Titel:
zum Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht (Erschließungsbeiräge)
Normenketten:
BayKAG Art. 5a Abs. 2, Abs. 7 S. 2
BauGB § 125 Abs. 2
BayGO Art. 37 Abs. 3
Leitsätze:
1. Eine bebauungsplanersetzende Abwägungsentscheidung ist ausnahmsweise dann entbehrlich, wenn eine vorhandene, im wesentlichen beidseitige Bebauung der Gemeinde ohnehin keinen nennenswerten Spielraum mehr für die Herstellung der Anlage lässt, wenn also nach der vorhandenen Bebauung und den sonst bestehenden Umständen das Ausmaß und der Verlauf der Straße derart festgelegt sind, dass ein Bebauungsplan nichts mehr ändern könnte. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die erst nach Inkrafttreten des Art. 5a Abs. 7 S. 2 BayKAG vom Gemeinderat getroffene bebauungsplanersetzende Abwägungsentscheidung lässt eine sachliche Beitragspflicht für die unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallenden Erschließungsanlagen („Altanlagen“) nicht mehr entstehen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erschließungsbeitragsrecht, Rechtmäßige Herstellung, bebauungsplanersetzende Abwägungsentscheidung, Beginn der technischen Herstellung, Erschließungsbeitrag, Beginn der technischen Herstellung der Straße, Erhebungsfrist, Nachholung der Abwägungsentscheidung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 29.06.2023 – Au 2 K 22.180 , Au 2 K 22.183 , Au 2 K 22.184
Fundstelle:
BeckRS 2024, 18879
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 29. Juni 2023 – Au 2 K 22.180, Au 2 K 22.183, Au 2 K 22.184 – wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu voll¬strecken¬den Betrags abwenden, sofern nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen ihre Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen für die erstmalige endgültige Herstellung der Erschließungsanlage „Am Ziegelstadel Nord/Süd“.
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1. In den Jahren 1986/1987 hatte der Gemeinderat der Beklagten beschlossen, das sog. Osterriedergelände als Gewerbegebiet zu erschließen, entsprechende Tiefbauarbeiten zu vergeben und die benötigten Flächen für die Erschließungsstraßen, darunter die abgerechnete Anlage, zu erwerben. Ein Bebauungsplan wurde nicht aufgestellt. Ab 1987 wurden die Straßenanlieger zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag herangezogen. Spätestens 1988 begannen die Straßenbauarbeiten; in diesem Jahr wurden Kabelschutzrohre für die Straßenbeleuchtung verlegt.
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Am 17. Juni 2019 beschloss der Gemeinderat „die Entwurfsplanung zum Ausbau Gewerbegebiet ‚Am Ziegelstadel‘“. Bei der Vorstellung des Entwurfs hatte der Planer unter anderem darauf hingewiesen, dass „Straßenbau und Regenwasserkanal“ teilweise neu hergestellt werden müssten. Mit Gemeinderatsbeschluss vom 23. September 2019 wurden die entsprechenden Bauarbeiten vergeben, die im Jahr 2020 abgeschlossen wurden. Die Schlussrechnung datiert vom 21. Februar 2021.
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Mit Erschließungsbeitragsbescheiden vom 24. März 2021 zog die Beklagte die Klägerin als Eigentümerin von drei Anliegergrundstücken zur Zahlung von Erschließungsbeiträgen für die erstmalige endgültige Herstellung der Erschließungsanlage „Am Ziegelstadel Nord/Süd“ in Höhe von 51.224,40 € (FlNr. 344/10), von 91.110,24 € (FlNr. 344/19) und von 18.062,46 € (FlNr. 344/21) heran. Auf den festgesetzten Beitrag wurden jeweils die (vom Voreigentümer) gezahlten Vorausleistungen angerechnet.
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Am 19. April 2021 fasste der Gemeinderat einen bebauungsplanersetzenden Abwägungsbeschluss nach § 125 Abs. 2 BauGB. Nach einem Aktenvermerk vom 8. Dezember 2023 hatte der erste Bürgermeister der Beklagten bereits vor Versand der Erschließungsbeitragsbescheide den Beschlussvorschlag der Verwaltung über die Abwägung sämtlicher privater und öffentlicher Belange als zutreffend erachtet und im Rahmen einer Dringlichkeitsentscheidung (Art. 37 Abs. 3 GO) übernommen.
