Inhalt

VGH München, Beschluss v. 10.07.2024 – 4 ZB 23.1795
Titel:

zur Protokollierung von Gemeinderatssitzungen

Normenketten:
Geschäftsordnung Stadtrat § 29 Abs. 6 S. 3
BayGO Art. 48 Abs. 1 S. 2, Art. 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, Art. 54 Abs. 1, Art. 112 S. 1,
BV Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Eine Regelung in der Geschäftsordnung des Gemeinderats, wonach im Protokoll von Ratssitzungen nur die Nein-Stimmen namentlich wiedergegeben werden, verstößt gegen die verfassungsrechtlich garantierte Mandatsgleichheit. (Rn. 19 – 24)
Schlagworte:
Protokollierung von Gemeinderatssitzungen, Mindestinhalt des Protokolls, Zulässigkeit einer namentlichen Abstimmung, Grundsatz der Mandatsgleichheit, unterschiedliche Erkennbarkeit des Namens der Abstimmenden, Fertigung des Protokolls erst nach Sitzungsende, Willkürverbot, einheitlicher Kollegialakt, Abstimmungsverhalten, Protokollierung von Nein-Stimmen
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 26.07.2023 – RO 3 K 21.509
Fundstellen:
DVBl 2025, 309
BayVBl 2025, 59
BeckRS 2024, 19184
LSK 2024, 19184
NVwZ 2024, 1780
DÖV 2024, 935

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klägerin wendet sich gegen die rechtsaufsichtliche Beanstandung eines Beschlusses ihres Stadtrats.
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In der öffentlichen Sitzung vom 20. Mai 2020 beschloss der Stadtrat der Klägerin eine neue Geschäftsordnung. Dabei wurde mit 15 zu 6 Stimmen der Beschluss gefasst, die – bereits seit langem praktizierte – namentliche Protokollierung der Nein-Stimmen ausdrücklich in die Geschäftsordnung aufzunehmen. Die entsprechende Bestimmung erhielt dadurch auszugsweise folgende Fassung:
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„§ 29
Abstimmung …
4
(4) … 3Grundsätzlich wird in der Reihenfolge „ja” „nein” abgestimmt.
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(5) 1Beschlüsse werden in offener Abstimmung durch Handaufheben oder auf Beschluss des Stadtrats durch namentliche Abstimmung mit einfacher Mehrheit der Abstimmenden gefasst, soweit nicht im Gesetz eine besondere Mehrheit vorgeschrieben ist. …
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(6) … 3Neinstimmen werden namentlich im Protokoll wiedergegeben.“
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Das von einem Ratsmitglied um rechtsaufsichtliche Überprüfung des Beschlusses gebetene Landratsamt N. kam zu dem Ergebnis, dass § 29 Abs. 6 Satz 3 der Geschäftsordnung rechtswidrig sei. Seine Bitte um Streichung der Vorschrift lehnte der Stadtrat der Klägerin mit 11 zu 10 Stimmen ab. Nach erneuter Anhörung der Klägerin beanstandete das Landratsamt daraufhin mit Bescheid vom 15. Februar 2021 den Beschluss vom 20. Mai 2020 über die Aufnahme der namentlichen Protokollierung in die Geschäftsordnung und forderte die Klägerin unter Fristsetzung und Androhung der Ersatzvornahme auf, den Beschluss aufzuheben und aus Klarstellungsgründen § 29 Abs. 6 Satz 3 aus der Geschäftsordnung zu entfernen. In der Begründung des auf Art. 112 Satz 1, Art. 113 Satz 1 GO gestützten Bescheids wurde ausgeführt, der Beschluss verstoße gegen Art. 54 Abs. 1 Satz 3 GO, da damit dem einzelnen Stadtratsmitglied das Recht genommen werde, bei jedem Beschluss selbst zu entscheiden, ob von dem in dieser Vorschrift enthaltenen Recht Gebrauch gemacht werde. Für einen geordneten Sitzungsbetrieb müsse der Vorsitzende eine von Befangenheit freie Atmosphäre gewährleisten. Damit unvereinbar sei eine fortwährende namentliche Protokollierung des Abstimmungsverhaltens, die letztlich Druck auf die abstimmenden Ratsmitglieder ausübe. Nach Art. 54 Abs. 1 Satz 2 und 3 GO sei lediglich das kollektive Abstimmungsergebnis zu dokumentieren.
