Titel:
Inobhutnahme eines Kindes – erfolgloser Eilantrag
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Leitsatz:
Für die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls – iRd Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII sogar einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl – bedarf es stets einer hinreichenden Tatsachengrundlage, aus der ablesbar ist, dass entweder bereits ein Schaden beim Kind eingetreten oder aber bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz (abgelehnt), Inobhutnahme, Begründung Sofortvollzug, „Amtshilfe“ beim Vollzug, Dringende Gefahr für das Wohl des Kindes, vorläufiger Rechtsschutz, dringende Gefahr für das Wohl des Kindes
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 02.10.2024 – 12 CS 24.1408
Fundstelle:
BeckRS 2024, 19993
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller wird abgelehnt.
Gründe
1
Die Antragsteller begehren die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 17. Juli 2024 über die Inobhutnahme ihres Sohnes S. und die Herausgabe des Kindes an die Antragstellerin zu 1).
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Die Antragsteller sind die sorgeberechtigten Eltern ihres am ... 2022 geborenen Sohnes S.
3
Die Antragstellerin zu 1) befand sich mit S. seit dem 3. Juli 2024 für ein stationäres, therapeutisches Mutter-Kind-Clearing im Familienhaus M., das sich im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners befindet.
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Das Familienhaus M. trug in einer Stellungnahme vom 15. Juli 2024 gegenüber dem für die Familie zuständigem Jugendamt des Landkreises W. vor, dass aufgrund des Verhaltens der Antragstellerin zu 1) in der Einrichtung Anhaltspunkte für eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohl nach § 8a SGB VIII vorliegen würden, sobald diese die Einrichtung verlasse und alleine für ihr Kind Verantwortung tragen müsste. Es werde daher eine unverzügliche Herausnahme des Kindes empfohlen. Die Antragstellerin zu 1) zeige insbesondere Vernachlässigungsmomente in der Ernährung, Körperhygiene und Pflege des Kindes. Misshandlungen würden sich zum Beispiel in grobem Anfassen, an einer Extremität hinter sich herziehen und auf die Finger schlagen, zeigen. Die Antragstellerin lasse ihren Sohn auch selbst an gefährlichen Orten unmittelbar allein. Dies geschehe auch, wenn Hinweise vom Fachpersonal bezüglich der Sicherheit des Kindes (am Fluss, Treppenabsatz, etc.) an sie herangetragen würden.
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Mit Schreiben vom 16. Juli 2024 regte der Landkreis W. beim Amtsgericht W. einen „einstweiligen Entzug der elterlichen Sorge nach § 1666 BGB an. Beide Elternteile seien nicht in der Lage, dem Kind ein stabiles und sicheres Umfeld zu bieten. Es bestehe die akute Gefahr, dass S. sowohl körperlich als auch psychisch weiterhin nachhaltig geschädigt werde, sollte er auch in Zukunft durch seine Eltern betreut werden. Die Antragstellerin zu 1) zeige sich seit der Aufnahme in die Einrichtung unkooperativ und verweigere die Annahme von Hilfe und Unterstützung. Sie habe keine Problemeinsicht und im Umgang mit ihrem Sohn kein Gefahrenbewusstsein gezeigt, weshalb die Einrichtung die Maßnahme zum 17. Juli 2024 beenden werde. Eine Rückkehr von S. in den elterlichen Haushalt würde das Kindeswohl massiv gefährden.
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Ebenfalls mit Schreiben vom 16. Juli 2024 teilte der Landkreis W. dem Antragsgegner mit, dass infolge des Verhaltens der Antragsteller „gewichtige Anhaltspunkte im Rahmen des § 8a SGB VIII“ vorliegen würden.
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Laut einem Aktenvermerk des Antragsgegners teilte die Sozialpädagogin des Jugendamts W. diesem am 17. Juli 2024 um circa 11.00 Uhr telefonisch mit, dass das Amtsgericht W. keine einstweilige Verfügung erlassen, sondern eine Anhörung für den 25. Juli 2024 festgelegt habe. Die Einrichtung habe bereits am Montag mitgeteilt, dass es „nicht weitergehe“ und sie die „Kindsmutter mit Kind nicht weiter tragen“ könnten Sie hätten schon häufiger beobachtet, wie das Kind allein am offenen Fenster gespielt habe oder die Treppen unbeaufsichtigt heruntergelaufen sei. Die Fachkräfte könnten keine 1 zu 1 Betreuung gewährleisten. Um 13.00 Uhr werde ein Gespräch mit der Antragstellerin in der Einrichtung stattfinden und ihr das weitere Vorgehen erläutert. Das Jugendamt W. habe eine Bereitschaftspflege und könne das Kind nach Inobhutnahme durch den Antragsgegner dort unterbringen.
