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BayObLG, Urteil v. 06.08.2024 – 206 StRR 227/24
Titel:

Rechtfertigender Notstand - Erlaubnistatbestandsirrtum; Erlaubnisirrtum

Normenkette:
StGB § 17, § 34
Leitsätze:
1. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass die Erforderlichkeit der Notstandshandlung entfällt, wenn zur Gefahrenabwehr staatliche bzw. "obrigkeitliche" Hilfe rechtzeitig in Anspruch genommen werden kann. Demgemäß scheidet eine Rechtfertigung durch § 34 StGB auch regelmäßig aus, wenn die Lösung der von dieser Vorschrift vorausgesetzten Konfliktlage zwischen dem Erhaltungsgut und dem Eingriffsgut einem besonderen Verfahren oder einer bestimmten Institution vorbehalten ist. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Erlaubnistatbestandsirrtum liegt vor, wenn der Täter irrig Umstände annimmt, die, lägen sie vor, einen rechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund erfüllen würden; nur ein nach § 17 StGB zu behandelnder Erlaubnisirrtum liegt dagegen vor, wenn der Täter die Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes weiter zieht als von Rechts wegen anerkannt. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Beim rechtfertigenden Notstand kommen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der der Senat folgt, ein Erlaubnistatbestandsirrtum und ein Entfall des Vorsatzes nur in Betracht, wenn der Täter die Sachlage pflichtgemäß geprüft hat. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
rechtfertigender Notstand, Erforderlichkeit der Notstandshandlung, mildestes Mittel, obrigkeitliche Hilfe, besonderes Verfahren, Erlaubnistatbestandsirrtum, pflichtgemäße Prüfung, Erlaubnisirrtum
Vorinstanz:
LG Traunstein, Urteil vom 15.01.2024 – 3 Ns 110 Js 38041/19
Fundstelle:
BeckRS 2024, 20107

Tenor

I. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 15. Januar 2024 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Traunstein zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Das Amtsgericht Rosenheim hat die Angeklagte mit Urteil vom 15. Juni 2021 wegen vorsätzlicher unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 20 € verurteilt. Dem lag zugrunde, dass die Angeklagte ihrem in der Justizvollzugsanstalt B. inhaftierten Bruder bei einem Besuch am 20. Oktober 2019 zwei Subutex-Tabletten übergeben hatte, um seinen Suchtdruck zu lindern. Das Bestehen von Rechtfertigungsgründen sowie Irrtümer der Angeklagten hierüber hat das Amtsgericht abgelehnt.
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Auf die (auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte) Berufung der Staatsanwaltschaft und diejenige der Angeklagten hat das Landgericht Traunstein mit Urteil vom 15. Januar 2024 das Urteil des Amtsgerichts dahingehend abgeändert, dass die Angeklagte der fahrlässigen Abgabe von Betäubungsmitteln schuldig ist und hierfür zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 90 € verurteilt wird. In den Entscheidungsgründen hat die Kammer u. a. wie folgt ausgeführt (UA S. 6):
„Die Kammer geht davon aus, dass die Angeklagte der Meinung war, sie müsse ihrem Bruder in einer Notlage zur Seite stehen. Sie ging davon aus, der Bruder leide stark unter Drogenentzug und benötige dringend Substitution. Sie sei daher dazu berechtigt, ihm durch Übergabe von Subutex-Tabletten Erleichterung bei bestehendem Entzug zu verschaffen. Der Angeklagten war nicht zu widerlegen, dass sie den Aussagen ihres Bruders vertraut hat, dass die Beschreitung des hierzu zur Verfügung stehenden Rechtswegs erfolglos sein würde und der Bruder auch nicht auf Hilfe durch die externe Therapeutin rechnen könne.“
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Sie hat demgemäß einen vorsatzausschließenden Erlaubnistatbestandsirrtum angenommen, da sich die Angeklagte über das Vorliegen einer Notwehrlage geirrt habe. Sie sei jedoch ihrer Prüfungspflicht nicht in hinreichendem Maß nachgekommen und sei daher wegen fahrlässiger Abgabe von Betäubungsmitteln zu verurteilen.