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2. Nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren hat die Klägerin gegen die drei Erschließungsbeitragsbescheide jeweils Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht hat ihnen stattgegeben und die angefochtenen Bescheide mit Urteil vom 29. Juni 2023 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beitragserhebung sei rechtswidrig. Ihr stehe der am 1. April 2021 in Kraft getretene Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG entgegen, wonach keine Erschließungsbeiträge mehr erhoben werden dürften, wenn seit dem Beginn der technischen Herstellung der Erschließungsanlage mindestens 25 Jahre vergangen seien. Die sachlichen Beitragspflichten seien nicht vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift entstanden. Zuvor habe es an der Rechtmäßigkeit der Herstellung gefehlt, weil die Beklagte die Voraussetzungen des § 125 Abs. 2 BauGB erst mit der planersetzenden Abwägungsentscheidung des Gemeinderats am 19. April 2021 erfüllt habe. Für den Fristbeginn nach Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG sei auf die Baumaßnahmen der Beklagten ab dem Jahr 1988 abzustellen, weil sich diese zielgerichtet auf die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage gerichtet hätten. Das werde durch die im Jahr 1987 erlassenen Vorausleistungsbescheide an die Anlieger der Erschließungsanlage belegt. Demnach sei die 25-Jahresfrist längst abgelaufen gewesen.
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3. Die Beklagte hat die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen:
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Die Erschließungsbeitragsbescheide seien rechtmäßig, weil die sachlichen Erschließungsbeitragspflichten entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts bereits vor dem Inkrafttreten des Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG entstanden seien. Zum einen habe der erste Bürgermeister vor dem Versand der Beitragsbescheide im Wege einer Dringlichkeitsentscheidung wirksam eine Abwägungsentscheidung nach § 125 Abs. 2 BauGB getroffen. Denn es habe ein erheblicher Nachteil durch den Beitragsausfall gedroht. Art. 37 Abs. 3 Satz 1 GO unterscheide nicht nach der Art oder Wichtigkeit des Geschäfts. Somit könnten auch Satzungsbeschlüsse oder Abwägungsentscheidungen nach § 125 Abs. 2 BauGB unter Art. 37 Abs. 3 Satz 1 GO fallen. Zum anderen habe der Gemeinderat bereits mit den Beschlüssen aus den Jahren 2019 und 2020 eine ausreichende Abwägung nach § 125 Abs. 2 BauGB vorgenommen. Denn die Beschäftigung des Gemeinderats mit der Entwurfsplanung und die Vergabe der konkreten Bauarbeiten enthalte zugleich eine Beschäftigung mit den privaten und öffentlichen Belangen. Das Gesetz schreibe kein bestimmtes förmliches Verfahren vor. Es sei aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes zu klären, was in den Sitzungen Gegenstand der Abwägung gewesen sei. Es hätten im Übrigen keine Planungsalternativen für die Herstellung der Erschließungsanlage bestanden. Der Trassenverlauf sei seit vielen Jahrzehnten vorgegeben gewesen. Daher sei eine Abwägungsentscheidung von vornherein entbehrlich gewesen. Jedenfalls aber bewirke der Beschluss vom 19. April 2021 eine rückwirkende Heilung der streitigen Beitragsbescheide. Auch ein nach dem 1. April 2021 erlassener Beschluss nach § 125 Abs. 2 BauGB heile einen vor dem 1. April 2021 erlassenen Festsetzungsbescheid rückwirkend, wenn die Gemeinde – wie hier – den Beschluss vor der letzten mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Verfahren gefasst habe. Sonst wäre es nach dem 1. April 2021 auch untersagt, zuvor durch Beitragsbescheid festgesetzte Beiträge noch einzuziehen oder bereits bestandskräftige Bescheide noch zu vollziehen. Dies sei erkennbar nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen. Das Beitragserhebungsverbot verbiete die Festsetzung eines Beitrags nach dem 1. April 2021, verhindere aber nicht, dass ein bereits vor dem 1. April 2021 wirksam erlassener Festsetzungsbescheid im Nachhinein rechtmäßig werden könne.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 29. Juni 2023 abzuändern und die Klagen abzuweisen.
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Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil und beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, auf die von der Beklagten und vom Landratsamt vorgelegten Aktenheftungen sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung am 27. Juni 2024 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Berufung der Beklagten ist nach ihrer Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist aber unbegründet.
