typisch für derartige Geschäfte sei, dass die Anleger aufgrund der durch die Hebewirkung bedingten hohen Auswirkung auch kleiner Kursschwankungen während der Handelszeiten eine durchgängige Reaktionsmöglichkeit sicherstellen, um auf kurzfristige Änderungen reagieren zu können. Dafür sei ein planmäßiger Geschäftsbetrieb notwendig. Nach den Richtlinien des BaFIN (Anlage K7) sei bereits mit 25 Transaktionen im Monat davon auszugehen, dass ein in kaufmännischer Weise eingerichteter Geschäftsbetrieb notwendig sei. Daher sei der Beklagte kein Verbraucher im Sinne des Art. 17 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012, womit sich die Zuständigkeit nicht nach Art. 18 VO (EU) 1215/2012 richte.
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Hilfsweise – sofern das Gericht eine Verbrauchereigenschaft gem. Art. 17 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012 des Beklagten annehmen sollte – tragen die Klägerinnen vor, dass für die örtliche Zuständigkeit Art. 18 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012 und nicht Art. 18 Abs. 2VO (EU) 1215/2012 maßgeblich sei. Dies aus folgenden Erwägungen: Nach Art. 18 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012 stünde dem Verbraucher ein Wahlrecht zu. Er könne auch am Sitz der anderen Partei klagen. Dieses Wahlrecht gelte grundsätzlich auch für die negative Feststellungsklage. Nach herrschender Meinung sei im Rahmen der negativen Feststellungsklage im Sinne des § 29 ZPO der Ort maßgebend, an dem die primäre streitige Verpflichtung nach dem Vertrag zu erfüllen sei. Dies sei der Sitz der Klägerinnen in München. Damit bestünde in München der besondere Gerichtsstand des Erfüllungsortes im Sinne des § 29 ZPO. Die Klägerinnen meinen, mit der Erhebung der negativen Feststellungsklage vor dem Landgericht München I hätten die Klägerin ihre Wahl gem. § 35 ZPO zwischen dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten und dem besonderen Gerichtsstand gem. § 29 ZPO ausgeübt. Die Ausübung des Wahlrechts könne spiegelbildlich auf Art. 18 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012 übertragen werden. Damit sei selbst bei Annahme einer Verbrauchereigenschaft des Beklagten das Landgericht München I örtlich zuständig.
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Weiter tragen die Klägerinnen hilfsweise vor, dass eine Zuständigkeit des Landgerichts München I für deliktische Ansprüche nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 bestehe, da die Klägerinnen hilfsweise auch die Feststellung des Nichtbestehens eines deliktischen Anspruchs begehrten. Der Beklagte berühme sich schließlich auch deliktischer Ansprüche gegen die Klägerinnen. Für deliktische Ansprüche könne nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 das Gericht des Ortes angerufen werden, an dem das ursächliche Geschehen stattgefunden habe oder das schädigende Ereignis eingetreten sei. Der EuGH habe bereits entschieden, dass bei unerlaubter Handlung das Gericht, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht, insbesondere wegen der Nähe zum Streitgegenstand und der Beweisaufnahme in der Regel am Besten geeignet sei, den Rechtsstreit zu entscheiden. Dies gelte auch für die negative Feststellungsklage (EuGH Urteil vom 1.10.2002, C 167/00). Für konkurrierende deliktische Ansprüche werde eine Annexzuständigkeit abgelehnt. Der EuGH habe in seiner Entscheidung vom 28.1.2015 (Az.: C-375/13) ausgeführt, dass bei der Inanspruchnahme einer Bank aufgrund Verletzung gesetzlicher Informationspflichten der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung eröffnet ist, sofern nicht ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden. Um einen solchen Fall handle es sich hier, da sich der Beklagte – wie sich aus den Anlagen K 2 und K3 ergäbe – darauf berufe, er habe auf das deutsche Aufsichtsrecht vertraut und die Klägerinnen hätten gegen ihre Pflichten aus §§ 63 ff WPHG verstoßen. Es handle sich damit um die deliktische und nicht um vertragliche Ansprüche.
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Die Klägerinnen behaupten, der Beklagte sei nicht von den Klägerinnen, insb. auch nicht von der Klägerin zu 2) akquiriert oder telefonisch informiert worden. … sei kein Mitarbeiter der Klägerin zu 1) und auch nicht der Klägerin zu 2). Er arbeite für ein Unternehmen, das in Namen der Klägerin zu 2) tätig sei. Herr …. betreue dort aber ausschließlich Kunden, die bereits ein Konto bei der Klägerin zu 1) eröffnet hatten. Es werde daher bestritten, dass …. den Beklagten geworben habe. Wie sich aus Ziff. 6.h des Kontoeröffnungsantrags ergäbe, habe die Klägerin zu 1) keinerlei Beratung oder Empfehlungen abgegeben. Der Beklagte sei für seine Anlageentscheidungen selbst verantwortlich und müsse für diese die volle Haftung übernehmen.