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Mit ihrer Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts. Sie meint, dass aufgrund der getroffenen Feststellungen kein Raum für die Annahme eines (unvermeidbaren) Erlaubnistatbestandsirrtums verbleibe. Das Rechtsmittel wird von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten.
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Die Angeklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung materiellen Rechts, die sie zunächst nicht weiter ausgeführt hat. Erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist hat sie die Sachrüge mit Schriftsatz vom 24. April 2024 begründet. Sie vertritt die Auffassung, dass auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen eine Notstandslage gegeben gewesen sei und beantragt deshalb den Freispruch der Angeklagten; lediglich hilfsweise begehrt sie die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
II.
6
Beide Rechtsmittel haben hinsichtlich des Schuldspruches mit der Sachrüge Erfolg, weil das Berufungsurteil an Rechtsfehlern und Darstellungsmängeln leidet und die Feststellungen weder die Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums noch die erfolgte Verurteilung tragen.
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1. Ohne Erfolg rügt die Angeklagte allerdings, dass das Landgericht die Voraussetzungen des § 34 StGB annehmen und die Tat als gerechtfertigt hätte ansehen und die Angeklagte deshalb freisprechen hätte müssen. Auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsurteils ist das offensichtlich nicht der Fall.
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a) Eine Gefahr im Sinne von § 34 StGB (ebenso wie nach § 35 StGB) ist ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht (BGH, Beschluss vom 28.06.2016, 1 StR 613/15, BGHSt 61, 202ff., zitiert nach juris, dort Rdn. 8; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 34 Rdn. 4; Zieschang in: Leipziger Kommentar zum StGB (LK-StGB), 13. Aufl., § 34 Rdn. 57ff., jeweils m. w. N.). Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen werden (BGH aaO Rdn. 9; Fischer aaO § 34 Rdn. 7; LK-StGB/Zieschang aaO § 34 Rd. 69ff., jeweils m. w. N.). Maßstab für die Beurteilung dieser Frage ist die objektive nachträgliche Prognose eines sachkundigen Beobachters (vgl. BayObLG, Urteil vom 08.11.1994, 2St RR 157/94, zitiert nach juris, dort Rdn. 13) .
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Nach den Feststellungen des Berufungsgerichtes litt der Bruder der Angeklagten zum Tatzeitpunkt nicht unter starken Entzugserscheinungen, die eine medizinische Behandlung erfordert hätten. Sie war auch nach Entdeckung der Tat nicht erforderlich und ist auch nicht erfolgt (UA S. 6/7). Bereits in der JVA L. hatte der Bruder der Angeklagten auf seine Verlegung aus der Krankenstation in eine normale Abteilung gedrängt, da er hoffte, dort besser an kursierende Substitutionsmittel heranzukommen. Auch in der JVA B. versorgte er sich mit wechselndem Erfolg auf dem „Schwarzmarkt“ mit Substitutionsmitteln (UA S. 3). Soweit die Revision im Schriftsatz vom 24. April 2024 (dort S. 3) den Versuch unternimmt, ihr Vorbringen unter Bezugnahme auf Angaben des Bruders der Angeklagten und Mutmaßungen der Angeklagten mit einem anderen Sachverhalt zu unterlegen, kann sie damit keinen Erfolg haben, da das Revisionsgericht (mangels erhobener Verfahrensrügen) allein von den im angefochtenen Urteil getroffenen objektiven Feststellungen auszugehen hat (vgl. nur MeyerGoßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 337 Rdn. 22-24).
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Auf dieser Grundlage war somit bereits keine gegenwärtige Gefahr für die Gesundheit des Bruders der Angeklagten gegeben, die die Angeklagte zur Nothilfe hätte berechtigen können.