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Die von der Klägerin gegen diesen Bescheid erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 26. Juli 2023 ab. Der streitgegenständliche Stadtratsbeschluss sei rechtswidrig. § 29 Abs. 6 Satz 3 der Geschäftsordnung sei nicht lediglich deklaratorisch, sondern gehe über die gesetzlichen Vorgaben hinaus. Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GO schreibe den Mindestinhalt der Niederschrift vor, wobei mit dem Abstimmungsergebnis allein das exakte Stimmverhältnis gemeint sei, nicht die namentliche Erfassung des Abstimmungsverhaltens; dies ergebe auch ein Umkehrschluss aus Art. 54 Abs. 1 Satz 3 GO. Für die Prüfung der Wirksamkeit eines Beschlusses sei allein das Stimmverhältnis maßgebend. Das namentliche Abstimmungsverhalten sei grundsätzlich nur festzuhalten, wenn namentliche Abstimmung beschlossen worden sei oder ein Mitglied dies für sein Abstimmungsverhalten verlange. Die streitige Regelung sei nicht mit dem aus dem Rechtsstaatsgebot fließenden allgemeinen Gleichheitssatz in der Form des Willkürverbots nach Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 3 Satz 1 Alt. 1 BV vereinbar. Gemeinderatsmitglieder, die mit „Ja“ stimmten, würden anders behandelt als solche, die mit „Nein“ stimmten; ein sachlicher Grund dafür sei nicht ersichtlich. Die entsprechende jahrzehntelange Praxis der Klägerin stelle keinen in der Sache liegenden Grund dar. Soweit die Klägerin geltend mache, die Regelung solle der Nachvollziehbarkeit des Abstimmungsverhaltens dienen, könne dies jedenfalls nicht für das Verhalten der mit „Ja“ Stimmenden und der sich Enthaltenden gelten. Die ungleiche Protokollierung von Ja- und Nein-Stimmen führe dazu, dass ein unterschiedlicher Abstimmungsmodus geschaffen werde. Für Stadtratsmitglieder, die mit Nein stimmten, werde damit faktisch eine immerwährende namentliche Abstimmung etabliert. Art. 51 Abs. 1 GO gehe aber von einem einheitlichen Abstimmungsmodus für alle aus; dies folge schon aus der Gleichwertigkeit aller Stimmen. Die Abstimmung sei ein einheitlicher Kollegialakt; ihre Form dürfe nicht je nach Abstimmungsverhalten variieren. Aus Art. 54 Abs. 1 Satz 3 GO gehe hervor, dass die Protokollierung des Abstimmungsverhaltens einzelner Mitglieder nur auf deren Antrag hin erlaubt sei. Der Vorschrift lasse sich allerdings wohl nicht entnehmen, dass eine in der Geschäftsordnung vorgesehene standardmäßige namentliche Protokollierung damit unvereinbar wäre.
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Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
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Der Beklagte tritt dem Antrag entgegen.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
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1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg, da der geltend gemachte Zulassungsgrund nicht vorliegt. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen einzelnen tragenden Rechtssatz und keine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt (zu diesem Maßstab BVerfG, B.v. 18.6.2019 – 1 BvR 587/17 – BVerfGE 151, 173 Rn. 32 m.w.N.).