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Die Klägerinnen beantragen:
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Es wird festgestellt, dass dem Beklagten ein Anspruch auf 82.755,71 € bzw. 1.950.000,-- KC nicht zusteht.
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Hilfsweise für den Fall, dass das erkennende Gericht eine Zuständigkeit für vertragliche Ansprüche nicht erkennen sollte beantragen die Klägerinnen
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Es wird festgestellt, dass dem Beklagten ein Anspruch auf 82.755,71 € bzw. 2.150.000,-- KC aus unerlaubter Handlung oder Ansprüchen aus einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt sind, nicht zusteht.
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Der Beklagte beantragt
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Der Beklagte meint, das Verfahren sei gem. Art. 29 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012 auszusetzen, da das in Tschechien geführte Verfahren vor dem Finanzschiedsrichter im inneren Zusammenhang mit den streitgegenständlichen Ansprüchen stehe. Dieses Verfahren sei als ein Gerichtsverfahren zu qualifizieren. Daher bestehe eine anderweitige Rechtshängigkeit.
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Der Beklagte trägt vor, schon aus seinem ausgeübten Beruf als Sanitäter (Anlagen B1 und B2), ebenso wie aus seinen Angaben im Kontoeröffnungsantrag (Anlage K1), ergäbe sich, dass er Verbraucher sei. Er habe zu keinem Zeitpunkt eine gewerbliche Tätigkeit ausgeübt und sei kein professioneller Anleger gewesen. Er habe die Investitionen weder im Rahmen seiner beruflichen noch gewerblichen Tätigkeit getätigt. Vielmehr habe ihn ständig ein Herr … angerufen, der sich als Mitarbeiter der Klägerinnen ausgegeben habe. Dieser Herr … habe dem Beklagten fortwährend zu weiteren Investments geraten. Ebenfalls habe Herr … dem Beklagten geraten, sich als professioneller Kunde einstufen zu lassen, da damit die Kosten reduziert würden.
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Der Beklagte ist der Meinung, Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 werde durch Art. 18 VO (EU) 1215/2012 verdrängt. Die von der Klageseite zitierten Entscheidungen seien nicht einschlägig.
31
Mit Schriftsatz vom 16.08.2022 haben die Klägerinnen die Klage um den Hifsantrag erweitert. Mit Beschluss vom 29.12.2022 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen. Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze samt Anlagen, das Protokoll der mündlichen Verhandlungen vom 04.10.2023 sowie auf die gerichtlichen Hinweise vom 29.12.2022, 31.03.2023 und 04.10.2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unzulässig.
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Zwar begründet das in Tschechien anhängige Verfahren vor dem Finanzschiedsrichter keine anderweitige Rechtshängigkeit (I.), das Landgericht München I ist jedoch international nicht zuständig (II.).
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Das in Tschechien anhängige Verfahren vor dem sog. Finanzschiedsrichter (Az: …) begründet keine anderweitige Rechtshängigkeit, so dass dieses weder Anlass zur Aussetzung nach Art. 29 VO (EU) 1215/2012 gibt, noch zu einer Unzulässigkeit der Klage führen kann.
35
Im Geltungsbereich der VO (EU) Nr. 1215/2012 hat das Gericht diese Frage von Amts wegen zu prüfen (Anders/Gehle/Anders, 82. Aufl. 2024, ZPO § 261 Rn. 12). Die Prüfung erfolgt in Abweichung von dem Grundsatz des lex fori nach dem ausländischen, hier dem tschechischen, Recht (BGH NJW-RR 1992, 643; Mü FamRZ 2009, 2104).
36
Es kommt darauf an, ob damit zu rechnen ist, dass der Schiedsspruch vor dem tschechischen Finanzschiedsrichter zu einer Anerkennung der Entscheidung nach § 328 ZPO bzw. § 1061 ZPO im Inland führen kann.
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Dies ist nicht der Fall:
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Wie sich aus S. 12 des Schiedsspruches vom 27.03.2023 vor dem Tschechischen „Finanzschiedsrichter“ ergibt, kann gegen den Schiedsspruch Klage vor den ordentlichen Gerichten erhoben werden. Damit hat dieser Schiedsspruch nicht – entsprechend § 1055 ZPO – die Wirkung eines Urteils mit Rechtskraftwirkung und staatlicher Vollstreckbarkeit (§§ 1060 f ZPO).
