Titel:
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (abgelehnt), Abschiebungsandrohung, Fiktionswirkung, Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit, Fachkraft mit akademischer Ausbildung, Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare inländische Arbeitnehmer
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AufenthG § 81 Abs. 4
AufenthG § 18 Abs. 2 Nr. 2
AufenthG § 39 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
AufenthG § 18b
Schlagworte:
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (abgelehnt), Abschiebungsandrohung, Fiktionswirkung, Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit, Fachkraft mit akademischer Ausbildung, Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare inländische Arbeitnehmer
Fundstelle:
BeckRS 2024, 19238
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. April 2023 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.
Gründe
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Die 36-jährige Antragstellerin georgischer Staatsangehörigkeit begehrt einstweiligen Rechtsschutz bezüglich einer Ablehnung der Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis und einer Abschiebungsandrohung.
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Die Antragstellerin reiste im September 2010 erstmals mit einem nationalen Visum in das Bundesgebiet ein, um einer Tätigkeit als Au-Pair nachzugehen. Zu diesem Zweck erhielt sie am 17. November 2010 erstmals eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Im Anschluss erhielt sie eine Fiktionsbescheinigung sowie Aufenthaltserlaubnis zum Besuch eines studienvorbereitenden Intensivsprachkurses. Am 10. Juni 2013 erhielt sie eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke eines Studiums, die fortlaufend und zuletzt bis zum 10. Juni 2020 verlängert wurde. Die Antragstellerin war zunächst für ein Semester im Studienfach „Betriebswirtschaft“ und anschließend im Studienfach „Politikwissenschaft“ immatrikuliert. Am 27. November 2019 schloss die Antragstellerin ihr Studium mit einem Diplom in Politikwissenschaft ab. Im Anschluss hieran erhielt sie am 19. Februar 2020 eine bis zum 26. Mai 2021 befristete Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche. Am 11. April 2021 immatrikulierte sich die Klägerin an der Universität … im Studienfach „Geschichte/Volkswirtschaftslehre“ und beantragte am 4. Mai 2021 eine Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken. Die Antragstellerin erhielt am 7. Juni 2021 eine Fiktionsbescheinigung, die fortlaufend und zuletzt bis zum 10. Mai 2023 verlängert wurde. Am 20. Dezember 2021, 1. Oktober 2022 sowie 17. Oktober 2022 stellte die Antragstellerin weitere Anträge auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis, unter anderem zum Zwecke der Beschäftigung als „… …“ unter Vorlage eines Arbeitsvertrags mit der … … …
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Am 11. Januar 2023 teilte die von der Antragsgegnerin beteiligte Bundesagentur für Arbeit (Bundesagentur) mit, dass die Zustimmung zur Beschäftigung nicht erteilt werde, da der Hochschulabschluss nicht zur Ausübung der beantragten Tätigkeit befähige. Ferner sei das Gehalt nicht ortsüblich für den Bereich des Recruiting. Die Tätigkeit müsse mit mindestens 3.600,- EUR brutto monatlich vergütet werden. Am 24. Januar 2023 beantragte die Klägerin erneut unter Vorlage des Arbeitsvertrags mit der … … … die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Mit Schreiben vom 27. Januar 2023 zeigte der damalige Bevollmächtigte der Antragstellerin deren Vertretung an und beantragte die Erteilung einer Chancenaufenthaltserlaubnis. Mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 10. Februar 2023 hörte diese die Antragstellerin zu der beabsichtigten Ablehnung sämtlicher Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an.