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a) Die Klägerin trägt vor, es liege kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz in Form des Willkürverbots vor. Bei Beschlussfassungen im Stadtrat werde jeweils so vorgegangen, dass der Protokollführer bei jedem Tagesordnungspunkt die Beschlussfähigkeit prüfe, indem er die Zahl der jeweils anwesenden Mitglieder notiere. Es werde also laufend festgestellt, welche Mitglieder an- oder abwesend seien. Bei den Abstimmungen werde dann zunächst gefragt, wer für den Antrag stimme. Danach frage der erste Bürgermeister, wer dagegen stimme; die jeweiligen Namen würden dann von ihm für den Protokollführer hörbar nach der Reihenfolge aufgezählt und im Protokoll erfasst. Danach werde das Abstimmungsergebnis durch die Protokollführung festgehalten, wobei sich die Zahl der Ja-Stimmen aus der stets aktuell festgehaltenen Gremienstärke abzüglich der namentlich erfassten Nein-Stimmen ergebe. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts liege darin keine unterschiedliche Behandlung der Ja- und Nein-Stimmen; für einen verständigen Dritten sei durch Einsichtnahme in das Protokoll erkenntlich, wer mit „Ja“ gestimmt habe. Da sämtliche bei der Abstimmung anwesenden Mitglieder aufgeführt seien, ergebe sich konkret, welches Stadtratsmitglied mit „Ja“ gestimmt habe. Individuell identifizierbar seien also nicht nur die Stadtratsmitglieder, die mit „Nein“ gestimmt hätten. Dass die mit „Ja“ stimmenden Mitglieder sich nur konkludent durch die Ausschlussmethode ergäben, könne nicht als willkürliches Handeln eingestuft werden. Es gebe auch praktische Erwägungen für die namentliche Nennung der Nein-Stimmen. Für den Protokollführer sei es leichter, die Nein-Stimmen festzuhalten, da er in der Abfolge der Beschlussfassung mehrere Aspekte beachten und protokollieren müsse. Durch die Protokollierung nur der Nein-Stimmen sei gewährleistet, dass er dem Sitzungsfortgang folgen könne. In der Regel seien die Nein-Stimmen weniger als die Ja-Stimmen. Eine zusätzliche namentliche Protokollierung würde zu einer erheblichen Verzögerung führen. Es werde auch darauf geachtet, dass das Verbot von Enthaltungen nach Art. 48 Abs. 1 Satz 2 GO nicht umgangen werde; die Enthaltung stelle keine Abstimmung dar und sei daher gesondert zu protokollieren. Die von der Klägerin praktizierte Protokollierung der Ja- und Nein-Stimmen führe nicht zu einem unterschiedlichen Abstimmungsmodus. Sämtliche Stimmen würden gleichwertig behandelt; alle Beschlüsse des Stadtrates würden weiterhin in offener Abstimmung durch Handheben gefasst. Dass die streitige Regelung nicht gegen Art. 54 Abs. 1 Satz 3 GO verstoße, habe das Verwaltungsgericht selbst festgestellt.
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b) Diese Ausführungen sind nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung zu begründen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die in § 29 Abs. 6 Satz 3 der Geschäftsordnung vorgesehen namentlichen Protokollierung (nur) der Nein-Stimmen gegen höherrangiges Recht verstößt.
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aa) Allein aus den Vorschriften der Gemeindeordnung über die bei Ratssitzungen anzufertigende Niederschrift (Art. 54 GO) ergibt sich allerdings noch kein Hindernis für eine solche Regelung.
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(1) Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GO verlangt zwar als Protokollinhalt bei Beschlussfassungen im Gemeinderat ausdrücklich nur die Angabe des Abstimmungsergebnisses, also des genauen Stimmenverhältnisses, mit dem ein Beschluss angenommen oder abgelehnt wurde (BayVGH, U.v. 3.4.2008 – 4 N 07.1051 – BayVBl 2008, 664/665 m.w.N.). Aus dieser gesetzlichen Mindestanforderung folgt jedoch nicht im Umkehrschluss, dass in der Niederschrift über Ratssitzungen keine sonstigen Informationen über das Sitzungsgeschehen enthalten sein dürften. Es ist vielmehr allgemein anerkannt, dass es der Gemeindevertretung aufgrund ihrer Geschäftsordnungsautonomie (Art. 45 Abs. 1 GO ) freisteht, über die in Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GO genannten Rahmendaten hinaus weitere Angaben über den Verhandlungsverlauf, wie z.B. den Inhalt oder auch den Wortlaut der einzelnen Diskussionsbeiträge, in das Protokoll aufzunehmen (Wachsmuth in PdK Bayern, Art. 54 GO , Anm. 3; Bauer/Böhle/Ecker, Bayer. Kommunalgesetze, Stand 11/2023, Art. 54 GO Rn. 4; Glaser in Widtmann/Grasser/Glaser, Bayerische Gemeindeordnung, Stand 4/2023, Art. 54 Rn. 8; Jung in BeckOK Kommunalrecht Bayern, Stand 5/2024, Art. 54 GO Rn. 7; Prandl/Zimmermann/Büchner/Pahlke, Kommunalrecht in Bayern, Stand 3/2024, Art. 54 GO Anm. 2; Lange, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2019, Kap. 7 Rn.208).
