Titel:
Kostenerstattung (Abweisung), Vorrang-/Nachrangverhältnis, Sprachstörung, Wesentliche körperliche Behinderung
Normenketten:
SGB X § 104
SGB VIII § 10
SGB IX § 2
SGB IX a.F. § 14
SGB IX § 16
SGB IX § 99
SGB XII § 53
Schlagworte:
Kostenerstattung (Abweisung), Vorrang-/Nachrangverhältnis, Sprachstörung, Wesentliche körperliche Behinderung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 19234
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, ein Sozialhilfeträger, begehrt von dem Beklagten, einem Jugendhilfeträger, Erstattung von Kosten, die für die stationäre Unterbringung des Leistungsempfängers im Zeitraum von 1. Januar 2016 bis 27. Juli 2018 in Höhe von 92.902,63 EUR angefallen sind.
2
In einem Gutachten des Sozialpädiatrischen Zentrums der Kinderklinik G.-P. vom 2. Februar 2012 wurde bei dem am ... Januar 2002 geborenen Leistungsempfänger G. eine drohende soziale Desintegration bei massiver Sprachentwicklungsstörung (Achse I), eine rezeptive und expressive Sprachentwicklungsstörung (ICD-10 F 80.2) sowie eine Lese- und Rechtsschreibstörung (ICD-10 F 81.0) diagnostiziert. Auf Achse III wurde eine normale Intelligenz festgestellt. Im Rahmen der logopädischen Untersuchung wurde eine ausgeprägte Artikulationsstörung diagnostiziert. Es komme in der Spontansprache zu deutlichen Auffälligkeiten. Beim Sprechen scheine die Zunge weit rückverlagert, so dass sich die Stimme etwas „knödelig“ anhöre. Es wurde ausgeführt, dass man von einer ausgeprägten Lese- und Rechtschreibstörung bei vorliegender expressiver wie auch rezeptiver Sprachentwicklungsstörung ausgehe. Es werde ein massives Entwicklungsrisiko der schulischen Integration gesehen. Bisher lägen jedoch keine konkreten Anzeichen einer klinisch relevanten sekundären Symptomatik vor. Prognostisch müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass mit steigendem schulischen Anforderungsniveau sich auch die psychische Belastung erhöhe. Eine Beeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft sei daher zu erwarten. Das Jugendamt möge prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nach § 35a SGB VIII erfüllt seien. Die ausgeprägte rezeptive wie expressive Sprachentwicklungsstörung sei nicht alleine durch die Mehrsprachigkeit zu begründen. Bei durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten seien massive Defizite in allen sprachsystematischen Bereichen zu beobachten.
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Mit Schreiben vom 25. Januar 2013 leitete der Beklagte dem Kläger gemäß § 14 SGB IX einen Antrag der Mutter von G. vom 23. Januar 2013 auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Unterbringung in einem Heilpädagogischen Schülerwohnheim für Hör- und Sprachgeschädigte weiter. Bei G. sei eine rezeptive und expressive Sprachstörung, welche als körperliche Behinderung klassifiziert werde, diagnostiziert worden. Die beantragte Unterbringung beziehe sich auf eben diese körperliche Behinderung, woraus die Zuständigkeit des Klägers folge.
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In einer internen Stellungnahme des Fachdienstes Behindertenhilfe des Klägers vom 23. April 2013 wurde empfohlen, die beantragte Wohnheimaufnahme für G. aufgrund der Förderung der Sprache zu gewähren. Es bestehe aufgrund der rezeptiven und expressiven Sprachentwicklungsstörung die Notwendigkeit einer intensiven Förderung im Rahmen einer Förderschule im Förderschwerpunkt „Sprache“. Der Schulbesuch an der A.-Schule sei mangels adäquaten Alternativen notwendig. Man gehe davon aus, dass die Kommunikationsfähigkeit bei dem Leistungsempfänger eingeschränkt sei. Da er sich kommunikativ zeige, ihm jedoch auch häufig der Wortschatz fehle, werde seine Fähigkeit zur Kommunikation jedoch nicht als erheblich eingeschränkt bewertet. Da vorliegend sowohl kulturelle als auch sprachliche Probleme zusammenträfen, sei die Beurteilung „schwammig“ bzw. angreifbar. Sollte das Jugendamt der Argumentation nicht folgen können, sei eine Klärung beim Landesarzt für Sprachen für angezeigt.