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Das Verwaltungsgericht hat die angefochtenen Erschließungsbeitragsbescheide der Beklagten vom 24. März 2021 und den Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2022 zu Recht aufgehoben. Denn sie sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die sachlichen Erschließungsbeitragspflichten für die erstmalige endgültige Herstellung der Erschließungsanlage „Am Ziegelstadel Nord/Süd“ waren bei Erlass der Beitragsbescheide auf der Grundlage von Art. 5a KAG (i.V.m. §§ 128 ff. BauGB und der Erschließungsbeitragssatzung der Beklagten vom 19.10.2016) noch nicht entstanden, weil es an der nach § 125 Abs. 2 BauGB erforderlichen planersetzenden Abwägungsentscheidung fehlte (1.). Diese wurde zwar mit Beschluss des Gemeinderats der Beklagten vom 19. April 2021 nachgeholt. In diesem Zeitpunkt konnten die sachlichen Beitragspflichten aber nicht mehr entstehen, weil dem der am 1. April 2021 in Kraft getretene Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG entgegenstand; denn seit Beginn der technischen Herstellung dieser Erschließungsanlage waren bereits mehr als 25 Jahre vergangen (2.). Das führt zur Aufhebung der Beitragsbescheide (3).
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1. Die endgültigen sachlichen Erschließungsbeitragspflichten können nicht entstehen, solange die Erschließungsanlage nicht in Übereinstimmung mit § 125 BauGB (erschließungsrechtlich) rechtmäßig hergestellt ist. Denn ohne rechtmäßige Herstellung vermittelt die Anlage den erschlossenen Grundstücken keinen vollständigen und dauerhaften Sondervorteil, der eine Beitragserhebung rechtfertigt.
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a) Wenn – wie hier – ein Bebauungsplan mit entsprechenden Festsetzungen fehlt, dürfen nach § 125 Abs. 2 BauGB Erschließungsanlagen im Sinn des § 127 Abs. 2 BauGB nur hergestellt werden, wenn sie den in § 1 Abs. 4 bis 7 BauGB bezeichneten Anforderungen entsprechen. Es bedarf hierfür einer sogenannten bebauungsplanersetzenden Abwägungsentscheidung, die in die Zuständigkeit des Gemeinderats fällt (im Einzelnen und zu den Übertragungsmöglichkeiten BayVGH, U.v. 23.4.2015 – 6 BV 14.1621 – juris Rn. 42) und für die keine besonderen formellen Anforderungen gelten (vgl. Schmitz, Erschließungsbeiträge, 2018, § 7 Rn. 10 m.w.N.). Wegen der bebauungsplanersetzenden Wirkung der Abwägungsentscheidung ist allerdings ein – aktiver – Planungsakt erforderlich, der in geeigneter Form dokumentiert sein muss (ständige Rechtsprechung, zuletzt BayVGH, B.v. 14.3.2024 – 6 ZB 24.150 – juris Rn. 8). Inhaltlich muss diese Abwägungsentscheidung an denselben Maßstäben ausgerichtet sein, wie die entsprechende Festsetzung in einem Bebauungsplan. Die wichtigste materiell-rechtliche Bindung, in deren Rahmen sich jede Gemeinde bei der bebauungsplanersetzenden Planung einer Erschließungsanlage danach halten muss, ist das in § 1 Abs. 7 BauGB normierte Gebot, alle von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Dieses Gebot bezieht sich sowohl auf das Abwägen als Vorgang, insbesondere also darauf, dass überhaupt eine Abwägung stattfindet und dass bei dieser Abwägung bestimmte Interessen in Rechnung gestellt werden, als auch auf das Abwägungsergebnis, also auf das, was bei dem Abwägungsvorgang „heraus kommt“ (vgl. BayVGH, B.v. 30.10.2013 – 6 ZB 11.245 – juris Rn. 7; U.v. 23.4.2015 – 6 BV 14.1621 – juris Rn. 41).
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b) Gemessen an diesen Anforderungen hat die Beklagte für die Erschließungsanlage „Am Ziegelstadel Nord/Süd“, eine Anbaustraße im Sinn von § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB, erst mit Beschluss ihres Gemeinderats vom 19. April 2021 eine wirksame bebauungsplanersetzende Abwägungsentscheidung getroffen. Vor diesem Zeitpunkt können die sachlichen Erschließungsbeitragspflichten demnach nicht entstanden sein.