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Mit Bescheid vom 18. April 2023 wurden die Anträge vom 4. Mai 2021, 20. Dezember 2021, 1. Oktober 2022, 17. Oktober 2022, 24. Januar 2023 und 27. Januar 2023 auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt (Nr. 1), der Antragstellerin eine Ausreisefrist bis zum 31. Mai 2023 gesetzt (Nr. 2), der Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots bei schuldhafter und erheblicher Überschreitung der Ausreisefrist angedroht (Nr. 3) und die Abschiebung unter anderem nach Georgien angedroht (Nr. 4). Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, von der Möglichkeit der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zur Suche nach einem Arbeitsplatz sei vollständig Gebrauch gemacht worden. Gründe, die ein Abweichen von der Höchstaufenthaltsdauer von 18 Monaten rechtfertigen könnten, seien nicht erkennbar und auch nicht vorgetragen worden. Eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken sei nicht möglich, da der Aufenthaltszweck in einem angemessenen Zeitraum nicht mehr erreicht werden könne. Nach einer Prognose auf Grundlage der üblichen Studien- und Aufenthaltszeiten sowie des bisherigen Studienverhaltens der Antragstellerin sei nicht davon auszugehen, dass diese das Studium noch innerhalb eines Gesamtzeitraums von 10 Jahren seit dem erstmaligen Studienbeginn im Bundesgebiet abschließen werde. Die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Beschäftigung seien zwingend zu versagen, da die Bundesagentur der Aufnahme der Beschäftigung nicht zugestimmt habe. Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Rahmen des Chancen-Aufenthaltsrechts sei zu versagen, da die Klägerin derzeit nicht im Besitz einer Duldung, sondern lediglich im Besitz einer Fiktionsbescheinigung sei. Andere Aufenthaltsgründe seien nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen worden. Auch eine Berücksichtigung der persönlichen Interessen der Klägerin führe zu keinem anderen Ergebnis. Duldungsgründe nach § 60a Abs. 2 AufenthG lägen nicht vor.
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Mit Schreiben vom 25. April 2024 teilte der damalige Bevollmächtigte der Antragstellerin mit, dass er das Mandat am 23. Januar 2023 niedergelegt und den Bescheid an den neuen Bevollmächtigten weitergeleitet habe.
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Gegen den Bescheid vom 18. April 2023 hat die Antragstellerin am 12. Mai 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und sinngemäß beantragen lassen, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. April 2023 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin die beantragte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (M 27 K 23* …*).
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Zugleich ließ sie beantragen,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 14. Juli 2023 die Behördenakte vorgelegt und beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wird auf den Bescheid Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 24. Juli 2023 teilte der Bevollmächtigte der Antragstellerin mit, dass er in Kontakt mit der Antragsgegnerin stehe, um eine Einigung zu erzielen. Mit E-Mail vom 18. Oktober 2023 bat der Bevollmächtigte der Antragstellerin um Übersendung einer weiteren Grenzübertrittsbescheinigung. Mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 19. Oktober 2023 wurde eine solche übersandt und eine weitere Ausreisefrist bis zum 18. Dezember 2023 gesetzt.
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Mit Schriftsatz vom 25. Mai 2024 teilte die Antragsgegnerin mit, dass die angeforderten Unterlagen für eine Einigung bisher nicht vorgelegt worden seien. Nach den zuletzt eingereichten Unterlagen liege das angegebene Bruttogehalt immer noch 600,- EUR unter dem durch die Bundesagentur am 11. Januar 2023 genannten Mindestbetrag für eine ortsübliche Entlohnung. Eine außergerichtliche Einigung sei nicht absehbar.
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Mit Schriftsatz vom 21. Juni 2024 legte der Bevollmächtigte der Antragstellerin einen Änderungsvertrag zum ursprünglichen Arbeitsvertrag vom 21. Juni 2024, der ein Bruttogehalt von jährlich 40.000,- EUR enthielt, sowie eine aktualisierte Fassung der Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis vom 21. Juni 2024 vor.
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Das Gericht hat am 18. Juli 2024 mündlich zur Sache verhandelt. Die Antragstellerin und ihr Bevollmächtigter haben angegeben, dass die Antragstellerin im Juni dieses Jahres ca. 650 EUR und in den anderen Monaten zwischen 200 und 330 EUR Provision zusätzlich zu ihrem Bruttojahresgehalt von 40.000,- EUR erhalten habe.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren sowie im Hauptsacheverfahren (M 27 K 23. …*) und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag ist zulässig und begründet.
18
1. Der Antrag ist zulässig. Er ist hinsichtlich der in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltenen Ablehnung der Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie der in Nr. 4 enthaltenen Abschiebungsandrohung statthaft.
