Titel:
"näheren Umgebung" im öffentlichen Baurecht
Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4, § 162 Abs. 3
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausschlaggebend für das Bestehen eines Bebauungszusammenhangs iSv § 34 BauGB ist, inwieweit die aufeinanderfolgende Bebauung trotz etwa vorhandener Baulücken nach der Verkehrsauffassung den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit vermittelt. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abgrenzung von faktischen Baugebieten, Antrag auf Zulassung der Berufung, ernstliche Zweifel, faktisches Baugebiet, Bebauungszusammenhang, Verzahnung, Außenbereichssplitter
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 24.11.2023 – M 1 K 21.4518
Fundstelle:
BeckRS 2024, 18870
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000 € festgesetzt.
Gründe
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung zweier freistehender beleuchteter Werbeanlagen, die in einem schmalen Grundstücksstreifen (FlNr. …16) parallel zur Bundesstraße entstehen sollen. Das westlich anschließende Grundstück (FlNr. …11) sowie die drei folgenden Grundstücke an der Bundesstraße in nordwestlicher Richtung sind mit Wohnhäusern bebaut. In südwestlicher Richtung folgen entlang der Bundesstraße vier größere Grundstücke mit Gewerbebauten.
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Das Landratsamt lehnte mit Bescheid vom 6. August 2021 den Bauantrag ab, da sich das Vorhaben in das faktische Wohngebiet, das mindestens einem allgemeinen Wohngebiet entspreche, nicht einfüge und bodenrechtliche Spannungen hervorrufe. Aus diesem Grund hatte bereits die Beigeladene ihr Einvernehmen verweigert. Die erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 24. November 2023 ab. Die Eigenart der maßgeblichen näheren Umgebung entspreche einem reinen Wohngebiet, in dem sich die streitgegenständliche gewerbliche Nutzung nach ihrer Art nicht einfüge.
3
Mit dem Zulassungsantrag macht die Klägerin geltend, dass sich das Verwaltungsgericht nicht mit der engen Beziehung zwischen dem Vorhabengrundstück und dem gewerblich geprägten Nachbargrundstück auseinandergesetzt habe. Der massive Gewerbebau rücke mit erdrückender Wirkung an die Grundstücksgrenze des Wohngrundstücks FlNr. …11 heran. Die Trennung der Bebauungskomplexe würde dazu führen, dass die Wohnbebauung einen Außenbereichssplitter darstelle; diese Konsequenz habe das Verwaltungsgericht nicht gezogen, so dass auch aus diesem Umstand begründete Zweifel an der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung beständen.
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Der Beklagte tritt dem Zulassungsvorbringen entgegen, die Beigeladene hat sich nicht geäußert.
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Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die elektronische Behördenakte verwiesen.
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Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor bzw. ist nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich das Bauvorhaben nach der Art der Nutzung nicht gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.
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Der die nähere Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bildende Bereich reicht so weit, wie sich die Ausführung des zur Genehmigung gestellten Vorhabens auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (vgl. BVerwG, B.v. 22.10.2020 – 4 B 18.20 – juris Rn. 4; U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290). Die Grenzen der näheren Umgebung im Sinn des § 34 BauGB lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. Diese kann so beschaffen sein, dass die Grenze zwischen näherer und fernerer Umgebung dort zu ziehen ist, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstoßen. Der Grenzverlauf der näheren Umgebung ist nicht davon abhängig, dass die unterschiedliche Bebauung durch eine künstliche oder natürliche Trennlinie (Straße, Schienenstrang, Gewässerlauf, Geländekante etc.) entkoppelt ist (vgl. BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74.03 – juris Rn. 2). Eine Grundstücksgrenze kann auch ohne weitere trennende Elemente die Grenze zwischen zwei faktischen Baugebieten im Sinn von § 34 Abs. 2 BGB bilden. Voraussetzung ist, dass dort – auch äußerlich erkennbar – zwei in sich homogene, aber voneinander in der Nutzungsstruktur klar abgegrenzte Bebauungszusammenhänge aufeinandertreffen (vgl. NdsOVG, U.v. 17.4.2024 – 1 LB 41/23 – BauR 2024, 1026). Dies hat das Verwaltungsgericht vorliegend zu Recht bejaht, die südliche Grundstücksgrenze des Wohngrundstücks FlNr. …11 stellt die Trennlinie zwischen Wohnbebauung in nördlicher und Gewerbebebauung in südlicher Richtung dar. Die Einwände der Klägerin rechtfertigen keine andere Entscheidung.
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Soweit die Dominanz des Gewerbebaus auf dem südwestlichen Nachbargrundstück vorgetragen wird, kann damit keine „Verzahnung“ zu der lockeren Wohnbebauung in nordwestlicher Richtung begründet werden. Unabhängig davon, dass die nähere Umgebung für die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BGB bezeichneten Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen ist (vgl. BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – NVwZ 2014, 1246), spricht die optische Wahrnehmbarkeit einer großflächigen Gewerbebebauung im Vergleich zu der kleinteiligen Wohnbebauung vielmehr dafür, jeweils eine eigenständige Nutzungsstruktur anzunehmen (vgl. OVG NW, B.v. 16.6.2016 – 2 A 1795/15 – juris Rn. 13). Das Verwaltungsgericht hat den Vorhabenstandort zu Recht auch dem direkt westlich angrenzenden Wohngrundstück zugeordnet. Dass mit der Zulassung des Vorhabens städtebauliche Spannungen erzeugt würden, zeigt die im Baugenehmigungsverfahren vorgelegte Fotomontage der Klägerin deutlich auf.
10
Die vom Verwaltungsgericht gezogene Trennlinie zwischen der Wohnbebauung und der Gewerbebebauung führt auch nicht notwendigerweise dazu, dass die Wohnbebauung einen Außenbereichssplitter darstellt. Insoweit verkennt die Klägerin den Begriff des Bebauungszusammenhangs im Sinn von § 34 BauGB. Ausschlaggebend für dessen Bestehen ist, inwieweit die aufeinanderfolgende Bebauung trotz etwa vorhandener Baulücken nach der Verkehrsauffassung den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit vermittelt. Dabei sind die Merkmale der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit nicht im Sinn eines harmonischen Ganzen, eines sich als einheitlich darstellenden Gesamtbildes der Bebauung zu verstehen. Wenn eine aufeinanderfolgende Bebauung vorhanden ist, deren einzelne Bestandteile im Sinn der Rechtsprechung optisch wahrnehmbar sind und ein gewisses Gewicht haben, so dass sie – jeweils für sich genommen – geeignet sind, ein Gebiet als einen Ortsteil mit einem bestimmten Charakter zu prägen, so ist dies der Bebauungszusammenhang, auch wenn die aufeinanderfolgende Bebauung in sich noch so unterschiedlich ist (vgl. BVerwG, B.v. 16.7.2018 – 4 B 51.17 – NVwZ 2018, 1651). Die maßstabsbildende nähere Umgebung wird vielfach – wie auch hier – nur einen Teil des Bebauungszusammenhangs eines Ortsteils erfassen; darauf hat der Beklagte zu Recht hingewiesen.
11
Mit dem Verweis auf das Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren wird bereits dem Darlegungsgebot im Zulassungsverfahren nicht genügt.
12
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.