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In Rahmen einer internen Besprechung am selben Tag kam der Antragsgegner zu dem Ergebnis, dass eine akute Gefährdung von S. gegeben sei, sobald der Aufenthalt in der Einrichtung beendet werde. Der Schutz des Kindes könne bei den Antragstellern bis zur Gerichtsverhandlung nicht sichergestellt werden. Eine Inobhutnahme sei unumgänglich.
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Der Sozialpädagogin des Landkreises W. wurde daraufhin telefonisch mitgeteilt, dass eine Inobhutnahme telefonisch ausgesprochen werde. Der Antragsgegner solle kontaktiert werden, sobald die Mitarbeiterin des Landkreises W. vor Ort sei, so dass mit der Antragstellerin zu 1) gesprochen werden könne. Die „Inobhutnahmebescheinigung“ werde in die Einrichtung gefaxt.
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Bei dem folgenden Telefonat um 17.07 Uhr teilte die Mitarbeiterin des Landkreises W. mit, dass die Antragstellerin zu 1) nicht mit der Inobhutnahme einverstanden sei und nicht mit dem Antragsgegner telefonieren wolle. Das Fax mit dem Inobhutnahmebescheid sei ihr durch das Jugendamt W. ausgehändigt worden.
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Der Antragsteller zu 2) wurde telefonisch über die Inobhutnahme durch den Antragsgegner informiert und teilte mit, dass er mit der Inobhutnahme nicht einverstanden sei.
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Mit schriftlichen Bescheid vom 17. Juli 2024 an die Antragsteller wurde diesen mitgeteilt, dass ihr Kind S. an diesem Tag in Obhut genommen worden und vorläufig bei einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht worden sei. Die sofortige Vollziehung werde angeordnet.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass nach Beendigung der Hilfe in der Mutter-Kind-Einrichtung ein Verbleib bei der Antragstellerin zu 1) nicht zu verantworten sei. Letztere könne nach Angaben der Einrichtung Gefahren für ihren Sohn kaum einschätzen und dessen Versorgung sei ohne engmaschige Hilfe nicht gegeben. Die Antragstellerin zu 1) nehme Hilfsangebote in der Einrichtung kaum an. Die Einrichtung melde erhebliche Gefährdungsmerkmale. Das Gericht sei seitens des Jugendamtes W. bereits informiert worden und habe eine Anhörung Ende der folgenden Woche terminiert. Da der Schutz des Kindes bis dahin nicht gewährleistet sei, spreche der Antragsgegner die Inobhutnahme aus.
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Die Bevollmächtigten der Antragsteller erhoben am 24. Juli 2024 beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid vom 17. Juli 2024 (M 18 K 24.4442) und beantragten mit Schriftsatz vom gleichen Tag,
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die aufschiebende Wirkung der Klage in der Hauptsache gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 17. Juli 2024 wiederherzustellen und die Herausgabe des Kindes S. an die Antragstellerin zu 1) bis zur Entscheidung in der Hauptsache anzuordnen.
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragsgegner am 17. Juli 2024 keine Inobhutnahme habe anordnen dürfen, sondern die Entscheidung des Familiengerichts hätte abwarten müssen. Eine akute Gefährdung, die ein Abwarten der familiengerichtlichen Entscheidung nicht zugelassen hätte, habe nicht vorgelegen. Denn die Antragstellerin zu 1) habe sich im Zeitpunkt der Inobhutnahme noch in einer betreuten Einrichtung befunden. Es sei nie festgestellt worden, dass von ihr eine akute Gefahr für ihren Sohn ausgehe. Zudem wäre sie nach der Beendigung ihres Aufenthalts in der Mutter-Kind-Einrichtung nicht zwangsläufig in die gemeinsame Wohnung mit dem Antragsteller zu 2) zurückgekehrt. Es hätte zahlreiche andere und „wesentlich geringere“ Möglichkeiten der Unterbringung der Antragstellerin zu 1) mit ihrem Sohn bis zur familiengerichtlichen Entscheidung gegeben.
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Gleichzeitig stellte der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller den Antrag,
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den Antragstellern Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihn als Prozesskostenhilfevertreter beizuordnen.
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Der Antragsgegner legte die Behördenakten vor und nahm zum Eilantrag mit Schreiben vom 26. Juli 2024 dahingehend Stellung, dass er die Inobhutnahme nach Abbruch der Hilfe in der Einrichtung M. habe durchführen müssen. Die Inobhutnahme sei aufgrund der vorliegenden Faktenlage rechtmäßig getroffen worden. Eine alternative Entscheidung sei nicht möglich gewesen. Das Amtsgericht W. sei vor und nach der Inobhutnahme informiert worden. Ein entsprechender Antrag sei dort vorab gestellt worden.