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Das Recht der Gemeindevertretung, den Verlauf der Sitzungen detaillierter als in Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GO gefordert protokollieren zu lassen, umfasst unstreitig auch die Möglichkeit, in der Niederschrift festzuhalten, wer für und wer gegen die jeweiligen Anträge gestimmt hat (Glaser, a.a.O., Rn. 6; Jung, a.a.O., Rn. 6a; Prandl/Zimmermann/Büchner/Pahlke, a.a.O. Anm. 3; vgl. allgemein Lange, a.a.O., Kap 7 Rn. 162). In einer solchen namentlichen Abstimmung liegt lediglich eine besondere Form der für Sachentscheidungen in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GO geforderten offenen Abstimmung (vgl. Glaser, a.a.O., Art. 51 Rn. 22; Lange, a.a.O.), die jeden einzelnen Mandatsträger dazu zwingen soll, „Farbe zu bekennen“ und für seine Überzeugung einzutreten (LTDrs. 2/1140 S. 38).
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(2) In einer vom Gemeinderat durch (Mehrheits-)Beschluss angeordneten Protokollierung des individuellen Abstimmungsverhaltens liegt kein Verstoß gegen Art. 54 Abs. 1 Satz 3 GO , wonach jedes Mitglied verlangen kann, dass in der Niederschrift festgehalten wird, wie es abgestimmt hat. Diese Sonderbestimmung soll es den Gemeinderatsmitgliedern ermöglichen, bei späteren Angriffen gegen die gefassten Beschlüsse ihre ablehnende Haltung nachzuweisen (LT-Drs. 2/1140, S. 39) und sich vor späteren Schadensersatzansprüchen (z. B. nach Art. 51 Abs. 2 Satz 2 GO ) zu schützen (vgl. Jung, a.a.O., Rn. 6a). Sie vermittelt dagegen dem einzelnen Mandatsträger nicht das alleinige Recht, über die Protokollierung seines Abstimmungsverhaltens zu entscheiden, und hindert daher die Gemeindevertretung nicht daran, z. B. in ihrer Geschäftsordnung für bestimmte Fälle oder auch generell eine namentliche Abstimmung vorzusehen.
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bb) Die von der Klägerin konkret getroffene Regelung über eine bloß partielle namentliche Abstimmung verstößt allerdings gegen die verfassungsrechtlich gewährleistete Mandatsgleichheit.
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(1) Aus dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV ), der gemäß Art. 12 Abs. 1 BV ebenso für die Wahl der Gemeinderäte gilt, folgt das Gebot, die gewählten Mandatsträger auch bei der Ausübung ihrer Rechte innerhalb der jeweiligen Vertretungskörperschaft gleichzubehandeln (VerfGH, E.v. 10.6.2021 – Vf. 25-VII-21 – BayVBl 2021, 548 Rn. 35 ff.; E.v. 26.11.2009 – Vf-32-IVa-09 – VerfGHE 62, 208/218 = BayVBl 2010, 298). Eine Durchbrechung dieses Grundsatzes der Mandatsgleichheit lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung oder aus sonstigen zwingenden Gründen erforderlich ist; bloße Zweckmäßigkeitserwägungen genügen insoweit nicht (vgl. VerfGH, E.v. 10.6.2021, a.a.O., Rn. 44).
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(2) Die streitgegenständliche Regelung des § 29 Abs. 6 Satz 3 der Geschäftsordnung enthält entgegen dem Vorbringen der Klägerin eine rechtliche Ungleichbehandlung der mit „nein“ stimmenden gegenüber den mit „ja“ stimmenden Mandatsträgern. Nur jene Ratsmitglieder, die gegen einen Beschlussvorschlag gestimmt haben, werden in der Niederschrift namentlich aufgeführt. Die Namen derjenigen, die für den Vorschlag votiert haben, lassen sich dagegen vor allem für Außenstehende nur mit einigem Aufwand exakt ermitteln, indem anhand des Protokolls im Einzelnen nachgeprüft wird, welche der weiteren Mitglieder zum Zeitpunkt der Beschlussfassung im Sitzungssaal anwesend waren und sich auch nicht – unzulässigerweise, Art. 48 Abs. 1 Satz 2 GO – der Stimme enthalten haben.