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Eine Anerkennung und Vollstreckung dieses Schiedsspruches nach § 1061 ZPO kommt daher nicht in Betracht, da hierfür Voraussetzung wäre, dass der fragliche Schiedsspruch verbindlich und abschließend wäre (Dr. R. D. in: Kern/Diehm, ZPO, § 1061 ZPO, Rn. 2). Hieran fehlt es.
40
Offen bleiben kann, ob es sich bei dem tschechischen Verfahren um sein sog. Schlichtungsstellenverfahren handelt, also um ein Verfahren, welches nach deutschem Recht zu einem Vollstreckungstitel gem. § 794 Abs. 1 Nr. 1, § 797a ZPO führen könnte, da derartige Verfahren jedenfalls keine Schiedsverfahren i.S.d.§ 1055 ZPO sind. Diese ersetzen nicht das staatliche Gerichtsverfahren, sondern können diesem lediglich (ggf. verpflichtend) vorgeschaltet sein (Dr. R. D. in: Kern/Diehm, ZPO, Vorbemerkungen zu §§ 1025-1066 ZPO, Rn. 4). Sie haben nicht die Wirkung eines Urteils mit Rechtskraftwirkung und staatlicher Vollstreckbarkeit, so dass eine Anerkennung nach § 1061 ZPO nicht möglich ist.
41
Damit kommt eine Anerkennung dieses Schiedsspruches nach §§ 328 ZPO bzw. 1061 ZPO nicht in Frage, womit ein solches Verfahren auch nicht zu einer anderweitigen Rechtshängigkeit führen kann.
42
Das Landgericht München I ist international nicht zuständig, da der Beklagte Verbraucher ist (1.) und gegen einen Verbraucher auch bei der negativen Feststellungsklage Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 zur Anwendung kommt (2.), welcher der parallel bestehenden Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 im konkreten Fall vorgeht (3.).
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1. Der Beklagte ist Verbraucher im Sinne des Art. 17 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 1215/2012.
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a. Die Art. 17 und 18 VO (EU) Nr. 1215/2012 sind nach der Rechtsprechung des EuGH auf Finanzgeschäfte, wie die hier streitgegenständlichen Differenzgeschäfte, anwendbar: Der Geltungsbereich der Vorschriften des Abschnitts 4 des Kapitels II der V O (EU) Nr. 1215/2012 über die Zuständigkeit bei Verbrauchersachen erstreckt sich auf alle Vertragstypen – ausgenommen hiervon sind lediglich die in Art. 17 Abs. 3 der VO (EU) Nr. 1215/2012 aufgeführten Verträge (EuGH Urt. v. 3.10.2019 – C-208/18, BeckRS 2019, 25123 Rn. 48, 49, beck-online).
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b. Unerheblich für die Einordnung als Verbraucher nach Art. 17 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 1215/2012 ist, dass die hier in Frage stehenden Finanzinstrumente vom Geltungsbereich des Art. 6 der Rom-I-Verordnung ausgeschlossen sind. Auch wenn Art. 6 Abs. 1 der Rom I VO ihrem Wortlaut nach mit Art. 17 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1215/2012 identisch ist, verfolgen diese beiden Verordnungen unterschiedliche Ziele. Anders als die Rom I VO, die sich der Anwendung des materiellen Rechts widmet, ist Ziel der VO (EU) 1215/2012 festzulegen, welches Gericht bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher zuständig ist, um Letzteren zu schützen. Daher wirkt sich der Ausschluss der Finanzinstrumente vom Geltungsbereich des Art. 6 der Rom-I-Verordnung sich nicht auf die Einstufung einer Person als „Verbraucher“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1215/2012. aus (EuGH Urt. v. 3.10.2019 – C-208/18, BeckRS 2019, 25123 Rn. 60-66, beck-online).
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c. Für die Einordnung als Verbraucher ist irrelevant, ob der Beklagte Kleinanleger im Sinne des Art. 4 Abs. 1 Nr. 12 der Richtlinie 2004/39 ist:.
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Der EuGH hat hierzu ausgeführt:
„Die Einstufung einer Person als „Kleinanleger“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Nr. 12 der Richtlinie 2004/39 (hat) für sich genommen grundsätzlich keine Auswirkungen in Bezug auf die Einstufung dieser Person als „Verbraucher“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012.“ (EuGH Urt. v. 3.10.2019 – C-208/18, BeckRS 2019, 25123 Rn. 73-77, beck-online). Damit es irrelevant, ob der Beklagte zwei der drei Kriterien nach Abschnitt II des Anhangs II der Richtlinie 2004/39 erfüllt hat (1. im vorangegangenen Jahr, durchschnittlich pro Quartal zehn Geschäfte von erheblichem Umfang getätigt, 2. Finanzinstrument-Portfolio über 500.000 Euro, 3. mindestens ein Jahr lang im Finanzsektor tätig).