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Am selben Tag bestätigte die Einrichtung M. gegenüber dem Antragsgegner per E-Mail, dass die Jugendhilfemaßnahme nach § 19 SGB VIII für die Antragstellerin zu 1) und S. am 17. Juli 2024 von Seiten der Einrichtung beendet worden sei, da die Sicherheit und das Wohl des Kindes nicht mehr habe gewährleistet werden können.
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Ebenfalls am 26. Juli 2024 stellte der Antragsgegner beim Amtsgericht W. einen Antrag auf Entzug von Teilbereichen der elterlichen Sorge und Übertragung auf das Kreisjugendamt Weißenburg-Gunzenhausen zur Abwendung einer Gefährdung nach § 8a SGB VIII i.V.m. § 1666 BGB i.V.m. § 42 Abs. 3 SGB VIII.
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Am 25. Juli fand (wohl) ein Anhörungstermin vor dem Amtsgericht W. ohne Entscheidung in der Sache statt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Klageverfahren (M 18 K 24.4442) und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
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Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessensabwägung. Sofern der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO.
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Vorliegend ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO); über die streitgegenständliche Rechtmäßigkeit einer Inobhutnahme entscheidet ausschließlich das Verwaltungsgericht und nicht das Familiengericht (st. Rspr., vgl. OVG NW, B.v. 11.9.2019 – 12 B 1020/12; OLG Frankfurt, B.v. 22.1.2019 – 4 WF 145/18; OVG Lüneburg, B.v. 18.9.2009 – 4 LA 706/07 – jeweils juris).
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Zum maßgeblichen Zeitpunkt des vorliegenden Verfahrens, dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 80 Rn. 105), stellt sich nach summarische Prüfung sowohl die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Inobhutnahme als auch diese selbst als rechtmäßig dar, so dass das Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung der Inobhutnahme überwiegt.
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1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Inobhutnahme war formell rechtmäßig:
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Die Inobhutnahme stellt für die Antragsteller einen belastenden (Dauer-)Verwaltungsakt gemäß § 31 Satz 1 SGB X dar, der gemäß §§ 37 Abs. 1, 39 Abs. 1 SGB X mit seiner Bekanntgabe an die Sorgeberechtigten, die gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 SGB X auch mündlich erfolgen kann, wirksam wird (vgl. BayVGH, B.v. 20.1.2014 – 12 ZB 12.2766 – juris Rn. 16; VGH BW, B.v. 4.11.2021 – 12 S 3125/21 – juris Rn. 25; VG Augsburg, U.v. 7.7.2020 – Au 3 K 19.148 – juris Rn. 25; VG München, B.v. 29.6.2023 – M 18 S 23.3110 – juris Rn. 32; VG München, B.v. 2.10.2020 – M 18 S 20.4482 – juris Rn. 41).
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Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Eine Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 1 SGB VIII wird vom Tatbestand des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 und 3 VwGO nicht umfasst, die aufschiebende Wirkung entfällt daher auch nicht ausnahmsweise kraft Gesetzes (vgl. VG München, B.v. 29.6.2023 – M 18 S 23.3110 – juris Rn. 33; VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 22 ff. m.w.N.; Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 67; Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 100).
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Im Fall der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO hat gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO die Begründung schriftlich zu erfolgen (vgl. VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 24; VG Würzburg, B.v. 5.6.2018 – W 3 S 18.745 – juris Rn. 23 m.w.N.; OLG Frankfurt, B.v. 22.1.2019 – 4 WF 145718 – juris – Leitsatz 2, Rn. 15). Erforderlich ist eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses dafür, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass hinter dieses erhebliche öffentliche Interesse das Interesse des Betroffenen zurücktreten muss, zunächst von dem von ihm bekämpften Verwaltungsakt nicht betroffen zu werden. Zwar mögen bei Maßnahmen die zur Abwehr von Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter dienen und die grundsätzlich nur in akuten Gefährdungssituationen in Betracht kommen – wie der Inobhutnahme – die Anforderungen zur Begründung des besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses deutlich geringer sein, dennoch können sie nicht völlig entfallen (vgl. VG München, B.v. 29.6.2023 – M 18 S 23.3110 – juris Rn. 36; VG München, B.v. 7.8.2019 – M 18 E 19.3759 – Rn 35 n.v.).
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Die Begründung im streitgegenständlichen Bescheid vom 17. Juli 2024 ist aus Sicht des Gerichts gerade noch ausreichend, um den dort angeordneten Sofortvollzug hinreichend nachvollziehbar zu machen.