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Mit Bescheid vom 14. Juni 2013, geändert mit Bescheid vom 18. Februar 2015, gewährte der Kläger „als zweitangegangener, aber unzuständiger Träger“ vorläufig im Zeitraum vom 12. September 2013 bis 31. August 2014 nach § 14 SGB IX Eingliederungshilfe in Form der stationären Unterbringung in einer Einrichtung für Hör- und Sprachgeschädigte.
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Erstmals mit Schreiben vom 14. Juni 2013 meldete der Kläger einen Erstattungsanspruch gemäß §§ 102 ff. SGB X bei dem Beklagten an. Aus dem Befund der Kinderklinik G.-P. lasse sich keine wesentliche körperliche oder drohende körperliche Behinderung entnehmen. Es werde um Fallübernahme alsbald in eigener Zuständigkeit und Erstattung der ab 12. September 2013 anfallenden Kosten gebeten.
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Mit Schreiben vom 22. Juli 2013 übersandte der Beklagte dem Kläger eine Stellungnahme des Landesarztes für Hör- und Sprachbehinderte vom 16. Juli 2013 und teilte mit, dass auf Grund dieser Stellungnahme eine körperliche Behinderung bescheinigt werde und damit die Zuständigkeit des Klägers eindeutig gegeben sei. In der Stellungnahme wird ausgeführt, dass sich aus den vorgelegten Unterlagen ergäbe, dass mehrere Laute noch fehlerhaft gebildet würden („starkes Stammeln“). Zudem bestehe auch ein Dysgrammatismus mit Wortschatzdefiziten. Wegen dieser Sprachstörung liege bei G. eine körperliche Behinderung im Sinne des SGB XII vor. Die Frage einer (drohenden) seelischen Behinderung aufgrund der Lese- und Rechtschreibstörung müsse vom Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie beantwortet werden.
8
G. besuchte ab September 2013 die A.-Schule und war im Zeitraum vom 12. September 2013 bis 27. Juli 2019 stationär in dem zugehörigen Heilpädagogischen Schülerwohnheim für Hör- und Sprachgeschädigte untergebracht.
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Mit weiteren Bescheiden vom 15. September 2014, 8. Oktober 2015, 17. März 2017 und 23. Oktober 2017 gewährte der Kläger weiterhin vorläufig gem. § 14 Abs. 2 SGB IX durchgängig für den für Zeitraum 1. September 2014 bis zunächst 31. Juli 2018 Eingliederungshilfe in Form von stationärer Unterbringung in der Einrichtung für Hör- und Sprachgeschädigte.
10
Mit Schreiben vom 15. September 2014 bat der Kläger den Beklagten um eine ausführliche Begründung seiner Ablehnung der Fallübernahme, da laut der Befunde eine rein seelische und keine wesentliche körperliche Behinderung vorliege.
11
Die Kindsmutter legte auf Aufforderung des Klägers am 19. Mai 2015 ein weiteres psychologisches Gutachten des Sozialpädiatrischen Zentrums der Kinderklinik G.-P. vom 25. März 2015 vor. Darin wurden bei G. eine ausgeprägte Selbstwertproblematik infolge verzögerter Sprachentwicklung, chronifizierte Defizite in Lern- und Arbeitsverhalten und konzentriertem Arbeiten (ICD-10 F 98.8) sowie eine expressive und rezeptive Sprachentwicklungsstörung (ICD-10 F 80.1 und F 80.2.) und Lese- und Rechtschreibschwäche am Übergang zur Störung diagnostiziert.
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In einer hierauf beruhenden internen Stellungnahme des Fachdiensts des Klägers vom 4. August 2015 wurde festgehalten, dass von keiner wesentlichen körperlichen Behinderung ausgegangen werden könne. Es werde an den Hinweis vom 23. April 2013 erinnert, nach dem ggf. der Landesarzt zur medizinischen Klärung beauftragt werden könne.
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Mit Schreiben vom 8. Oktober 2015 bat der Kläger die Kindsmutter um Zusendung einer Schweigepflichtentbindung für die Vorlage des Hilfefalls bei dem Landesarzt für Sprache und mit weiteren Schreiben um Vorlage aktueller ärztlicher Atteste zur Klärung der Behinderung von G.