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Entgegen der Ansicht der Berufung genügt es nicht, dass der erste Bürgermeister der Beklagten vor Versand der Beitragsbescheide vom 24. März 2021 die Abwägung auf der Grundlage der Verwaltungsvorlage vorweggenommen und die bebauungsplanersetzende Abwägungsentscheidung im Wege einer Dringlichkeitsanordnung nach Art. 37 Abs. 3 GO selbst getroffen haben will. Zwar dürfte dieser Weg nicht von vornherein versperrt sein, zumal der Gemeinderat dem ersten Bürgermeister die Zuständigkeit für solche Entscheidungen nach Art. 37 Abs. 2 GO zur selbstständigen Erledigung übertragen darf (BayVGH, U.v. 23.4.2015 – 6 BV 14.1621 – juris Rn. 42). Ob ein Eilfall im Sinn des Art. 37 Abs. 3 GO vorlag, kann jedoch dahinstehen. Denn es fehlte jedenfalls an einer geeigneten Dokumentation. Aktenmäßig ist eine Abwägungsentscheidung des ersten Bürgermeisters nicht zeitnah schriftlich festgehalten. Nach Art. 37 Abs. 3 GO hätte er dem Gemeinderat in der nächsten Sitzung Kenntnis von seiner Entscheidung geben müssen. Auch dafür ist nichts dokumentiert. Der nachträglich im Berufungsverfahren erstellt Aktenvermerk des ersten Bürgermeisters vom 8. Dezember 2023 reicht zur Dokumentation einer Abwägungsentscheidung im März 2021 nicht aus.
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Den von der Beklagten vorgelegten Beschlüssen des Gemeinderats aus den Jahren 2019 und 2020 zum Ausbau der Erschließung des Gewerbegebiets kann eine – ausreichend dokumentierte – bebauungsplanersetzende Abwägungsentscheidung ebenfalls nicht entnommen werden. Die Beschlüsse betreffen die „Entwurfsplanung zum Ausbau Gewerbegebiet ‚Am Ziegelstadel‘“ (17.6.2019), die Vergabe der Bauarbeiten (23.9.2019) und die Vergabe der „Kampfmittelerkundung“ (2.3.2020). Diese und vergleichbare Entscheidungen betreffen lediglich die sich im Zeitverlauf zunehmend konkretisierende technische Planungs-, Vergabe und Bauphase, insbesondere also die Ausbaupläne in technischer und räumlicher Hinsicht (das Bauprogramm). Ihnen lässt sich aber nicht, jedenfalls nicht hinreichend deutlich entnehmen, dass der Gemeinderat einen aktiven Planungsakt unter Abwägung aller berührten öffentlichen und privaten Belange nach § 125 Abs. 2 BauGB vornehmen wollte. Im Gegenteil spricht gegen ein solches Verständnis, dass etwa in der Sitzungsniederschrift vom 17. Juni 2019 zum Beschluss über die Entwurfsplanung festgehalten wurde, dass ein Thema in die nächste Bauausschusssitzung „mitgenommen“ und vorher noch mit den Anliegern besprochen werden solle. Über die für die Planabwägung relevanten Belange mag in den Sitzungen des Gemeinderats gesprochen und bei den Auftragsvergaben auch mittelbar entschieden worden sein. Es fehlte damals aber an einer eindeutigen Abwägungsentscheidung über die Rechtmäßigkeit der Herstellung, jedenfalls aber an der unverzichtbaren Dokumentation einer solchen, wie sie dann im April 2021 nachgeholt wurde.