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In der vorliegenden Sondersituation, in der der Antragsgegner das Erfordernis zur Inobhutnahme ausschließlich in der Änderung der äußeren Umstände, nämlich der unmittelbar bevorstehenden Beendigung des Aufenthalts in der Mutter-Kind-Einrichtung sieht, liegen der Inobhutnahme die gleichen Gründe zu Grunde, die auch die Anordnung des Sofortvollzugs begründen, so dass ausnahmsweise auf eine eigenständige Begründung hierzu verzichten werden durfte (vgl. VG München, B.v. 29.6.2023 – M 18 S 23.3110 – juris Rn. 39). Die Begründung selbst ist zwar sehr knapp. Dennoch enthält sie nicht nur formelhafte Ausführungen, sondern der Antragsgegner argumentiert auf den konkreten Einzelfall bezogen damit, dass nach Beendigung der Hilfe in der Mutter-Kind-Einrichtung eine akute Gefährdungssituation für S. vorliege. Die Einrichtung habe insbesondere gemeldet, dass die Antragstellerin zu 1) Gefahren für ihren Sohn kaum einschätzen könne und dass dessen Versorgung ohne engmaschige Hilfe nicht gegeben gewesen sei. Da der Antragsgegner in der Begründung des Bescheids zudem argumentierte, dass angesichts dessen ein Verbleib von S. bei der Antragstellerin zu 1) nicht zu verantworten sei und der Schutz des Kindes bis zu der – erst eine Woche später anberaumten – Anhörung vor dem Familiengericht nicht gewährleistet sei, ist aus Sicht des Gerichts gerade noch von einer ausreichenden Darlegung des besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses, hinter dem das Interesse der Antragsteller zurücktreten müsse, auszugehen.
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2. Bei summarischer Prüfung stellt sich die Inobhutnahme auch im Übrigen als rechtmäßig dar:
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2.1. Der Antragsgegner war für die Inobhutnahme örtlich zuständig und war insoweit auch stets „Herr des Verfahrens“.
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Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist für die Inobhutnahme eines Kindes der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält. Vorliegend hielt sich S. vor Beginn der Inobhutnahme im Familienhaus M. auf, das sich im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners befindet. Der somit örtlich zuständige Antragsgegner hat die Inobhutnahme auch selbst angeordnet, wohingegen der Landkreis W. lediglich bei Vorbereitung und Vollzug der Inobhutnahme im Rahmen einer Amtshilfe, § 6 SGB X, auf Ersuchen des Antragsgegners hin tätig wurde. Denn es war der Antragsgegner, der am 17. Juli 2024 zu der Einschätzung gelangte, dass eine Inobhutnahme von S. unumgänglich sei und dass das Kind in seinem Auftrag durch das Jugendamt W. zu einer Bereitschaftspflegefamilie gebracht werden solle. Es war auch der Antragsgegner, der die Inobhutnahme dann telefonisch anordnete sowie den streitgegenständlichen Bescheid erstellte und in die Einrichtung faxte. Er versuchte zudem, telefonisch mit der Antragstellerin zu 1) zu sprechen, was diese aber ablehnte. Die in der Einrichtung anwesende Sozialpädagogin des Landkreises W. wurde lediglich beim Vollzug der Inobhutnahme in „Amtshilfe“ für den Antragsgegner tätig, indem sie insbesondere die Antragstellerin zu 1) persönlich über die vom Antragsgegner telefonisch ausgesprochene Inobhutnahme informierte, ihr den gefaxten Inobhutnahmebescheid aushändigte sowie das Kind in die Bereitschaftspflegefamilie verbrachte.
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2.2. Auch die materiellen Tatbestandsvoraussetzungen für eine Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII lagen bei summarischer Prüfung im Zeitpunkt von deren Anordnung durch den Antragsgegner vor und sind auch weiterhin gegeben.
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Gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes die Inobhutnahme erfordert und entweder a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.
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a) Vorliegend durfte der Antragsgegner bei summarischer Prüfung im Anordnungszeitpunkt der Inobhutnahme davon ausgehen, dass eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes im Sinne von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII vorlag.
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Eine dringende Gefahr im diesem Sinne muss – angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht – stets eine konkrete Gefahr sein. Eine lediglich latente bzw. abstrakte Gefahr für das Kindeswohl reicht zur Rechtfertigung einer Inobhutnahme hingegen nicht aus (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 -juris Rn. 9). Zudem gehören nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, B.v. 29.1.2010 – 1 BvR 374/09 – NJW 2010, 2333; B.v. 27.8.2014 – 1 BvR 1822/14 – FamRZ 2014, 1772 ff. Rn. 25) die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes und es unterfällt demzufolge nicht dem Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen. Es berechtigt daher nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, die Eltern bei der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten. Für die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls – im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII sogar einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl – bedarf es daher stets einer hinreichenden Tatsachengrundlage, aus der ablesbar ist, dass entweder bereits ein Schaden beim Kind eingetreten oder aber bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 12).