14
In einem Bericht des Sozialpädiatrischen Zentrums der Kinderklinik G.-P. vom 12. März 2018, beim Kläger eingegangen am 5. September 2018, wurden bei G. eine rezeptive und expressive Sprachstörung (ICD-10 F 80.2) sowie eine Lese- und Rechtschreibstörung (ICD-10 F 81.0 G) diagnostiziert. Derzeit bestünden aufgrund umfassender Förderung keine Einschränkungen an der Teilhabe. G. gehöre dem Personenkreis des § 35a SGB VIII an. Eine Mehrfachbehinderung liege nicht vor. Eine Beeinträchtigung an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bei vorzeitiger Beendigung der Maßnahme sei zu erwarten.
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Am 27. Juli 2018 schied G. – wohl mit Erreichen des Schulabschlusses – aus dem heilpädagogischen Schülerwohnheim aus.
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Auf Aufforderungen des Klägers zur Erstattung der Aufwendungen nach §§ 102 ff. SGB X erklärte der Beklagte mit Schreiben vom 13. März 2019, dass der Landesarzt für Hör- und Sprachbehinderte als fachkundige Stelle eine körperliche Behinderung festgestellt habe. Die aktuellen Gutachten würden von den bisherigen Einschätzungen nicht maßgeblich abweichen, so dass unverändert weiter von einer körperlichen Behinderung und der Zuständigkeit des Klägers ausgegangen und der Erstattungsanspruch abgelehnt werde.
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Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2019, eingegangen am 24. Oktober 2019, hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
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Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die für den Leistungsberechtigten G. in der Zeit vom 1.1.2016 bis 27.7.2018 in Höhe von 92.902,63 EUR erbrachten Sozialleistungen zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu erstatten.
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Zur Begründung führte der Kläger im Wesentlichen aus, dass ihm ein Kostenerstattungsanspruch gegen den Beklagten gem. § 104 Abs. 1 SGB X zustehe. Die bei G. diagnostizierten Störungen seien dem Bereich der seelischen Behinderung zuzurechnen. Dem Leistungsempfänger G. stehe wegen seiner wesentlichen seelischen Behinderung ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII, aber auch nach dem SGB VIII zu. Der Eingliederungshilfebedarf nach dem Sozialhilferecht sei deckungsgleich mit demjenigen nach Jugendhilferecht. Der Bedarf sei durch den Besuch der A.-Schule sowie des Heilpädagogischen Schülerwohnheims gedeckt worden. Die Jugendhilfe sei vorrangig. Für die von dem Kläger erbrachte Eingliederungshilfe sei der Beklagte zuständig gewesen. Dies folge aus § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII. Ein Konkurrenzverhältnis nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII habe nicht bestanden. G. sei nicht wesentlich körperlich und/oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht. Vielmehr sei bei G. eine drohende soziale Desintegration bei massiver Sprachentwicklungsstörung sowie im Anschluss eine ausgeprägte Selbstwertproblematik infolge der verzögerten Sprachentwicklung diagnostiziert worden. Die Sprachstörung sei keine wesentliche Behinderung i.S.d. § 1 der Eingliederungshilfeverordnung. Nur Personen, die nicht sprechen können, Seelentaube und Hörstumme, Personen mit erheblichen Stimmstörungen, stark Stammelnde, Stotternde, und Personen mit stark unartikulierter Sprache fielen darunter. Dies liege bei G. nicht vor. Von der Kinderklinik G.-P. sei die expressive und rezeptive Sprachstörung mit einer „F-Diagnose“ versehen oder somit allein einer seelischen Behinderung zugeordnet worden. Das Vorliegen einer geistigen oder körperlichen Behinderung sei sogar explizit ausgeschlossen worden. Wegen der Verjährungsfrist des § 113 SGB X werde nur der Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis 27. Juli 2018 eingeklagt, auch wenn der Anspruch seit 2013 bestehe. Soweit der Beklagte auf § 111 SGB X verweise, beginne die Ausschlussfrist erst mit dem Ablauf des letzten Tages des gesamten Zeitraums eines einheitlichen Hilfeprozesses.