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d. Weiter ist für die Frage der Verbrauchereigenschaft unerheblich, welche Beträge der Beklagte investiert hat, wie riskant diese Geschäfte waren und ob und wenn ja welche Vorkenntnisse der Beklagte hatte.
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Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Höhe der investierten Beträge irrelevant, da andernfalls der Zweck der VO (EU) Nr. 1215/2012, nämlich eine klare Vorhersehbarkeit der Zuständigkeiten, mangels eines ausdrücklichen Schwellenwertes unterlaufen würde. Demzufolge kann es nach der Auffassung des EuGH auch keine Rolle spielen, wenn extrem riskante Geschäfte abgeschlossen werden. Weiter ist es – so der EuGH – unerheblich, ob und welche Vorkenntnisse beim Investor – hier dem Beklagten – vorhanden sind. Dies deswegen, da der Verbraucherbegriff im Sinne von Art. 17 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1215/2012 in Abgrenzung zum Unternehmerbegriff definiert wird und objektiven Charakter hat. Würde man demgegenüber darauf abstellen über welche Kenntnisse der Investor verfügt, würde – fälschlich – auf die subjektive Stellung abgestellt. (EuGH Urt. v. 3.10.2019 – C-208/18, BeckRS 2019, 25123 Rn. 50-58, beck-online).
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Daher ist es – anders als die Klageseite meint – irrelevant, sollte der Beklagte – wie sich aus Ziffer 6.2 des Kontoeröffnungsantrages ggf. herleiten ließe (Anlage K 1) – die Investitionen zu Spekulationszwecken getätigt haben. Auch reine Spekulationsgeschäfte – sofern nicht gewerblich betrieben – können von Verbrauchern getätigt werden.
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Auf der anderen Seite kann – anders als die Beklagtenseite vorträgt – aus den komplett fehlenden Vorkenntnissen des Beklagten betreffend Spekulationsgeschäfte jedweder Art (vgl. Ziff. 5 der Anlage K1) auch nicht geschlossen werden, dass es sich beim Beklagten um einen Verbraucher handelt.
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e. Es kommt allein darauf an, ob der Beklagte die fraglichen Geschäfte zu einem Zweck, der nicht seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, abgeschlossen hat. Es kommt somit (allein) darauf an, ob es sich bei den in Frage stehenden Geschäften um die Verwaltung privaten Vermögens handelt (Anders/Gehle/Schmidt, 81. Aufl. 2023, Brüssel 1a-VO Art. 17 Rn. 2).
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Soweit die Klägerinnen meinen, – da der Beklagte selbst eingeräumt habe (Anlage K 3, Seite 28) darüber nachgedacht zu haben, professioneller Kunde zu werden – es sei klar, dass der Beklagte die Verträge zu gewerblichen Zwecken geschlossen habe und es sich bei den Investitionen um gewerbliche Tätigkeiten des Beklagten handele, vermag dies nicht zu verfangen. Unabhängig davon, dass die von den Klägerinnen in Bezug genommenen Dokumente/Schulungen schon aufgrund ihres Titels eher für eine „Einsteigerinformation“ sprechen, hat der Vertreter der Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung vom 04.10.2023 erklärt, dass der Beklagte bei der Klägerin zu 1) nicht als professioneller Anleger geführt worden sei. Außerdem ergibt sich bereits aus den Anlagen B1 und B2, dass der Beklagte nicht im Bereich von Finanzdienstleistungen oder dergleichen tätig ist, der Beklagte hat dort seine Tätigkeit als Rettungssanitäter angegeben und dies bei seiner informatorischen Anhörung am 04.10.2023 näher spezifiziert. Er hat folgendes angegeben:
„Auf jeden Fall ist der Verlust von rund 82.000,00 € ziemlich die Hälfte von dem, was wir, also meine Familie und ich, hatten, bevor ich angefangen habe, bei den Klägerinnen zu investieren. Bevor ich das Geld bei … investierte, habe ich das Geld in Bausparverträgen angelegt gehabt. Es war für die ganze Familie, also auch für meine Frau, die Großeltern und die Kinder. Es waren im Prinzip die Ersparnisse der gesamten Familie. Alle in der Familie haben ein Leben lang gespart, um Geld zu haben für notwendige Reparaturen, ein Auto, ein neues Dach usw.