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Angesichts dessen ging der Antragsgegner bei summarischer Prüfung am 17. Juli 2024 bei prognostischer ex-ante-Betrachtung (siehe hierzu: VGH NW, B.v. 17.2.2021 – 12 E 902/20 – juris Rn. 14 ff.) zu Recht davon aus, dass diese Voraussetzungen erfüllt waren.
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Der Antragsgegner stützte seine Entscheidung maßgeblich insbesondere auf den Umstand, dass die Antragstellerin zu 1) die Sicherheit und Unversehrtheit ihres Sohnes durch ihr fehlendes Gefahrenbewusstsein erheblich gefährde. Im streitgegenständlichen Bescheid vom 17. Juli 2024 führte er hierzu insbesondere aus, dass nach Beendigung der Hilfe in der Mutter-Kind-Einrichtung ein Verbleib bei der Antragstellerin zu 1) nicht zu verantworten sei. Letztere könne nach Angaben der Einrichtung Gefahren für ihren Sohn kaum einschätzen. Die Einrichtung melde erhebliche Gefährdungsmerkmale. Konkret führte die Einrichtung hierzu in ihrer Stellungnahme vom 15. Juli 2024, die dem Antragsgegner am 16. Juli 2024 zugeleitet wurde, insbesondere aus, dass die Überzeugungen der Antragstellerin zu 1) dem Kindeswohl von S. entgegenstehe und die Grenze zur Vernachlässigung, Gefährdung und Misshandlung überschreite. Die Antragstellerin zu 1) scheine darüber hinaus keinerlei Gefahrenbewusstsein zu haben oder gebe sich mangelndem Antrieb und Gleichgültigkeit hin. Das zeige sich bei der Begleitung ihres Sohnes im Straßenverkehr, an Gewässern, im Haushalt und dem Hantieren mit Gegenständen des Jungen. Die Antragstellerin zu 1) lasse ihren Sohn selbst an gefährlichen Orten unmittelbar allein. Dies geschehe auch, wenn Hinweise vom Fachpersonal bezüglich der Sicherheit des Kindes (am Fluss, Treppenabsatz, etc.) an sie herangetragen würden. Die Einrichtung kam daher zu der Einschätzung, dass es Anhaltspunkte für eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls nach § 8a SGB VIII gebe, sobald die Antragstellerin zu 1) mit S. die Einrichtung verlasse und allein die Verantwortung für das Kind trage. Es wurde daher die unverzügliche Herausnahme des Kindes empfohlen. Darüber hinaus unterrichtete die Sozialpädagogin des Landkreises W. den Antragsgegner am 17. Juli 2024 vor dessen Entscheidung, die Inobhutnahme von S. anzuordnen, darüber, dass die Einrichtung schon öfter beobachtet habe, wie S. alleine am offenen Fenster gespielt habe oder die Treppen unbeaufsichtigt heruntergelaufen sei. In einer Meldung der Einrichtung vom 17. Juli 2024 wurde zudem ausgeführt, dass sich die Situation in den Tagen zuvor verschärft habe und dass die Antragstellerin zu 1) die Sicherheit ihres Sohnes nicht gewährleisten könne. Es ist davon auszugehen, dass jedenfalls der Inhalt dieser Meldung dem Antragsgegner im Zeitpunkt der Anordnung der Inobhutnahme bekannt war. Denn die Sozialpädagogin des Landkreises W. telefonierte am 17. Juli 2024 mehrfach mit dem Antragsgegner und hielt ihn dabei über die jeweils aktuelle Einschätzung der Gefahranlage durch die Einrichtung auf dem Laufenden.
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Zwar sind die o.g. Schilderungen der Einrichtung zum fehlenden Gefahrenbewusstsein der Antragstellerin zu 1) und zur fehlende Beaufsichtigung von S. durch sie an den genannten „gefährlichen Orten“ eher knapp und wenig konkret gehalten. So kann deren Ausführungen beispielsweise nicht entnommen werden, wie nah das Kind an dem erwähnten Fluss spielte, als die Antragstellerin zu 1) ihn dort unbeaufsichtigt ließ, wie die konkreten Umstände vor dem geöffneten Fenster waren, vor welchem S. alleine spielte und inwieweit im Straßenverkehr sowie beim unbeaufsichtigten Herunterlaufen von Treppen durch die fehlende Beaufsichtigung durch die Antragstellerin zu 1) bereits konkrete Gefahrenmomente ohne Eingreifen der Betreuer zu erwarten gewesen wären.