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Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2020 erwiderte der Beklagte auf die Klage und beantragte
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass bei G. neben der seelischen Behinderung auch eine körperliche Behinderung vorliege. Der Kläger als Träger der Sozialhilfe sei daher allein zuständig. Das Gutachten vom 2. Februar 2012 erweise eine ausgeprägte Artikulationsstörung. Der Klinikbericht vom 12. März 2018 bestätige die umfassende rezeptive und expressive Sprachentwicklungsstörung erneut. Der logopädische Befund weise auf Seite 5 insbesondere auf die Phonetik-Phonologie hin. Der Landesarzt für Hör- und Sprachbehinderte habe am 18. Juli 2013 ebenfalls bestätigt, dass von einer körperlichen Behinderung auszugehen sei und dabei das starke Stammeln hervorgehoben. Ab dem 18. September 2017 sei ein Anspruch des Klägers zudem nach § 111 SGB X ausgeschlossen.
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Mit Schriftsatz vom 3. April 2024 erklärte der Kläger und mit Schreiben vom 18. März 2024 der Beklagte den Verzicht auf mündlich Verhandlung.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie den Inhalt der vorgelegten Behördenakten der Parteien verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die zulässige Leistungsklage ist unbegründet. Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der für Eingliederungshilfemaßnahmen für den Leistungsempfänger G. im Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis 27. Juli 2018 angefallenen Kosten.
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Der Verwaltungsrechtsweg ist für die Entscheidung über den geltend gemachten Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X in Verbindung mit § 114 Satz 2 Alt. 2 SGB X eröffnet. Ein Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Beklagten kann sich ausschließlich nach den Regelungen des SGB VIII ergeben.
28
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände (VGH BW – 23.2.2024 – 12 S 775/22 – juris Rn. 32). Hinsichtlich des materiellen Rechts ist daher maßgeblich auf die Rechtslage für den Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis 27. Juli 2018 abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 6/11 – juris Rn. 6). Die in dem vorliegenden Verfahren maßgeblichen Normen haben zwar zum Teil – insbesondere mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz) vom 23. Dezember 2016 (BTHG – BGBl. I 2016, 3234) – Abwandlungen bzw. neue Bezeichnungen erhalten, inhaltlich jedoch – soweit vorliegend relevant – keine Änderung erfahren. Das Gericht verzichtet daher aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit bei den nachfolgenden Bezugnahmen auf gesetzliche Regelungen auf den Zusatz der jeweils geltenden Fassung.
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1. Dem Kläger steht für den streitgegenständlichen Zeitraum kein Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber dem Beklagten nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu. Denn der Kläger hat nicht als nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht. Vielmehr war er für die Bewilligung der Eingliederungshilfemaßnahmen für den Leistungsempfänger G. gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vorrangig zuständig.
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1.1. Der geltend gemachte Anspruch nach § 104 SGB X ist nicht bereits wegen des Vorrangs des § 14 SGB IX a.F. bzw. § 16 SGB IX ausgeschlossen.
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Zwar geht der Erstattungsanspruch nach § 14 SGB IX a.F. bzw. § 16 SGB IX, sofern er einschlägig ist, den sonstigen Erstattungsregelungen als lex specialis vor (vgl. BVerwG, U.v. 22.6.2017 – 5 C 3/16 – juris Rn. 10) und hat der Beklagte den Antrag der Mutter des Leistungsempfängers G. vom 23. Januar 2013 an den Kläger unter Berufung auf § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX a.F. weitergeleitet. Zudem hat der Kläger vorliegend ausdrücklich auf Grund eines weitergeleiteten Antrags nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX a.F. geleistet, sodass § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. grundsätzlich als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt (vgl. VG München, U.v. 17.7.2019 – M 18 K 17.2523 – juris Rn. 31). Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Satz 1 SGB IX a.F. ist jedoch, dass der Erstattungsberechtigte als an sich unzuständiger Leistungsträger geleistet hat (vgl. BayVGH, B.v. 24.2.2014 – 12 ZB 12.715 – juris Rn. 29), mithin allein aufgrund der Weiterleitung im Außenverhältnis zuständig geworden ist (vgl. VG München, U.v. 20.3.2024 – M 18 K 19.931, n.v., Rn. 48).
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Daran fehlt es hier, da der Kläger auch für Eingliederungshilfemaßnahmen auf Grund seelischer Behinderungen zuständig ist, und daher nicht als unzuständiger, sondern allenfalls als nachrangiger Leistungsträger geleistet hat.
