Inhalt

VGH München, Beschluss v. 15.07.2024 – 19 C 23.1377
Titel:

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten eines PKH-Antrags – Ausweisungsverfügung

Normenketten:
VwGO § 166
ZPO § 114 Abs. 1
FreizügG/EU § 1 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 3, § 5 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Maßgeblich für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungs- und Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags; da die Aufgabe des Beschwerdegerichts die Nachprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung ist, kommt es auch für die Entscheidung über die Beschwerde im Verfahren der Prozesskostenhilfebewilligung auf diesen Zeitpunkt an. Als Ausnahme hiervon kann der Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag maßgeblich sein, wenn sich nach dem Eintritt der Bewilligungsreife die Sach- und Rechtslage zugunsten des Betroffenen geändert hat und die von ihm beabsichtigte Rechtsverfolgung infolge dieser Änderung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Ausweisung, Freizügigkeitsberechtigter Familienangehöriger, Freizügigkeitsvermutung, Nachweis, maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten, Einreise- und Aufenthaltsverbot, freizügigkeitsberechtigter Familienangehöriger, Ehegatte einer Unionsbürgerin, Freizügigkeitsgesetz
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 10.07.2023 – W 7 K 23.427
Fundstelle:
BeckRS 2024, 18926

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
2
1. Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Aussicht auf Erfolg liegt stets dann vor, wenn eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung spricht. Bei der dabei vom Gericht anzustellenden vorläufigen Prüfung dürfen im Hinblick auf die Rechtsschutzgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Es genügt, wenn sich die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen darstellen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 29. Aufl. 2023, § 166 Rn. 8 m.w.N.).
3
Maßgeblich für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungs- und Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 21.3.2023 – 19 ZB 21.689 – juris Rn. 17). Da die Aufgabe des Beschwerdegerichts die Nachprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung ist, kommt es auch für die Entscheidung über die Beschwerde im Verfahren der Prozesskostenhilfebewilligung auf diesen Zeitpunkt an (vgl. OVG LSA, B.v. 28.10.2019 – 4 O 238/19 – juris Rn. 14). Als Ausnahme hiervon kann der Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag maßgeblich sein, wenn sich nach dem Eintritt der Bewilligungsreife die Sach- und Rechtslage zugunsten des Betroffenen geändert hat und die von ihm beabsichtigte Rechtsverfolgung infolge dieser Änderung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (vgl. BayVGH, B.v. 16.1.2023 – 10 C 22.2631, 10 C 22.2632 – juris Rn. 4 m.w.N.).
4
Die Entscheidungsreife tritt regelmäßig nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme oder Abgabe einer Stellungnahme (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO; vgl. BVerwG, B.v. 12.9.2007 – 10 C 39.07 u.a. – juris Rn. 1; BayVGH, B.v. 19.3.2018 – 10 C 17.2591 – juris) ein. Nach diesen Maßgaben trat die Bewilligungsreife nicht vor dem 9. Mai 2023 ein (das ausgefüllte und von dem Kläger unterschriebene Formular der Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gemäß § 117 ZPO ging <wohl> als Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 19.4.2023 am 25.4.2023 beim Verwaltungsgericht ein).
5
Auf die zwischenzeitlich eingetretene Teilerledigung (durch die Erklärung der Beklagten vom 13.12.2023, die Ziffern 1, 2 und 4 des streitgegenständlichen Bescheides aufzuheben) kommt es hingegen nicht an, weil nach dem Eintritt der Bewilligungsreife eingetretene Änderungen der Sach- oder Rechtslage zu Lasten des Klägers bei der Entscheidung über die Prozesskostenhilfebewilligung nicht berücksichtigt werden (vgl. Riese in Schoch/Schneider, VwGO, Stand März 2023, § 166 Rn. 121 m.V.a. BVerfG, B.v. 22.8.2018 – 2 BvR 2647/17 – juris Rn. 15; B.v. 4.10.2017 – 2 BvR 496/17 – juris Rn. 14).