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Jedoch ist insoweit auch zu berücksichtigen, dass es sich bei S. um ein erst fast zweijähriges Kind handelt und bei derart jungen Kindern noch von keinerlei Gefahrbewusstsein ausgegangen werden muss. Bei einem Kind in diesem Alter besteht somit stets die erhebliche konkrete Gefahr, dass es zu schwerwiegenden und potentiell tödlichen Unfällen kommen kann, wenn es sich unbeaufsichtigt an Gefahrenstellen, wie einem offenen Fenster, einem Fluss, im Straßenverkehr oder an einem oberen Treppenabsatz aufhält. Zwar können Unfälle bei Kleinkindern auch bei bester Betreuung nie mit absoluter Sicherheit verhindert werden. Dennoch durfte der Antragsgegner trotz der oben geschilderten eher spärlichen Dokumentation der o.g. Vorfälle durch die Einrichtung bei summarischer Prüfung annehmen, dass das Verhalten der Antragstellerin zu 1) in der Mutter-Kind-Einrichtung eine konkrete und nicht nur latente bzw. abstrakte Gefahr für das Kindeswohl darstellte. Denn die Schilderungen der Einrichtung waren zumindest insoweit sehr klar und eindeutig, dass die Antragstellerin zu 1) ihr sehr junges Kind gleich an mehreren für Kleinkinder besonders gefährlichen Orten unbeaufsichtigt ließ und keinerlei Problembewusstsein zeigte. Daher durfte der Antragsgegner nach der allgemeinen Lebenserfahrung annehmen, dass bei einer alleinigen Betreuung durch die Antragstellerin zu 1) nach Entlassung aus der Einrichtung am 17. Juli 2024 eine erhebliche Schädigung von S. mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten gewesen wäre.
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Die Antragstellerseite hat im gerichtlichen Verfahren zwar vorgetragen, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen bei S. bislang nicht festgestellt worden seien und dass weder beim Kinderarzt, noch in der Kindertagesstätte oder von den Familienhelferinnen jemals festgestellt worden sei, dass von ihr eine akute Gefahr für ihren Sohn ausgehe. Hierdurch kann die Antragstellerseite jedoch den Eintritt von den beschriebenen konkreten Gefährdungssituationen nicht widerlegen. Aus den dem Gericht vorliegenden Akten ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Einrichtung diese Ereignisse übertrieben dargestellt haben könnte.
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Angesichts der Ausführungen des Landkreises W. in der „Anregung auf einstweiligen Entzug der elterlichen Sorge“ gegenüber dem Amtsgericht Weißenburg-Gunzenhausen durfte der Antragsgegner auch hinsichtlich des ebenfalls sorgeberechtigten Antragstellers zu 2) davon ausgehen, dass bei einer Betreuung des Kindes durch ihn nach Entlassung aus der Einrichtung M. eine dringende Gefahr für das Kindeswohl bestanden hätte. Denn dort wurde insbesondere geschildert, dass er Alkoholiker sei und aufgrund diverser Meldungen nicht in der Lage sei, die Betreuung und Versorgung von S. zu übernehmen. Dies gelte umso mehr, als er laut der letzten Polizeimeldung alkoholisiert und äußerst aggressiv gegenüber S. aufgetreten sei und sogar mehrfach mit einem erweiterten Suizid gedroht habe. Daher sei in einem Schutzkonzept vereinbart worden, dass der Antragsteller zu 2) zum Schutz des Kindes die gemeinsame Wohnung verlasse und mit S. lediglich begleiteten Umgang wahrnehmen dürfe.
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Dem Gericht liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass zwischen der Anordnung der Inobhutnahme und dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidungen neuere Entwicklungen eingetreten wäre, die dazu führen, dass der Antragsgegner im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr vom Bestehen einer dringen Gefahr für das Kindeswohl von S. bei einer alleinigen Betreuung durch die Antragsteller ausgehen durfte. Vielmehr bestätigte die Einrichtung mit E-Mail vom 26. Juli 2024, dass der Umstand, dass die Sicherheit und das Wohl des Kindes nicht mehr hätten gewährleistet werden können, der Grund dafür gewesen sei, dass sie die Jugendhilfemaßnahme am 17. Juli 2024 beendet habe.
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b) Zudem konnte der Antragsgegner bei summarischer Prüfung trotz hinreichender Bemühungen bis zum Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig einholen im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII.