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Schließlich war eine bebauungsplanersetzende Abwägungsentscheidung auch nicht ausnahmsweise entbehrlich. Eine solche Ausnahme, die ursprünglich gesetzlich ausdrücklich geregelt war (§ 125 Abs. 2 Satz 2 BauGB in der bis 31.12.1997 geltenden Fassung) und ihrem Rechtsgedanken nach wohl weiterhin Anwendung finden dürfte, liegt für eine Straße vor, wenn eine vorhandene, im wesentlichen beidseitige Bebauung der Gemeinde ohnehin keinen nennenswerten Spielraum mehr für die Herstellung der Anlage lässt, wenn also nach der vorhandenen Bebauung und den sonst bestehenden Umständen das Ausmaß und der Verlauf der Straße derart festgelegt sind, dass ein Bebauungsplan nichts mehr ändern könnte (vgl. BVerwG, U.v. 10.11.1989 – 8 C 27.88 – BVerwGE 84, 80/84; NdsOVG, U.v. 24.1.2024 – 9 LC 85/18 – juris Rn. 285 für eine historische Straße). Davon kann mit Blick auf die Straße „Am Ziegelstadel Nord/Süd“ schon deshalb nicht die Rede sein, weil weder die vorhandene Bebauung noch die Grundstücksverhältnisse das Ausmaß und den Verlauf der Straße so vorgegeben haben, dass keine Planungsalternativen bestanden. Dass die Straße in der Natur schon vorhanden war und kein Grund für eine Umplanung gesehen wurde, macht die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit ihrer Herstellung nicht entbehrlich.
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2. Mit der vom Gemeinderat (erst) am 19. April 2021 beschlossenen bebauungsplanersetzenden Abwägungsentscheidung konnten die sachlichen Beitragspflichten für die Erschließungsanlage „Am Ziegelstadel Nord/Süd“ nicht mehr entstehen, weil der am 1. April 2021 in Kraft getretene Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG entgegenstand.
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Nach dieser Vorschrift, die bereits durch Änderungsgesetz vom 26. März 2016 (GVBl. S. 36) in das Kommunalabgabengesetz eingefügt worden war, darf ein Erschließungsbeitrag nicht (mehr) erhoben werden, sofern seit dem Beginn der erstmaligen technischen Herstellung einer Erschließungsanlage mindestens 25 Jahre vergangen sind. Das gilt auch für noch „offene“ Abrechnungsfälle, bei denen – wie hier – im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens (am 1.4.2021) die Erschließungsanlage zwar schon technisch fertiggestellt war, die sachlichen Erschließungsbeitragspflichten aber noch nicht entstanden waren (BayVGH, U.v. 27.11.2023 – 6 BV 22.306 – NVwZ-RR 2024, 247 Rn. 28). Durch diese zeitliche Begrenzung sollen die unter deren Anwendungsbereich fallenden Erschließungsanlagen („Altanlagen“) einschließlich ihrer Teileinrichtungen der Anwendung des Erschließungsbeitragsrechts vollständig entzogen werden (vgl. LT-Drs. 17/8225, S. 16).
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Die 25-Jahresfrist des Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG war bei Erlass der bebauungsplanersetzenden Abwägungsentscheidung am 19. April 2021 bereits abgelaufen, weil mit der erstmaligen technischen Herstellung als Erschließungsanlage bereits im Jahr 1988 begonnen worden war. Das hat das Verwaltungsgericht zutreffend entschieden und wird von der Beklagten nicht substantiiert in Zweifel gezogen. Zwar wird der fristauslösende Beginn nicht durch irgendwelche sichtbaren Straßenbauarbeiten markiert, sondern nur durch solche die objektiv auf die erstmalige Herstellung einer Erschließungsanlage gerichtet sind. Mit dem Beginn der erstmaligen technischen Herstellung einer Anbaustraße ist die erste sichtbare Baumaßnahme gemeint, mit der das gemeindliche Bauprogramm für eine bestimmte Anbaustraße (Teilstrecke) verwirklicht werden soll (im Einzelnen BayVGH, U.v. 27.11.2023 – 6 BV 22.306 – NVwZ-RR 2024, 248 Rn. 29 f.).