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1.2. Der Kläger war jedoch gegenüber G. nicht nachrangig zur Leistungserbringung verpflichtet, so dass ein Anspruch nach § 104 SGB X ausscheidet.
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Gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Leistungsberechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und – wie hier – weder die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen noch der (vorrangige) Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Voraussetzung für einen Anspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist demnach, dass Leistungspflichten zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (vgl. BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris Rn. 26).
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Das Verhältnis konkurrierender Leistungsansprüche der Jugendhilfe und der Sozialhilfe hat der Gesetzgeber ausdrücklich in § 10 Abs. 4 SGB VIII geregelt (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 5 C 19/08 – juris Rn. 20). Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII bzw. SGB IX grundsätzlich vor. Abweichend hiervon gehen sozialhilferechtliche Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer derartigen Behinderung bedroht sind, den Leistungen der Jugendhilfe vor.
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Vorliegend bestand ein solcher, die Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII auslösender Anspruch des Leistungsempfängers G. gegen den Kläger.
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Denn zur Überzeugung des Gerichts lag im streitgegenständlichen Zeitraum eine wesentliche körperliche Behinderung des G. vor, die einen Eingliederungshilfeanspruch nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a. F. begründet.
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Demnach haben Personen, die durch eine Behinderung i.S.d. § 2 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe. Gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach der Legaldefinition des bis zum 31. Dezember 2019 geltenden § 1 Nr. 6 Eingliederungshilfeverordnung sind durch körperliche Gebrechen wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit eingeschränkt insbesondere solche Personen, die nicht sprechen können, Seelentauben und Hörstummen, Personen mit erheblichen Stimmstörungen sowie Personen, die stark stammeln, stark stottern oder deren Sprache stark unartikuliert ist.
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Der – durch den Beklagten hinzugezogene – Landesarzt für Hör- und Sprachbehinderte stellte in seinem Gutachten vom 5. Juli 2013 unter Bezugnahme auf das Ergebnis der logopädischen Untersuchung aus dem Jahr 2012 fest, dass bei G. wegen der Sprachstörung eine körperliche Behinderung im Sinne des SGB XII vorliegt.
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Diese Feststellung hält das Gericht vorliegend für maßgeblich. Denn bei den nach § 62 Abs. 1 SGB IX a.F. bestellten Landesärzten handelt es sich um einen Personenkreis, der besondere Erfahrungen in der Hilfe für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen besitzt (Reyels, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., § 35 SGB IX (Stand: 01.10.2023), Rn. 12). Zum Aufgabenbereich der Landesärzte gehört es nach § 62 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX a.F. insbesondere, Gutachten für die Landesbehörden im Gesundheitswesen sowie der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe zu erstellen, in schwierigen und grundsätzlichen Fällen auch für die zuständigen Träger der Sozialhilfe bzw. der Eingliederungshilfe. Dem Landesarzt für Hör- und Sprachbehinderte oblag demnach im Rahmen seines genuinen Aufgabenbereichs und seiner Kompetenz auch die fachliche Beurteilung des Behinderungsbildes des Leistungsempfängers.
41
Ein im Hinblick auf den streitgegenständlichen Zeitraum aktuelleres, die körperlichen Beeinträchtigungen von G. beurteilendes medizinisches Gutachten, welches Anlass für eine hiervon abweichende Einschätzung geben würde, ist in den Akten der Parteien nicht dokumentiert. Vielmehr wird die Sprachstörung des Leistungsempfängers auch in Folgegutachten bestätigt. In dem Gutachten des Sozialpädiatrischen Zentrums des Klinikums G.-P. vom 12. März 2018 wird hinsichtlich des logopädischen Bedarfs eine umfassende rezeptive und expressive Sprachentwicklungsstörung in allen sprachlichen Bereichen (Sprachverständnis, Semantik-LexikonSyntax-Morphologie, Pragmatik, Phonetik-Phonologie sowie im auditiven Bereich) geschildert. Hinsichtlich der noch umfassenden Störungen in den verschiedenen sprachlichen Bereichen sei die Weiterführung der Beschulung auf der A.-Schule unbedingt zu empfehlen.