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Bei einem Widerspruch der Personensorgeberechtigten kommt eine Inobhutnahme, bei der es sich um einen wesentlichen Eingriff in das grundrechtlich gemäß Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Elternrecht handelt, nur in Betracht, wenn eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Die Inobhutnahme ist somit ultima ratio und gegenüber Entscheidungen des Familiengerichts nachrangig. Vor der Inobhutnahme muss deshalb grundsätzlich versucht werden, eine Entscheidung des Familiengerichts einzuholen. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob ein Gericht rechtzeitig „kontaktiert“ werden kann oder ob ein Antrag beim Familiengericht rechtzeitig hätte gestellt werden können. Vielmehr ist maßgeblich darauf abzustellen, ob eine Entscheidung des Familiengerichts, und sei es eine einstweilige Anordnung, noch rechtzeitig hätte erwirkt werden können, um der Kindeswohlgefährdung zu begegnen. Bloße Vermutungen, dass das Gericht nicht erreichbar sei oder eine Entscheidung innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit nicht treffen werde, genügen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 4 ff., 14; OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 129 ff.; VGH BW, B.v. 4.11.2021 – 12 S 3125/21 – juris Rn. 31 ff.; OVG M-V, B.v. 26.4.2018 – 1 LZ 238/17 – juris Rn. 6; VG München, B.v. 29.6.2023 – M 18 S 23.3110 – juris Rn. 52 ff.; VG München, GB v. 4.4.2023 – M 18 K 18.5285 – juris Rn. 69 ff. m.w.N.).
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Bis zum Zeitpunkt der Anordnung der Inobhutnahme am 17. Juli 2024 wäre aus Sicht des Gerichts eine rechtzeitige familiengerichtliche Entscheidung für den Antragsteller i.S.v. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII zwar in zeitlicher Hinsicht möglich gewesen. Denn der – insoweit noch zuständige – Landkreis W. übermittelte bereits am 16. Juli 2024 eine Anregung auf einstweiligen Entzug der elterlichen Sorge nach § 1666 BGB an das Amtsgericht W., so dass eine Entscheidung bis zur Entlassung der Antragstellerin zu 1) aus der Einrichtung am 17. Juli 2024 möglich gewesen wäre. Jedoch hat das Amtsgericht eine solche Entscheidung nicht getroffen, sondern zunächst erst für den 25. Juli 2024 einen Erörterungstermin angesetzt und auch bei diesem – soweit bekannt – keine Entscheidung in der Sache getroffen.
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Grundsätzlich ist dem Jugendamt damit auf Grund des Vorrangs des Familiengerichts zu sorgerechtlichen Entscheidungen während einer solchen Situation eine Inobhutnahme verwehrt (vgl. VG Hannover, B.v. 13.2.2023 – 3 B 446/23 – juris Rn. 7; Trenczek, JAmt 2023, 155).
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Allerdings muss hiervon im Einzelfall dann eine Ausnahme anerkannt werden, wenn – wie vorliegend – die Gründe der fehlenden Entscheidung des zuständigen Familiengerechtes zum Sorgerecht für das Jugendamt nicht nachvollziehbar sind und die Gefährdungssituation nach deren Beurteilung trotz dessen weiterbesteht (vgl. Kepert, ZKJ 2023, 193 ff., JAmt 2023, 598). Somit kommt eine Inobhutnahme durch das Jugendamt in besonders akuten Gefährdungssituationen in Betracht, wenn sich das Familiengericht trotz Eilbedürftigkeit nicht zu einer Entscheidung durchringt oder unzulässigerweise auf die Möglichkeit der Inobhutnahme verweist (vgl. Meysen in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 8a SGB VIII, Rn. 50) bzw. wenn das Familiengericht trotz klarer Hinweise durch das Jugendamt eine Entscheidung „verweigert“ (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 27.5.2024, § 42 SGB VIII, Rn. 118.2; Hofmann in: jurisPR-SozR 10/2023 Anm. 4 S. 3).
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Ein solcher Fall liegt nach summarischer Prüfung vorliegend vor.
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Denn die o.g. Anregung auf einstweiligen Entzug der elterlichen Sorge vom 16. Juli 2024 enthielt hinreichende Informationen, um das Bestehen einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl i.S.d. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII im vorliegenden Einzelfall zu begründen. Insbesondere war dort auch erwähnt, dass die Einrichtung die Betreuung zum 17. Juli 2024 beenden wird. Vor diesem Hintergrund ist aus Sicht des Gerichts nicht nachvollziehbar, dass eine familiengerichtliche Entscheidung trotz der offensichtlichen Eilbedürftigkeit auf Grund dieser sich wesentlich ändernden tatsächlichen Umstände unterblieb. Offenbar erfolgte insoweit auch keinerlei schriftliche oder mündliche Ausführung oder Erklärung durch das Gericht, zumindest war eine solche dem Antragsgegner nicht bekannt. Eine abweichende Beurteilung der Gefährdungssituation durch das vorrangig zuständige Amtsgericht war daher in keiner Weise dargelegt; vielmehr können auch andere Gründe das Gericht zu dem gewählten Vorgehen veranlasst haben.