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Auch nach diesem – strengen – Maßstab handelt es sich bei den ersten sichtbaren Straßenbauarbeiten im Jahr 1988 bereits um den Beginn der technischen Herstellung der Straße „Am Ziegelstadel Nord/Süd“ als Erschließungsanlage mit sämtlichen vorgesehenen Teileinrichtungen. Dafür sprechen bereits die Gemeinderatsbeschlüsse vom 5. März 1987, die allgemein von Erschließung des Geländes und konkret von Erschließung der Straße „Am Ziegelstadel“ sprechen und zusammen mit den vergebenen Kanal- und Tiefbauarbeiten das auf die konkrete Anlage bezogene Bauprogramm darstellen, mit dessen Umsetzung dann 1988 begonnen wurde. Dass schon die ersten Straßenbaumaßnahmen auf die Herstellung der Anbaustraßen zur Erschließung des Geländes als faktischem Gewerbegebiet gerichtet waren und nicht bloß auf provisorische Anbindung von einzelnen Grundstücken im Außenbereich, wird ferner durch die Bescheide belegt, mit denen die Beklagte bereits im Verlauf des Jahres 1987 eine Reihe von Anliegern, denen teils Baugenehmigungen erteilt waren, teils nicht, zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag herangezogen hatte. Zwar durften nach der bis 30. Juni 1987 geltenden Rechtslage (§ 133 Abs. 3 Satz 1 BBauG) und ab dem 1. Juli 1987 in der sogenannten Genehmigungsalternative (§ 133 Abs. 3 Satz 1 1. Alternative BauGB a.F.) Vorausleistungen unabhängig davon verlangt werden, ob mit der Herstellung der Straße bereits begonnen war. Voraussetzung war aber, dass mit der endgültigen Herstellung der gesamten Erschließungsanlage mit allen vorgesehenen Teileinrichtungen alsbald zu rechnen ist, sie also absehbar ist (vgl. Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 1984, Rn. 552 m.w.N.). Die ab dem 1. Juli 1987 geltende Herstellungsalternative des § 133 Abs. 3 Satz 1 2. Alternative BauGB a.F., von der die Beklagte ebenfalls Gebrauch gemacht hatte, setzte voraus, dass mit der Herstellung der Erschließungsanlage begonnen worden ist. Vor diesem Hintergrund bestätigen die damals erlassenen Vorausleistungsbescheide die Annahme, dass die 1988 begonnenen Straßenbauarbeiten von Anfang an auf die Herstellung einer Erschließungsanlage gerichtet waren.
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3. Die angefochtenen Erschließungsbeitragsbescheide vom 24. März 2021 (in der Gestalt des Widerspruchbescheids) sind wegen des Ablaufs der Erhebungsfrist des Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG aufzuheben.
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Sie waren bei Erlass rechtswidrig, weil es damals, wie oben dargelegt, mangels Abwägungsentscheidung nach § 125 Abs. 2 BauGB an der Rechtmäßigkeit der Herstellung fehlte. Dieser Mangel wurde zwar – für sich betrachtet – durch den Gemeinderatsbeschluss vom 19. April 2021 behoben. Das hat die Rechtswidrigkeit der in Streit stehenden Beitragsbescheide aber entgegen der Ansicht der Beklagten nicht rückwirkend mit der Folge entfallen lassen, dass der am 1. April 2021 in Kraft getretene Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG nicht anwendbar wäre. Denn die Nachholung der Abwägungsentscheidung kann nur für die Zukunft wirken. Führt sie zum Entstehen der sachlichen Erschließungsbeitragspflichten, entfällt der Anspruch auf gerichtliche Aufhebung des zuvor rechtswidrig erlassenen Beitragsbescheids; denn er müsste umgehend wieder erlassen werden, weil die Gemeinden zur Erhebung von Erschließungsbeiträgen gesetzlich verpflichtet sind (vgl. Art. 5a Abs. 1 KAG). Insofern wird der ursprünglich rechtswidrige Beitragsbescheid im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Erschließungsbeitragspflichten mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc, nicht ex tunc) „geheilt“ (ständige Rechtsprechung, vgl. BayVGH, B.v. 20.10.2022 – 6 CS 22.1534 – juris Rn. 9, U.v. 27.11.2023 – 6 BV 306 – NVwZ-RR 2024, 248 Rn. 18). In der vorliegenden Fallgestaltung sind die sachlichen Erschließungsbeitragspflichten durch die Nachholung der Abwägungsentscheidung aber gerade nicht mehr entstanden und können auch nicht mehr entstehen. Das folgt aus dem am 1. April 2021 in Kraft getretenen Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG. Demnach standen der Beklagten Gemeinde zu keinem Zeitpunkt Erschließungsbeitragsansprüche für die Herstellung der Straße „Am Ziegelstadel Nord/Süd“ zu. Die rechtswidrig erlassenen Beitragsbescheide sind auch bei Nachholung der Abwägungsentscheidung rechtswidrig geblieben und deshalb aufzuheben.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Der Ausspruch über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.