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b) Darüber hinaus hätte eine etwaige Gefahr auch nicht anders als durch die erfolgte Tathandlung abwendbar sein dürfen, damit § 34 StGB eingreifen kann. Auch das ist unter Zugrundelegung der hier allein maßgeblichen Feststellungen des Berufungsurteiles nicht der Fall gewesen.
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Notwendige Voraussetzung für die Rechtfertigung einer Handlung über § 34 StGB ist, dass diese unter den konkreten Umständen des Einzelfalles zum Schutz des Erhaltungsguts geeignet ist und sich bei mehreren zur Gefahrabwendung geeigneten Handlungsmöglichkeiten die gewählte als das in Bezug auf das Eingriffsgut, mithin die durch die verwirklichte Strafnorm geschützten Rechtsgüter und Interessen, relativ mildeste Mittel erweist (vgl. BGH aaO Rdn. 11; Fischer aaO § 34 Rdn. 9; LKStGB/Zieschang aaO § 34 Rdn. 94ff. jeweils m. w. N.). Im Hinblick auf das Gebot des relativ mildesten Mittels zur Gefahrenabwehr bestehen Konstellationen, in denen straftatbestandsmäßiges Verhalten zum Zweck der Bewahrung des Erhaltungsguts nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt ist. So ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass die Erforderlichkeit der Notstandshandlung entfällt, wenn zur Gefahrabwehr staatliche bzw. „obrigkeitliche“ Hilfe rechtzeitig in Anspruch genommen werden kann (BGH vom 28.06.2016, 1 StR 613/15, aaO sowie Urteil vom 03.02.1993, 3 StR 356/92, BGHSt 39, 133, 137; Fischer aaO § 34 Rdn. 9a; LK-StGB/Zieschang aaO Rdn. 94). Demgemäß scheidet eine Rechtfertigung durch § 34 StGB auch regelmäßig aus, wenn die Lösung der von dieser Vorschrift vorausgesetzten Konfliktlage zwischen dem Erhaltungsgut und dem Eingriffsgut einem besonderen Verfahren oder einer bestimmten Institution vorbehalten ist (BGH vom 28.06.2016, 1 StR 613/15 aaO Rdn. 13; Perron in: Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl., § 34 Rdn. 41;). Diesem Gedanken folgend ist in der früheren obergerichtlichen Rechtsprechung bezüglich des Ausschlusses einer Rechtfertigung des unerlaubten Umgangs mit Cannabis durch § 34 StGB zutreffend auf die Möglichkeit einer Genehmigung des Einsatzes von Cannabis zum Zweck der schmerzlindernden Eigenbehandlung gemäß § 3 Abs. 2 BtMG abgestellt worden (vgl. BGH vom 28.06.2016, 1 StR 613/15, aaO Rdn. 13; SchönkeSchröder/Perron aaO); dies gilt nun ebenso für die Nachfolgeregelungen in §§ 13 BtMG, 31 Abs. 6 SGB V (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 05.10.2023, 1 QRs 27/23, PharmR 2024, 38, 39f.). Nichts Anderes kann jedoch nach Auffassung des Senates für die vorliegende Konstellation gelten, in der der Bruder der Angeklagten seinen Anspruch auf die notwendige Heilbehandlung in der Haft nach Art. 60 Abs. 1 BayStVollzG nach einer ggf. ablehnenden Entscheidung der JVA im gerichtlichen Verfahren nach §§ 109ff. StVollzG durchsetzen kann (vgl. zu den Voraussetzungen im Einzelnen BayObLG, Beschluss vom 29.01.2024, 203 StObWs 551/23, BeckRS 2024, 11439, Rdn. 30ff.).
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Nach den Feststellungen der Berufungskammer hat der Bruder der Angeklagten diesen Rechtsweg jedoch nicht beschritten (UA S. 3 und 6) und somit die ihm grundsätzlich zur Verfügung stehende „obrigkeitliche“ Hilfe nicht in Anspruch genommen.
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Nothilfe nach § 34 StGB durch das Einschmuggeln von Drogen in die JVA kam daher auch deshalb nicht in Betracht, weil sie nicht das mildeste Mittel war.