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Dementsprechend ergeben sich auch für das erkennende Gericht derzeit keine Gründe, die Gefährdungssituation am 17. Juli 2024 abweichend von den o.g. Ausführungen zu beurteilen. Vielmehr blieb der Antragsgegner in seiner Verantwortung, welche er durch die Inobhutnahme mangels Entscheidung durch das Amtsgericht wahrnahm.
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Ebenso wenig musste der Antragsgegner die Inobhutnahme beenden, nachdem er erfahren hat, dass das Familiengericht auch in bzw. nach dem Anhörungstermin am 25. Juli 2024 weiterhin keine Entscheidung getroffen hat. Denn auch insoweit liegen zumindest derzeit keinerlei Erklärungen des Amtsgerichts vor und steht zu vermuten, dass das Amtsgericht – fehlerhaft (vgl. Meysen in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 8a SGB VIII, Rn. 50) – primär beruhend auf der streitgegenständlichen Inobhutnahme von einer Entscheidung in der Sache absah.
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Im Übrigen agierte der Antragsgegner im Folgenden korrekt und stellte am 26. Juli 2024 und somit unverzüglich einen nunmehr auf § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII gestützten Antrag auf Entzug von Teilbereichen der elterlichen Sorge und deren Übertragung auf das Kreisjugendamt W.
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d) Schließlich war die streitgegenständliche Inobhutnahme bei summarischer Prüfung auch verhältnismäßig (vgl. BayVGH, B.v.9.1.2017 – 12 CS 16.2181 -juris Rn. 16 ff.), insbesondere durfte der Antragsgegner im Zeitpunkt von deren Anordnung davon ausgehen, dass kein milderes gleich wirksames Mittel zur Verfügung stand.
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Zwar führte die Antragstellerseite im gerichtlichen Verfahren insbesondere aus, dass der Antragsgegner am 17. Juli 2024 hätte versuchen können, den Aufenthalt der Antragstellerin zu 1) in der Mutter-Kind-Einrichtung zu verlängern oder eine alternative Einrichtung für die Fortsetzung des Mutter-Kind-Clearings zu finden. Auch sei es möglich gewesen, die Antragstellerin zu 1) bei Freunden oder Verwandten unterzubringen oder eine vorübergehende Unterbringung in einem Frauenhaus herbeizuführen. Jedoch ergibt sich aus den vorgelegten Behördenakten, dass die Einrichtung spätestens am 17. Juli 2024 einen weiteren Verbleib der Antragstellerin zu 1) kategorisch ausschloss und dass der Antragsgegner an diesem Tag keine Alternative zur Unterbringung des Kindes bei einer Bereitschaftspflegefamilie sah. Die vorgelegten Behördenakten enthalten auch keinerlei Hinweise darauf, dass der Antragsgegner an diesem Tag davon ausgehen konnte, dass er die Antragstellerin zu 1) mit ihrem Kind kurzfristig in einer anderen Mutter-Kind-Einrichtung oder in einem Frauenhaus hätte unterbringen können. Auch hatte sich der Antragsgegner bzw. in dessen Auftrag der Landkreis W. im Vorfeld der streitgegenständlichen Inobhutnahme durchaus beschäftigt, ob eine Unterbringung der Antragstellerin zu 1) mit ihrem Kind bei weiteren nahestehenden Personen möglich wäre. So führte der Landkreis W. in seinem Antrag an das Familiengericht vom 16. Juli 2024 aus, dass die Betreuung von S. nach Prüfung auch nicht durch einen Familienangehörigen übernommen werden könne. Im Übrigen hatte der Antragsgegner der Antragstellerin zu 1) am 17. Juli 2024 im Zusammenhang mit der anstehenden Inobhutnahme ein telefonisches Gespräch angeboten. Die Antragstellerin zu 1) hat sich einem solchen Gespräch jedoch verweigert und sich damit selbst die Möglichkeit genommen, im Gespräch mit dem Antragsgegner mögliche Alternativen zu klären. Auch der nunmehr erfolgte Vortrag der Antragstellerseite ist zu allgemein gehalten, um hieraus ableiten zu können, dass für den Antragsgegner in Zeitpunkt der Anordnung der Inobhutnahme tatsächlich ein milderes, gleich wirksames Mittel zur Verfügung stand.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist gerichtskostenfrei nach § 188 Satz 2 VwGO.
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Da bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 bis 4 ZPO notwendige vollständige Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse einschließlich der entsprechenden Belege vor der Erledigung beim Verwaltungsgericht nicht eingegangen sind, war bereits aus diesem Grund der Antrag auf Prozesskostenhilfe zu versagen (VGH BW, B.v. 15.4.2022 – 12 S 3164/21 – juris Rn. 10 m.w.N).