In einem der Telefonate mit Herrn … sagte mir dieser, wenn ich Profianleger wäre, dann hätte ich die Chance auf höheren Gewinn bei gleichzeitig niedrigeren Gebühren. Ich fragte Herrn … … wie man Profianleger wird und bat ihn um eine entsprechende Mail. Diese kam dann auch. In der E-Mail war ein Link und diesen klickte ich an. Ich öffnete also den Link und las die Bedingungen durch, nach der man ein sogenannter Profianle – ger werden kann, dann schrieb ich an Herrn … am 09.11.2018 eine E-Mail, in der ich Herrn … fragte, wie ich Profianleger werden soll, wenn ich keine einzige der Bedingungen erfüllte.“
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Der Beklagte ergänzte auf Nachfrage durch das Gericht noch Folgendes:
„Also, es war so, dass ich ab dem ersten Investment im Minus war. Ich bekam täglich einen Kontoauszug und konnte die Entwicklung sehen. Herr …. rief mich ständig an und riet mir zu neuen Investments. Bis ich dann Herrn … im November 2018 fragte, was ich jetzt eigentlich mit dem Ganzen noch machen soll, sagte mir Herr … „Ich habe Ihnen schon im Sommer geraten, dass Sie ein Profianleger werden sollen“, und daher kam es dann zu dem von mir erwähnten E-Mail-Verkehr.“
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Aus den vorgelegten Unterlagen im Zusammenspiel mit den ergänzenden Angaben des Beklagten – die von der Klageseite auch gar nicht in Frage gestellt wurden – ergibt sich zweifelsfrei, dass der Beklagte die streitgegenständlichen Geschäfte zu rein privaten Zwecken tätigte. Bei dieser Sachlage steht fest, dass der Beklagte Verbraucher im Sinne des Art. 17 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1215/2012 ist. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass der Beklagte die fraglichen Geschäfte mit einem anderen Ziel getätigt hätte, als die Ersparnisse der Familie gewinnbringend anzulegen. Dass er hierfür in extrem riskante Forex-Geschäfte investiert hat, ist nach der Rechtsprechung des EuGH per se irrelevant und ändert an der Verbrauchereigenschaft nichts:
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Der EuGH hat ausgeführt, dass eine natürliche Person, die aufgrund eines Vertrags wie eines mit einer Broker-Gesellschaft geschlossenen Differenzgeschäfts Transaktionen auf dem internationalen Devisenmarkt FOREX (Foreign Exchange) über diese Gesellschaft tätigt, als „Verbraucher“ im Sinne dieser Vorschrift einzustufen ist, wenn der Abschluss dieses Vertrags nicht zu der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person gehört (EuGH, Urteil vom 03.10.2019, C-208/18, NZG 2020, 119, beck-online). Daher ist es auch unerheblich, ob eine sinnvolle Geldanlage in diese Produkte (mit dem Ergebnis, dass am Ende nicht – wie hier – das gesamte Kapital verloren ist), es erforderlich machen würde, dass der Investor sich ununterbrochen mit seinen Investitionen beschäftigt um die idealen Kauf- und Verkaufszeitpunkte feststellen zu können. Es mag sein, dass Investitionen in die fraglichen Produkte sinnvoll nur von professionellen Anlegern getätigt werden können. Dass der Beklagte – nach entsprechenden „Vermittlungen“ – als Privatperson in derartig spekulative Produkte, die ohne Expertenwissen nicht zu beherrschen sind, investierte, macht den in Finanzgeschäften unkundigen Beklagten jedoch nicht zum professionellen Anleger und ändert an seiner Verbrauchereigenschaft nichts.
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2. Das Landgericht München I ist international nicht zuständig, da die Klage in Tschechien hätte erhoben werden müssen. Auch bei einer negativen Feststellungsklage gegen den Verbraucher kommt Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 und nicht Art. 18 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012 zur Anwendung:
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Dies ergibt sich aus dem Anwendungsvorrang der VO (EU) 1215/2012 gegenüber den nationalen Vorschriften, hier der ZPO. Nach Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV gelten alle Verordnungen der EU direkt und unmittelbar in allen Mitgliedstaaten. Evtl. entgegenstehende nationale Rechtsvorschriften werden verdrängt (vgl. z.B. Dauses/Ludwigs EU-WirtschaftsR-HdB, Q. Q.II. Internationale Zuständigkeit Rn. 12, beck-online).