42
Soweit der Kläger auf die Orientierungshilfe zum Behinderungsbegriff der BaGüS mit der Schlussfolgerung verweist, dass bei G. keine wesentliche körperliche Behinderung vorliegt, ergibt sich hieraus in Bezug auf den Leistungsempfänger keine andere Beurteilung. Hiernach liegt bei Kindern eine wesentliche körperliche Behinderung vor, wenn deren verbale Kommunikationsfähigkeit in Bezug zur Altersnorm in erheblichem Umfang eingeschränkt ist, auch wenn dem eine rezeptive Sprachstörung zugrunde liegt (Ziffer 5.1.6, S. 12 BaGÜs). Zwar sind gemäß Ziffer 5.1.6., S. 13 davon Sprachprobleme zu unterscheiden, die aufgrund des kulturellen Hintergrundes dann auftreten, wenn Kinder mit Migrationshintergrund in ihrer Heimatsprache erzogen werden und deshalb die deutsche Sprache nicht oder nur ungenügend beherrschen. In diesem Fall könne nur dann eine Sprachbehinderung angenommen werden, wenn auch der Spracherwerb in der Muttersprache wesentlich beeinträchtigt ist und nicht der Altersnorm und den kognitiven Fähigkeiten des Kindes entspricht. Ein solcher Sonderfall liegt vorliegend jedoch nicht vor. Zum einen sind bei dem Leistungsempfänger Einschränkungen auch im Hinblick auf die Sprache Thai dokumentiert (so etwa im Gutachten des Sozialpädiatrischen Zentrums der Kinderklinik G.-P. vom 2. Februar 2012, S. 2 sowie im Gutachten vom 25. März 2015, S. 2) und kann die Sprachstörung des Leistungsempfängers ausweislich der Gutachten explizit nicht durch dessen Mehrsprachigkeit begründet werden. Zum anderen kommt selbst der Fachdienst des Klägers ausweislich der internen Stellungnahme vom 23. April 2013 zu dem Ergebnis, dass kulturelle Hintergründe nicht allein als Ursache für die Sprachentwicklungsstörung zu sehen seien. Darüber hinaus ist die namentlich als solche bezeichnete Orientierungshilfe der BaGüS keine bindende Vorgabe für die Annahme einer körperlichen Behinderung, sodass sie ohne Hinzutreten konkreter Anhaltspunkte eine Abweichung von der Einschätzung des Landesarztes per se schon nicht zu rechtfertigen vermag.
43
Im Übrigen empfahl selbst der interne Fachdienst des Klägers wiederholt auf Grund der Schwierigkeiten in der Beurteilung die Klärung des Behinderungsbildes durch einen Landesarzt. Warum der Kläger eine solche nicht veranlasste und offenbar – soweit aus den vorgelegten Behördenakten erkennbar – selbst die von dem Beklagten eingeholte Stellungnahme des Landesarztes für Hör- und Sprachbehinderte vom 5. Juli 2013 nicht an seinen internen Fachdienst weiterleitete, bleibt unklar.
44
2. Auch ein Anspruch nach § 102 SGB X kommt nicht in Betracht, da der Kläger bei der allein maßgeblichen materiell-rechtlichen Betrachtung (vgl. hierzu BayVGH, 24.2.2014 – 12 ZB 12.715, juris Rn. 24) keine vorläufige Leistung erbracht hat. Denn eine vorläufige Leistung ist in der hier zugrundeliegenden Konstellation des Vorrang-/Nachrangverhältnisses von Kläger und Beklagtem als Sozialleistungsträger bzw. Jugendhilfeträger systemwidrig und damit ausgeschlossen (vgl. bereits VG München, U.v. 20.3.2024 – M 18 K 19.931, n.v., Rn. 70 f.). Im Anwendungsbereich des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII kann es keine vorläufige Leistung geben, weshalb sich die Erstattungsforderung vorliegend nur nach § 104 SGB X richten kann (Luthe, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 10 SGB VIII, Stand: 30.08.2023, Rn. 110).
45
Der Kläger war daher für die im streitgegenständlichen Zeitraum bewilligte Eingliederungshilfe vorrangig zuständig. Ob daneben eine nachrangige Leistungspflicht des Beklagten nach § 35a SGB VIII bestand und insbesondere eine (drohende) Teilhabebeeinträchtigung im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII vorlag, konnte vorliegend offenbleiben.
46
Mangels Hauptanspruchs besteht auch kein Anspruch des Klägers auf Prozesszinsen.
47
Die Klage war somit vollumfänglich abzuweisen.
48
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils und die Abwendungsbefugnis haben ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.