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2. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat jedoch Erfolg, weil die Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums der Angeklagten mit der Folge des Entfalls der Vorsatzstrafbarkeit auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen rechtsfehlerhaft war.
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a) Ein Erlaubnistatbestandsirrtum liegt vor, wenn der Täter irrig Umstände annimmt, die, lägen sie vor, einen rechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund erfüllen würden (vgl. LK-StGB/Vogel-Bülte aaO § 16 Rd. 110 m. w. N.); nur ein nach § 17 StGB zu behandelnder Erlaubnisirrtum liegt dagegen vor, wenn der Täter die Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes weiter zieht als von Rechts wegen anerkannt (LK-StGB/Vogel-Bülte aaO § 16 Rdn. 123).
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Ein Erlaubnistatbestandsirrtum käme daher aus Sicht der Angeklagten grundsätzlich in Frage, wenn sie auf Angaben ihres Bruders vertraut hätte, aus denen sich eine gegenwärtige Gefahr ergab, die nicht anders als durch die Tathandlung abwendbar war. Derartige, widerspruchsfreie Feststellungen hat die Kammer jedoch nicht getroffen. Sie führt zwar einerseits aus, die Angeklagte sei davon ausgegangen, ihr Bruder leide stark unter Drogenentzug (UA S. 6), gibt aber keine entsprechenden Aussagen ihres Bruders wieder (UA S. 3.). Aus dessen Angaben scheint die Kammer naheliegenderweise eher zu schließen, dass die Angeklagte ihm die Drogen deshalb zur Verfügung stellte, um ihn vor Schwierigkeiten (u. a. Schlägereien) bei der anderweitigen Beschaffung von Drogen zu bewahren (UA S. 3, 4); dies würde für ein Eingreifen von § 34 StGB ersichtlich nicht ausreichen. Bereits deshalb kann die Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums und die daraus folgende Verneinung des Vorsatzes der Angeklagten keinen Bestand haben.
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b) Das Landgericht (und auch die Revision im Schriftsatz vom 24. April 2024, S. 3f.) hat jedoch zusätzlich verkannt, dass beim rechtfertigenden Notstand nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der der Senat folgt, ein Erlaubnistatbestandsirrtum und ein Entfall des Vorsatzes nur in Betracht kommen, wenn der Täter die Sachlage pflichtgemäß geprüft hat (vgl. etwa Urteil vom 16.09.1986, 5 StR 51/86, zitiert nach juris, dort Rdn. 4 (für alle Arten des Notstands) und Urteil vom 21.05.1992, 4 StR 140/92, zitiert nach juris, dort Rdn. 8 (für § 35 StGB); siehe auch LKStGB/Vogel-Bülte aaO § 16 Rdn. 113). Hiermit hat sich die Berufungskammer demzufolge nicht auseinandergesetzt. Die Ausführungen des Landgerichts zur Fahrlässigkeit der Angeklagten (UA S. 8) lassen allerdings eher darauf schließen, dass die Angeklagte dieser Prüfungspflicht nicht ausreichend nachgekommen sein könnte. Sollte die Angeklagte geglaubt haben, eine solche Prüfung sei nicht nötig, führt das allenfalls zur Annahme eines Verbotsirrtums (vgl. LK-StGB/Vogel-Bülte aaO § 16 Rdn. 113). Auch deshalb hat die Revision der Staatsanwaltschaft Erfolg.
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3. Hinsichtlich des erfolgten Schuldspruches hat jedoch auch die Revision der Angeklagten mit ihrem Hilfsantrag Erfolg, weil auf der Grundlage der lückenhaften und widersprüchlichen Feststellungen des Landgerichts (siehe oben 2a) auch eine Fahrlässigkeit der Angeklagten nicht ausreichend belegt ist.
III.
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1. Das angefochtene Urteil war daher im angefochtenen Umfang einschließlich der zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO).
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2. Die Sache war nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revisionen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Traunstein zurückzuverweisen.