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Damit kommt es nicht darauf an – wie die Klageseite meint – ob bei der negativen Feststellungsklage die Kläger einer solchen Klage nach § 29 ZPO am Sitz der Klägerinnen in München erheben könnte, sondern die Art. 17 ff VO (EU) 1215/2012 stellen insoweit Sonderregungen dar (Schultzky in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, § 29 ZPO, Rn. 2). Grundsätzlich gilt nach Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 die sog. Gerichtspflichtigkeit des Verbrauchers, d.h. im Interesse des Verbraucherschutzes kann der Verbraucher nur in seinem Wohnsitzstaat verklagt werden (Geimer in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, Art. 18 EUV 1215/2012, Rn. 1). Diese europarechtliche Regelung kann nicht dadurch umgangen werden, dass es nach deutschem Recht allgemein anerkannt ist, dass der Kläger der negativen Feststellungsklage bei einem bestehenden Wahlrecht gem. § 35 ZPO betreffend den Gerichtsstand (hier der allgemeine Gerichtsstand nach § 12 ZPO am Sitz des Beklagten und dem besonderen Gerichtsstand nach § 29 ZPO am Sitz der Klägerinnen) hat. Würde man dies zulassen, dann würde dadurch gegen die klare Regelung des Art 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 verstoßen, der verbindlich festlegt: Wird ein Verbraucher verklagt, ist er an seinem Sitz zu verklagen. Das Wahlrecht des § 35 ZPO greift daher nur dann, wenn kein ausschließlicher Gerichtsstand nach der VO (EU) 1215/2012 begründet wird (Musielak/Voit/Heinrich, 20. Aufl. 2023, ZPO § 35 Rn. 5). Bei Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 handelt es sich aber genau um einen solchen. Diese ausschließliche Zuständigkeit ist die zentrale Kernvorschrift der Verbraucherschutzvorschriften der VO (EU) 1215/2012. Sie stellt sicher, dass ein Verbraucher (in Verbrauchersachen) grundsätzlich nur in seinem eigenen Wohnsitzstaat – und nicht an etwaigen besonderen Gerichtsständen – gerichtspflichtig ist. Insofern dehnt Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 die auch in Art. 4 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012 zum Ausdruck kommende zuständigkeitsrechtliche Privilegierung des Beklagten (den sog. favor defensoris) auf alle (vertraglichen) Klagen gegen einen Verbraucher aus (Geimer/Schütze Int. Rechtsverkehr/Paulus, 66. EL Januar 2023, VO (EG) 1215/2012 Art. 18 Rn. 17).
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3. Der von den Klägerinnen hilfsweise geltend gemachte negative Feststellungsantrag gerichtet auf das Nichtbestehen deliktischer Ansprüche führt nicht zu einer Anwendbarkeit des Gerichtsstands nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 anstelle der gerichtlichen Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012.
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a. Die VO (EG) 44/2001 wurde ersetzt durch die VO (EU) 1215/2012. Die Vorschriften des Art. § 5 Nr. 3 der VO Nr. 44/2001 finden sich nun in Art. 7 Nr. 2 der VO 1215/12. Die Regelungen in entsprechen sich im Wesentlichen, so dass die Rechtsprechung zu Art. 5 Nr. 3 der VO Nr. 44/2001 auf Art. 7 Nr. 2 der VO 1215/2012 übertragen werden kann (EuGH Urt. v. 24.11.2020 – C-59/19, GRUR-RS 2020, 31825 Rn. 20, beck-online).
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Art. 5 Nr. 3 VO (EG) 44/2001 bezweckte – anders als die Art. 17 ff der VO (EU) 1215/2012 – nicht, der schwächeren Partei einen verstärkten Schutz zu gewährleisten (EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2012 – C-133/11 Nr. 46 juris).
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Damit kann bei einer negativen Feststellungsklage grundsätzlich eine gerichtliche Zuständigkeit in dem Staat bestehen, in dem sich entweder das ursächliche Geschehen ereignet hat oder der Schaden eingetreten ist oder einzutreten droht, wobei es dann nicht darauf ankäme, ob die Klage vom mutmaßlichen Opfer einer unerlaubten Handlung oder vom potenziellen Schuldner einer Forderung aus dieser Handlung erhoben wurde (EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2012 – C-133/11 Rn. 52 –, juris). Damit kann jedenfalls dann, wenn es bei einer negativen Feststellungsklage allein um deliktische Ansprüche geht, die Klage auch an einem anderen Orte als dem Sitz des Geschädigten erhoben werden, wenn nämlich – wie hier – der „Tatort“ der behaupteten deliktischen Handlung der Sitz der Klägerinnen in München/Grünwald ist.
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b. Dies gilt jedoch nicht, wenn mit einer negativen Feststellungsklage zum einen die Feststellung begehrt wird, dass keine vertraglichen Schadensersatzansprüche (Hauptantrag) und (aus demselben Lebenssachverhalt) auch keine deliktischen Schadensersatzansprüche (Hilfsantrag) bestehen:
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Der Beklagte meint, die Klägerinnen seien ihm aufgrund der fehlerhaften Beratung/Aufklärung zum Schadensersatz verpflichtet (Anlage K3) und hält das Vorgehen der Klägerinnen zudem – wie sich aus der Anlage K6 ergibt – für betrügerisch, woraus der Beklagte offenkundig einen deliktischen Anspruch herleitet.
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Die Klägerinnen begehren Feststellung, dass es weder vertragliche noch deliktische Ansprüche des Beklagten gegen die Klägerinnen gibt.
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Damit besteht für den Feststellungsantrag betreffend das Nichtbestehen vertraglicher Ansprüche der Gerichtsstand des Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012. Während für den Feststellungsantrag betreffend das Nichtbestehen deliktischer Ansprüche der Gerichtsstand nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 besteht.
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In der Literatur wird teilweise verneint, dass bei konkurrierenden vertraglichen und deliktischen Ansprüchen eine sog. Annexzuständigkeit besteht, d.h. die Vorschriften der Art. 17 ff VO (EU) 1215/2012 auch für die deliktischen Ansprüche (anstelle des Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012) gelten (Geimer/Schütze/Paulus Int. Rechtsverkehr Rn. 32; Rauscher/Staudinger Vorbem zu Art. 17 ff. Rn. 4; Gebauer/Wiedmann, Kap. 27 Rn. 84; Sachse S. 147). Dies mag bei Klagen, in denen der Verbraucher der Kläger ist, keine Probleme aufwerfen, da in diesen Fällen der Verbraucher betreffend seine vertraglichen Ansprüche wählen kann (nach Art. 18 Abs. 1 VO (EU) 1215/2012), ob er den Gegner an dessen Sitz verklagt. Hinsichtlich des konkurrierten deliktischen Anspruchs ergibt sich die Zuständigkeit nach dem Tatort, der nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort ist (MüKoZPO/Gottwald, 6. Aufl. 2022, Brüssel Ia-VO Art. 7 Rn. 46 m.w.N.). Damit hat der Geschädigte bei den deliktischen Ansprüchen grundsätzlich die Wahl, an welchem der beiden Orte er klagt. Bei der Leistungsklage wird der Kläger daher regelmäßig über das auch nach Art. 7 Nr. 2VO (EU 1215/2012) bestehende Wahlrecht einen einheitlichen Gerichtsstand an dem von ihm gewünschten Ort wählen können.
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Bei der negativen Feststellungsklage zwischen einem Unternehmer als Kläger und einem Verbraucher als Beklagten ist dies jedoch anders, da bei konkurrierenden Ansprüchen aus Vertrag (hier gilt Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012) und Delikt (hier gilt 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012) der Beklagte für den vertraglichen Anspruch gem. Art. 18 Abs. 2 VO (EU 1215/2012) zwingend an seinem Wohnsitz zu verklagen wäre, während die Kläger über Art. 7 Nr. 2 VO (EU 1215/2012) auch an ihrem eigenen Sitz klagen könnten. Nachdem die konkurrieren Ansprüche jedoch aus ein und demselben Lebenssachverhalt herrühren, müssen beide Ansprüche zwingend in einem Verfahren behandelt werden; andernfalls stünde ggf. eine anderweitige Rechtshängigkeit (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Daher stellt sich die Frage, des Verhältnisses dieser beiden Gerichtsstände zueinander.
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Der EuGH hat – wenngleich zur Abgrenzungsfrage, wann Art. 5 Nr. 1a VO (EG) 44/2001 (“Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“) und wann Art. 5 Nr. 3 VO (EG) 44/2001 (“unerlaubte Handlung“) anwendbar ist – entschieden, dass ein Fall des Art. 5 Nr. 1a VO (EG) 44/2001 vorliegt, wenn das vorgeworfene Verhalten als Verstoß gegen die vertraglichen Verpflichtungen angesehen werden könne, wie sie sich anhand des Vertragsgegenstands ermitteln lassen. Dies sei grundsätzlich dann gegeben, wenn eine Auslegung des Vertrags zwischen dem Beklagten und dem Kläger unerlässlich erscheine, um zu klären, ob das dem Beklagten vom Kläger vorgeworfene Verhalten rechtmäßig oder vielmehr widerrechtlich sei. Der Tatrichter habe daher festzustellen, ob die streitgegenständlichen Ansprüche einen Sachverhalt betreffen, der bei vernünftiger Betrachtungsweise in einer Verletzung vertraglicher Pflichten liege, so dass die Berücksichtigung des Vertrages für die Entscheidung über die Klage zwingend erforderlich sei. In einem solchen Fall handele es sich um Ansprüche aus einem Vertrag im Sinne von Art. 5 Nr. 1a VO (EG) 44/2001 und nicht um solche aus Art. 5 Nr. 3 VO (EG) 44/2001 (EuGH Urt. v. 13.3.2014 – C-548/12, BeckRS 2014, 80536 Rn. 23-29, beck-online).
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Diese Rechtsprechung ist auf die VO (EU) 1215/2012 übertragbar. Nur so kann zum einen die Problematik zweier auseinanderfallender Gerichtsstände nach Art. 7 Nr. 2 und Art. 18 Abs. 2 der VO (EU 1215/2012) ausgeschlossen werden und vor allem der mit den Art. 17 ff der VO (EU) 1215/2012 bezweckte Verbraucherschutz gewahrt werden. Andernfalls könnten die Verbraucherschutzvorchriften der Art. 17 ff der VO (EU) 1215/2012 jederzeit über eine negative Feststellungsklage – wie hier von den Klägerinnen initiiert – ausgehebelt werden. Dies gerade in den Fällen, in denen der (schützenswerte) Verbraucher sich nicht „nur“ vertraglicher Ansprüche berühmt, sondern zusätzlich – auch aus der vertraglichen Beziehung herrührend – daneben bestehende deliktische Ansprüche (hier u.a. der Vorwurf des Betruges) geltend macht. Würde man es dem Kläger einer negativen Feststellungsklage zugestehen, den deliktischen Gerichtsstand nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 zu wählen, dann wäre der Vertragspartner des Verbrauchers, der z.B. durch sein Geschäftsgebaren einen Straftatbestand verwirklicht hat, sogar noch privilegiert, da er den Verbraucher über die negative Feststellungsklage zwingen könnte, den Prozess in einem fremden Land zu führen. Daher muss bei konkurrieren vertraglichen und deliktischen Ansprüchen Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012 dem Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 zumindest dann vorgehen, wenn der deliktische Anspruch ebenfalls – so wie hier – aus einem Verstoß gegen die vertraglichen Pflichten herrührt (BeckOK ZPO/Thode, 51. Ed. 1.12.2023, Brüssel Ia-VO Art. 7 Rn. 76c.2). Nur der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass die von der Klageseite in diesem Zusammenhang ins Feld geführte Entscheidung des EuGH vom 01.10.2002, Az: C 167/00 (EuZW 2002, 657, beck-online) für die vorliegende Fallkonstellation ohne Relevanz ist, da es dort weder um Ansprüche eines Verbrauchers ging, noch zwischen den Parteien vertragliche Beziehungen bestanden.
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c. Die von den Klägerinnen in Bezug genommenen Entscheidung des EuGH vom 25.10.2012 (C 133/11, AfP 2017, 491) ändert hieran nichts: Der EuGH beschäftigt sich in dieser Entscheidung mit der Frage, ob Art. 5 Nr. 3 VO (EG) 33/2001 (heute: Art. 7 Nr. 2 der VO (EU) 1215/2012) auch bei einer negativen Feststellungsklage (und nicht nur bei einer Leistungsklage) Anwendung findet. Nachdem – wie unter b. ausgeführt – sich der Gerichtsstand aber gerade nicht nach Art. 7 Nr. 2 VO (EU) 1215/2012 bestimmt, sondern nach Art. 18 Abs. 2 VO (EU) 1215/2012, kommt diese Rechtsprechung des EuGH im konkreten Fall ebenfalls nicht zum Tragen.
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Die nach Schluss der mündlichen Verhandlung innerhalb nachgelassener Frist eingereichten Schriftsätze der Kläger vom 04.12.2023 und des Beklagten vom 18.12.2023 geben zu einer Wiedereröffnung der Verhandlung gemäß § 156 ZPO keinen Anlass.
74
Die Kostenausspruch ergibt sich aus § 91 ZPO.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.
76
Der Streitwert vom 82.755,61 €ergibt sich aus dem Klageantrag der Klägerinnen, da dieser bei einer negativen Feststellungsklage ist so hoch zu bewerten ist, wie der Anspruch, dessen sich der Gegner berühmt. Dies deshalb, da ein stattgebendes Urteil einer Leistungsklage des Beklagten entgegen stünde (BGH Beschl. v. 18.8.2011 – III ZR 32/11, BeckRS 2011, 21919, beck-online; MüKoZPO/Wöstmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 3 Rn. 75). Der Hilfsantrag wirkte sich nicht streitwerterhöhend aus.