6
Des Weiteren sind bei der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag die vom Kläger mit Schreiben vom 20. November 2023 vorgelegten Unterlagen (Rentenversicherungsverlauf seiner Ehefrau, Bescheinigung der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung) nicht zu berücksichtigen. Denn diese stellen keine Änderung der Sach- oder Rechtslage dar, sondern dienen nur dem Nachweis des bei Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des § 4a FreizügG/EU kraft Gesetzes entstehenden Daueraufenthaltsrechtes der Ehefrau des Klägers und damit auch seines (akzessorischen) Daueraufenthaltsrechtes als Familienangehöriger einer Unionsbürgerin gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 Nr. 3 Buchst. a) FreizügG/EU (vgl. Tewocht in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.10.2021, FreizügG/EU § 2 Rn. 15).
7
Entsprechend diesen Grundsätzen ergibt sich nicht, dass der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und dem Kläger Prozesskostenhilfe zu bewilligen wäre. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Ergebnis zu Recht abgelehnt, weil die Klage gegen die Ausweisung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides, gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot in dessen Ziffer 2 sowie gegen die in Ziffer 4 zugesicherte, aufschiebend bedingte Duldungserteilung keine hinreichende Erfolgsaussicht bietet.
8
1.1 Die Klage gegen die Ausweisung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides sowie gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot in dessen Ziffer 2 bietet im maßgeblichen Zeitpunkt keine hinreichende Erfolgsaussicht.
9
Im rechtlichen Ansatz zutreffend wendet der Kläger gegen die von der Beklagten verfügte Ausweisung (sowie gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot) seine Rechtsstellung als Ehegatte einer Unionsbürgerin gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a) FreizügG/EU ein. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 und 4 FreizügG/EU regelt dieses Gesetz u.a. die Einreise und den Aufenthalt von Familienangehörigen von Unionsbürgern. Dem entsprechend bestimmt § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, dass das Aufenthaltsgesetz keine Anwendung auf Ausländer findet, deren Rechtsstellung von dem Freizügigkeitsgesetz/EU geregelt ist, soweit nicht durch dieses Gesetz etwas Anderes bestimmt ist. Daraus folgt, dass es für die Anwendung der Vorschriften über die Ausweisung (§§ 53 ff. AufenthG) auf den begünstigten Personenkreis einer (zumindest wirksamen) Feststellung des Nichtbestehens bzw. des Verlustes des Freizügigkeitsrechtes gemäß § 2 Abs. 7, § 5 Abs. 4 FreizügG/EU bedarf. Eine Aufenthaltsbeendigung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit bzw. Ordnung bedarf einer (als Ermessensentscheidung ausgestalteten) Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU.
10
Aufgrund der rechtlichen Abhängigkeit (Akzessorietät) des materiellen Freizügigkeitsrechtes der Familienangehörigen vom Bestehen der – unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU kraft Gesetzes entstehenden – Freizügigkeitsberechtigung des stammberechtigten Unionsbürgers bzw. der stammberechtigten Unionsbürgerin kommt es insoweit (auch) darauf an, ob deren Voraussetzungen (noch) vorliegen. § 5 Abs. 3 FreizügG/EU – wonach das Vorliegen oder der Fortbestand der Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aus besonderem Anlass überprüft werden kann – zeigt, dass in Zweifelsfällen bei Bestehen eines konkreten Anlasses entsprechende Überprüfungen durchgeführt und zu diesem Zweck auch Nachweise für das Vorliegen der Freizügigkeitsvoraussetzungen gefordert werden dürfen. Die Beklagte bestand deshalb zu Recht auf einem Nachweis der geltend gemachten – und nicht offensichtlichen – Rechtsstellung der Ehefrau des Klägers und davon abgeleitet des Klägers selbst. Entsprechende berechtigte Zweifel bestanden vorliegend insbesondere aufgrund der Straftaten des Klägers (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU § 5 Rn. 51) sowie mit Blick auf die Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 5 und § 4 FreizügG/EU auch aufgrund des Sozialleistungsbezuges (vgl. Ziff. 5.3.2 VV-FreizügG/EU und Kurzidem in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.4.2024, FreizügG/EU § 5 Rn. 12). Letzteres ergibt sich daraus, dass das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechtes gemäß § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU einen mindestens fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt. Ein „rechtmäßiger“ Aufenthalt in diesem Sinne erfordert bei nicht erwerbstätigen Unionsbürgern das ununterbrochene Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU, d.h. das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie ausreichenden Krankenversicherungsschutzes (vgl. BVerwG, U.v. 31.5.2012 – 10 C 8.12 – juris Rn. 20; U.v. 16.7.2017 – 1 C 22.14 – juris Rn. 17, jeweils m.w.N. zur Rspr. des EuGH; BayVGH, B.v. 16.10.2017 – 19 C 16.1719 – juris Rn. 10 ff., 17; vgl. auch dazu, dass eine Vermutung der Freizügigkeitsberechtigung insoweit gerade nicht ausreicht, HessVGH, B.v. 12.10.2023 – 6 A 817/23.Z – juris Rn. 22).
11
Soweit der Kläger (sinngemäß) auf eine zu seinen Gunsten greifende Freizügigkeitsvermutung als Familienangehöriger im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 4 FreizügG/EU verweist, spricht er die formelle Seite des Freizügigkeitsrechtes, d.h. dessen Nachweis an. Damit kann er jedoch nicht durchdringen. Zwar kann das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU grundsätzlich durch die Vorlage eines Passes oder Ausweises nachgewiesen werden (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU § 5 Rn. 17). Zugunsten dieses Personenkreises greift eine Freizügigkeitsvermutung (Dienelt a.a.O.). Im Unterschied dazu bedürfen Familienangehörige – wie der Kläger – einer Aufenthaltskarte als Nachweis gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Auch für den Nachweis des Daueraufenthaltsrechtes sieht § 5 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte für Familienangehörige vor. Da der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt nicht über eine entsprechende Daueraufenthaltskarte verfügte, bestand zu seinen Gunsten keine Freizügigkeitsvermutung (vgl. Dienelt a.a.O., Rn. 17). Somit greifen vorliegend die allgemeinen Grundsätze der materiellen Beweislast, nach denen – vorbehaltlich anderweitiger materiellrechtlicher Regelungen – die Nichterweislichkeit des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Rechtsnorm zu Lasten desjenigen geht, der daraus für sich günstige Rechtsfolgen ableitet (vgl. W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 29. Aufl. 2023, § 108 Rn. 13 m.w.N.), zumal es zumindest teilweise auch um Umstände geht, die in der Sphäre des Klägers liegen. Daraus folgt, dass die Klage im maßgeblichen Zeitpunkt mangels Nachweises für das Vorliegen der Voraussetzungen des (behaupteten) akzessorischen Daueraufenthaltsrechtes des Klägers gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU keine hinreichenden Erfolgsaussichten bot.
12
Das Verwaltungsgericht hat daher die Prozesskostenhilfebewilligung im Ergebnis zu Recht mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Klage gegen die Ausweisung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides sowie gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 2 abgelehnt.
13
1.2 Hinsichtlich der Ziffer 4 des angefochtenen Bescheides bietet die Rechtsverfolgung schon deshalb keine hinreichende Erfolgsaussicht, da die Klage insoweit bereits unzulässig ist. Es ist nicht ersichtlich, dass die (durch den Eintritt der Bestandskraft des Bescheides aufschiebend bedingte) Duldungserteilung den Kläger möglicherweise in seinen Rechten verletzt hat (§ 42 Abs. 2 VwGO). Der Regelungsgehalt der Duldung erschöpft sich gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in der Aussetzung der Abschiebung.
14
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
15
3. Einer Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine Festgebühr anfällt.
16
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).