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Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ist hinsichtlich der Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis statthaft, falls die Versagung der Aufenthaltserlaubnis zum Erlöschen der Fiktionswirkung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG führt (vgl. BayVGH, B.v. 17.7.2019 – 10 CS 19.1212 – juris Rn. 8 m.w.N.). Der Antrag, der am 4. Mai 2021 bei der zuständigen Ausländerbehörde eingegangen ist, wurde rechtzeitig gestellt, bevor die Geltungsdauer des bisherigen Aufenthaltstitels am 26. Mai 2021 ablief, und hat damit die Fortgeltungsfiktion gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ausgelöst. Diese Vergünstigung ist durch die ablehnende Entscheidung im Bescheid vom 18. April 2023 entfallen. Die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage hat gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG keine aufschiebende Wirkung.
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Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung hat die Klage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 BayVwZVG ebenfalls keine aufschiebende Wirkung.
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2. Der Antrag ist auch begründet.
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Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist bei einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Aussetzungsinteresse vorzunehmen. Dabei nimmt das Gericht eine eigene, originäre Interessenabwägung vor, für die in erster Linie die Erfolgsaussichten in der Hauptsache maßgeblich sind. Im Falle einer voraussichtlich aussichtslosen Klage besteht dabei kein überwiegendes Interesse an einer Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Wird dagegen der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein, so wird regelmäßig nur die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Bei offenen Erfolgsaussichten ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, etwa nach den durch § 80 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO getroffenen Grundsatzregeln, nach der Gewichtung und Beeinträchtigungsintensität der betroffenen Rechtsgüter sowie der Reversibilität im Falle von Fehlentscheidungen.
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Hiernach ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen, da die Erfolgsaussichten der Klage offen sind. Unabhängig von der Ablehnung der Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken, zur Arbeitsplatzsuche und nach dem Chancenaufenthaltsrecht ist derzeit zumindest offen, ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit nach §§ 18, 18b AufenthG hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage zum Entscheidungszeitpunkt (vgl. Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 57) ist offen, ob die Bundesagentur ihre Zustimmung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke der Beschäftigung bei der … … … nach § 18 Abs. 2 Nr. 2, 39 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erteilen wird oder das Gericht die Zustimmung im Hauptsacheverfahren unter Beiladung der Bundesagentur ersetzen wird. Nach § 39 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a AufenthG kann die Bundesagentur in den Fällen der §§ 18a, 18b, 18g Absatz 1 Satz 2 oder des § 18g Absatz 2 AufenthG der Ausübung einer Beschäftigung zustimmen, wenn der Ausländer nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare inländische Arbeitnehmer beschäftigt wird und der Ausländer gemäß § 18a oder § 18b AufenthG eine qualifizierte Beschäftigung ausüben wird. Liegen die materiellen Zustimmungsvoraussetzungen vor, so kann die verwaltungsinterne Zustimmung der Bundesagentur im gerichtlichen Verfahren ersetzt werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.11.2019 – 1 C 41.18 – juris Rn. 32). Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren wird eine bisher fehlende Zustimmung der Bundesagentur jedoch nicht ersetzt (vgl. Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 39 AufenthG Rn. 91).
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Eine Prüfung der mit Schriftsatz vom 12. Juni 2024 von der Antragspartei eingereichten aktualisierten Unterlagen sowie der in der mündlichen Verhandlung zusätzlich gemachten Angaben zu der variablen Vergütungskomponente wird von der Bundesagentur derzeit durchgeführt. Das Ergebnis dieser Prüfung steht zum Entscheidungszeitpunkt noch aus.
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Das Erfordernis der Ausübung einer qualifizierten Beschäftigung, zu der die Qualifikation der Fachkraft diese befähigt, ist in der seit 18. November 2023 geltenden Fassung ebenso wie in § 39 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AufenthG nicht mehr enthalten, sodass dieser Ablehnungsgrund den Anträgen der Antragstellerin jedenfalls nicht mehr entgegengehalten werden kann.
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Aufgrund der nachteiligen Folgen, die eine vollziehbare Ausreisepflicht für die Antragstellerin nach sich ziehen würde, ist im Rahmen der Interessenabwägung dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin der Vorrang einzuräumen.
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Die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids ist ebenfalls anzuordnen. Die Antragstellerin ist als Konsequenz aus der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Versagung des Aufenthaltstitels so zu behandeln, als bestünde die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG fort, weshalb es an der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und damit auch der Abschiebungsandrohung gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG fehlt (vgl. VG Bayreuth, B.v. 4.3.2024 – B 6 S 24.45 – juris Rn. 53).
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 8.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.