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In dieser unterschiedlich leichten Identifizierbarkeit der Befürworter und der Gegner eines Beschlussvorschlags liegt ein nicht unerheblicher Eingriff in die Mandatsgleichheit der Ratsmitglieder. Ihr individuelles Abstimmungsverhalten ist bei Abgabe einer Nein-Stimme für jeden, der später Einsicht in das Sitzungsprotokoll nehmen kann, also z. B. bei öffentlichen Sitzungen alle Gemeindebürgerinnen und Gemeindebürger sowie die sog. Forensen (Art. 54 Abs. 3 Satz 2 und 4 GO ), unmittelbar und eindeutig erkennbar. Die Angehörigen der jeweiligen Ratsminderheit können daher in der Öffentlichkeit mit der getroffenen Entscheidung leichter persönlich in Verbindung gebracht und zur Verantwortung gezogen werden als die – zunächst namenlosen – Vertreter der Abstimmungsmehrheit. Vor allem bei Abstimmungen mit nur wenigen Gegenstimmen kann die namentliche Erfassung (nur) der Nein-Stimmen daher einen psychologischen Druck dahingehend erzeugen, nicht nach außen hin als einer von wenigen „Abweichlern“ markiert zu werden. Hat sich in einer Gemeindevertretung eine dauerhafte Frontstellung ergeben zwischen einer – den Beschlussvorlagen der Verwaltung gewöhnlich zustimmenden – Gestaltungsmehrheit und einer ratsinternen Opposition, so sind es regelmäßig die gleichen Ratsmitglieder, die in den Abstimmungen unterliegen und daher mit ihrem Namen in der Niederschrift erscheinen. Dass dies auch im Stadtrat der Klägerin der Fall sein dürfte, lässt sich ihrem Vortrag entnehmen, wonach es bei der Beschlussfassung in der Regel weniger Nein-Stimmen als Ja-Stimmen gebe.
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(3) Für die nach dem Abstimmungsverhalten differenzierende und damit die Mandatsgleichheit beeinträchtigende Regelung des § 29 Abs. 6 Satz 3 der Geschäftsordnung fehlt es an einem verfassungsrechtlich tragfähigen Grund.
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Das von der Klägerin angeführte praktische Argument, es sei für den Protokollführer, der während eines Beschlussvorgangs mehrere Aspekte gleichzeitig beachten müsse, leichter und vermeide eine Verzögerung, wenn er nur die Nein-Stimmen festhalte, hat schon für sich betrachtet so wenig Gewicht, dass sich damit eine Ungleichbehandlung der gewählten Mandatsträger nicht rechtfertigen lässt. Wenn sich die Gemeindevertretung zu einer namentlichen Abstimmung entschließt, muss sie den damit verbundenen zusätzlichen Zeitaufwand hinnehmen und darf nicht einseitig zu Lasten der Ratsminderheit Zeit einzusparen versuchen. Es spricht auch nichts dafür, dass der Protokollführer ohne die streitige Regelung nicht in der Lage wäre, den Abstimmungsvorgang fehlerfrei festzuhalten. Dabei ist zu beachten, dass die vollständige Niederschrift keineswegs schon am Ende der Sitzung vorliegen muss. Sie wird vielmehr auf der Grundlage vorläufiger Aufzeichnungen regelmäßig erst im Nachgang erstellt und dann vom Vorsitzenden und dem jeweiligen Schriftführer unterschrieben sowie in der nachfolgenden Sitzung vom Gemeinderat genehmigt (Art. 54 Abs. 2 GO ). Selbst wenn während der Sitzung aus Vereinfachungsgründen zunächst nur die jeweiligen Nein-Stimmen notiert würden, bliebe demnach ausreichend Zeit, in dem später angefertigten Protokoll auch die Namen derjenigen Ratsmitglieder aufzuführen, die mit „Ja“ gestimmt haben.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO ; die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 22.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO ). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO ).