Inhalt

VGH München, Beschluss v. 09.07.2024 – 13a ZB 22.30800
Titel:

Familienasyl und Unionsrecht

Normenketten:
AEUV Art. 78 Abs. 2
EUV 604/2013 Art. 3 Abs. 1 S. 2
EURL 95/2011 Art. 4 Abs. 1 S. 2, Art. 13
EURL 32/2013 Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3, Art. 33 Abs. 1 und 2
AsylG § 1 Abs. 1 Nr. 2
AsylG §§ 3 und 4
§ 5 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 13 Abs. 2 S. 1 AsylG
AsylG § 26 Abs. 5 S. 1 und 2, Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2
Leitsätze:
1. Der Unionsgesetzgeber hat beim gegenwärtigen Stand des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems das mit Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV verfolgte Ziel eines in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige noch nicht vollständig verwirklicht. Insbesondere hat er bislang weder den Grundsatz aufgestellt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen, noch hat er die Einzelheiten zur Umsetzung eines solchen Grundsatzes festgelegt. (Rn. 17)
2. Es steht den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts zwar frei, die Anerkennung sämtlicher mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in ihrem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass ihre zuständigen Behörden eine neue Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlassen. Sie könnten aber vorsehen, dass solche Entscheidungen, die ein anderer Mitgliedstaat nach günstigeren Bestimmungen im Sinne von Art. 3 der RL 2011/95 und Art. 5 der RL 2013/32 erlassen hat, automatisch anerkannt würden. Es steht jedoch fest, dass die Bundesrepublik Deutschland von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat (EuGH, U.v. 18.6.2024 – C-753/22 – juris Rn. 69). (Rn. 16)
1. Der Unionsgesetzgeber hat beim gegenwärtigen Stand des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems das mit Art. 78 Abs. 2 lit. a AEUV verfolgte Ziel eines in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige noch nicht vollständig verwirklicht. Insbesondere hat er bislang weder den Grundsatz aufgestellt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen, noch hat er die Einzelheiten zur Umsetzung eines solchen Grundsatzes festgelegt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es steht den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts zwar frei, die Anerkennung sämtlicher mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in ihrem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass ihre zuständigen Behörden eine neue Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlassen. Sie könnten aber vorsehen, dass solche Entscheidungen, die ein anderer Mitgliedstaat nach günstigeren Bestimmungen iSv Art. 3 der RL 2011/95 und Art. 5 der RL 2013/32 erlassen hat, automatisch anerkannt würden. Es steht jedoch fest, dass die Bundesrepublik Deutschland von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat (EuGH BeckRS 2024, 13663). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Internationaler Familienschutz, Ableitung von einem in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen, Union anerkannten international Schutzberechtigten als Stammberechtigten, Innerstaatliche (Bindungs-)Wirkung einer in einem anderen Mitgliedstaat erfolgten Anerkennung als international Schutzberechtigter, internationaler Familienschutz, Familienasyl, Anerkennung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, Bindungswirkung, gemeinsames europäisches Asylsystem
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 03.06.2022 – RN 16 K 21.30656
Fundstelle:
BeckRS 2024, 18850

Tenor

I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 3. Juni 2022 – RN 16 K 21.30656 – wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 3. Juni 2022 bleibt ohne Erfolg. Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 AsylG sind nicht gegeben.
2
Zur Begründung seines Zulassungsantrags trägt der Kläger vor, die Berufung sei zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Es sei eine Frage grundsätzlicher Bedeutung zu klären, die über den zu entscheidenden Fall hinausgehe und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedürfe.
3
Grundsätzliche Bedeutung bestehe hinsichtlich der Frage:
„Ist dem im Bundesgebiet geborenen, minderjährigen ledigen Kind einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, ein von dieser Person abgeleiteter internationaler Schutzstatus (internationaler Schutz für Familienangehörige) auch für den Fall zuzuerkennen, dass der stammberechtigten Person vor der Geburt des Kindes der internationale Schutz nicht in Deutschland, sondern nur in einem anderen europäischen Mitgliedstaat zuerkannt wurde?“
4
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus abgeleitetem Recht gem. § 26 Abs. 2, Abs. 5 AsylG i. V. m. § 3 AsylG. Seinem Vater sei in Portugal die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und der Reiseausweis für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention ausgestellt worden. Danach seien seine Eltern in das Bundesgebiet gereist und hätten einen Asylantrag gestellt. Der im Bundesgebiet geborene Kläger macht geltend, er könne die Familienflüchtlingseigenschaft von seinem in Portugal als Flüchtling anerkannten Vater nach § 26 AsylG ableiten.
5
Der Kläger führt hierzu aus, die grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung des § 26 AsylG ergebe, dass die die Schutzzuerkennung des Elternteils nicht zwingend durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sondern auch durch einen europäischen Mitgliedstaat erfolgen könne und tatbestandstragend sei. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts setze § 26 AsylG keine Schutzgewährung durch das Bundesamt voraus, sondern verlange ausweislich des gesetzlichen Wortlauts nur die Gewährung internationalen Schutzes zu Gunsten des Stammberechtigten. So heiße es ausdrücklich in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylG, dass der Ehegatte oder der Lebenspartner eines Asylberechtigten auf Antrag als Asylberechtigter anerkannt werde, wenn die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar sei. Über § 26 Abs. 5 AsylG seien die Absätze 1 bis 4 auf Familienangehörige international Schutzberechtigter entsprechend anzuwenden. Insgesamt verlange der Wortlaut des § 26 AsylG keine Schutzgewährung durch das Bundesamt. Neben der grammatikalischen Auslegung zeige auch die systematische Auslegung, dass § 26 AsylG im Vergleich zur aufenthaltsrechtlichen Vorschrift in § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Schutzgewährung) keine Zuerkennung durch das Bundesamt verlange. Der Wortlaut in § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG benenne ausdrücklich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus durch das Bundesamt („Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt hat“). Dass in § 25 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bei der Asylanerkennung das Bundesamt nicht genannt wird, sei folgerichtig und sinnlogisch, da die Asylanerkennung nach Art. 16a GG nicht durch andere europäische Mitgliedstaaten ausgesprochen werden könne. Dies erkläre auch den Wortlautunterschied in den Absätzen 1 und 2 des § 25 AufenthG. In § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sei daher erforderlich gewesen, eine Eingrenzung auf die Zuerkennung durch das Bundesamt vorzunehmen, um dem Stammberechtigten mit der Zuerkennung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat keine zweite Zuerkennung durch die Ausländerbehörde zu vermitteln. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei auch keine gesetzliche Anordnung wie in § 60 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu erwarten gewesen. Denn § 60 Abs. 1 AufenthG entspreche Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention und teile die Anwendung des konventionsrechtlichen Abschiebungsschutzes eines im Ausland anerkannt Schutzberechtigten. Es handle sich in § 60 Abs. 1 und 2 AufenthG aber – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – nicht um eine konstitutive Anordnung einer statusbegründenden Bindungswirkung, sondern nur um ein Abschiebungsverbot, das aus der Schutzgarantie der Genfer Flüchtlingskonvention herrühre und nicht erst durch § 60 AufenthG begründet werde. Auch die teleologische Auslegung des § 26 AsylG ergebe, dass der Stammberechtigte nicht durch das Bundesamt den internationalen Schutzstatus zuerkannt bekommen müsse. Das Verwaltungsgericht gehe richtigerweise davon aus, dass der Zweck des Familienflüchtlingsschutzes auch in der Entlastung von Behörden und Gerichten und der Vermeidung von Doppelprüfungen zu sehen sei, jedoch sei von besonderer Bedeutung der Zweck der Gleichstellung von Familienangehörigen aufgrund der zahlreichen Erfahrungen mit familienbezogenen Verfolgungen. Schon im Hinblick auf eine europäische Harmonisierung sei lange beanstandet worden, dass es an einer insoweit wichtigen Einbeziehung der Angehörigen von Konventionsflüchtlingen gefehlt habe und mit dem Zuwanderungsgesetz sei diesen Forderungen erstmals Rechnung getragen worden, um die Flüchtlingsfamilie insgesamt mit einem einheitlichen Status auszustatten (Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl., § 26 AsylG Rn. 2). § 26 AsylG habe den vordergründigen Zweck, eine Gleichstellung im Schutzstatus der Familienangehörigen herzustellen (vgl. Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 26 AsylG Rn. 4). Dies gelte umso mehr, wenn der Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung des Stammberechtigten erfolgt sei, gerade nicht für die Durchführung des Asylverfahrens des im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes zuständig sei. Wenn Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens des nachgeborenen Kindes zuständig sei und der Asylantrag des Kindes zulässig sei, dann sei der Zweck des § 26 AsylG die Herstellung der Gleichstellung des familiären Schutzstatus, was dem gesetzgeberischen Willen entspreche. Es sei die Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (v. 23.6.2020 – 1 C 37/19.) Wenn die Beklagte kein eigenes Zuständigkeitsverfahren für das nachgeborene Kind einleite und die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gerade nicht schaffe, habe sie dem vordergründigen Zweck, eine Gleichstellung im Schutzstatus der Familienangehörigen herzustellen, über § 26 AsylG zu genügen. Der Einwand in den Urteilsgründen, dass dann in Anwendung des § 26 AsylG die Behörden und Gerichte aufwändig ermitteln müssten, ob die Schutzgewährungen in den Mitgliedstaaten bestandskräftig und auch nicht widerrufen seien, gehe fehl. Denn im Asylverfahren habe die Behörde bereits beim Stammberechtigten und dem Familienangehörigen im Sinne des § 26 AsylG von Amts wegen ein Informationsersuchen nach Art. 34 Dublin-III-VO an den Mitgliedstaat zu stellen, wodurch diese Informationen erlangt würden.
6
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 36). Die Grundsatzfrage muss nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig eine Durchdringung der Materie und eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2019 – 13a ZB 19.30070 – juris Rn. 5; B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 4; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4 m.w.N.).
7
Hiervon ausgehend hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung, denn die vom Kläger aufgeworfene Frage lässt sich schon anhand des Gesetzes beantworten und ist zudem in der jüngsten höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Bedeutung und Bindungswirkung einer flüchtlingsrechtlichen Statusentscheidung eines anderen Mitgliedstaats geklärt.
8
Allein aus dem nur vordergründig unterschiedlichen Wortlaut von § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG und § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann nicht abgeleitet werden, dass § 26 AsylG jedweden international Schutzberechtigten als Stammberechtigten ausreichen lässt. Während sich § 26 AsylG allein an das nach § 5 AsylG zuständige Bundesamt richtet, regelt § 25 AufenthG die Schnittstelle zwischen Bundesamt und den Ausländerbehörden. Insoweit ist nachvollziehbar, dass hier das Bundesamt ausdrücklich erwähnt wird. Wer international schutzberechtigt ist, ist zudem im Sinn des AsylG zu bestimmen. Insoweit erstreckt sich der Geltungsbereich des AsylG nach dessen § 1 Abs. 1 Nr. 2 auf den internationalen Schutz nach Maßgabe der dort näher genannten unionsrechtlichen Richtlinien und der Genfer Flüchtlingskonvention. Im Abschnitt 2. „Schutzgewährung“, Unterabschnitt 2. „Internationaler Schutz“ wird in den §§ 3 und 4 AsylG in Umsetzung der unionsrechtlichen Richtlinien der internationale Schutz dahingehend ausgeformt, dass dieser den Flüchtlingsschutz und den subsidiären Schutz umfasst, über den das Bundesamt nach § 5 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG zu entscheiden hat. Aus diesem Kontext wird deutlich, dass mit „international Schutzberechtigten“ in § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG nur solche gemeint sind, denen das Bundesamt den Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG oder subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuerkannt hat.
9
Dieses Ergebnis wird durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union zur innerstaatlichen Bedeutung und Bindungswirkung einer von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erfolgten Zuerkennung internationalen Schutzes bestätigt.
10
In seinem Vorlagebeschluss nach Art. 267 AEUV vom 7. September 2022 hat das Bundesverwaltungsgericht zu den von einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat ausgehenden Rechtswirkungen ausgeführt, diese sind nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt (Az. 1 C 26.21 – juris Rn. 12). Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt (vgl. BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 12; U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – NVwZ 2022, 66 – juris Rn. 32; U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – BVerwGE 150, 29 – juris Rn. 29;).
11
Eine andere Rechtslage ergibt sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auch nicht aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. September 2020 (Az. 2 BvR 2082/18 – BeckRS 2020, 25171 Rn. 28), nach dem eine Abschiebung in den Herkunftsstaat im Falle einer bereits erfolgten Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat untersagt ist. Es kann dahinstehen, ob eine ausländische Flüchtlingsanerkennung auch dann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG oder unionsrechtlichen Normen begründet, wenn eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ausgeschlossen ist (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 15). Denn auch wenn dies der Fall sein sollte, bestätigte das lediglich die im Gesetz angeordnete, auf den Abschiebungsschutz beschränkte Rechtswirkung ausländischer Zuerkennungen (jedenfalls) des Flüchtlingsstatus. Eine umfassende Bindung an durch andere Mitgliedstaaten ausgesprochene Statusentscheidungen dergestalt, dass ein ausnahmsweise zur erneuten Durchführung eines Asylverfahrens verpflichteter Mitgliedstaat das im ersten Mitgliedstaat gefundene Ergebnis ungeprüft übernehmen müsste, lässt sich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen nicht entnehmen (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 15).
12
Eine Bindungswirkung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union für einen anderen Mitgliedstaat aufgrund primären Unionsrechts ist zur Überzeugung des Bundesverwaltungsgerichts ausgeschlossen (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 17). Nach Art. 78 Abs. 1 Satz 1 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz. Hierfür erlassen das Europäische Parlament und der Rat nach Art. 78 Abs. 2 AEUV gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem (GEAS). Dieses umfasst unter anderem einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige und einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige, die keinen europäischen Asylstatus erhalten, aber internationalen Schutz benötigen (Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV). Weder diesen Regelungen noch sonstigen Vorschriften der Art. 77 ff. AEUV lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat der ergebnisoffenen Prüfung eines in einem weiteren Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz entgegenstünde, vielmehr gibt es bislang gerade keine gegenseitige Anerkennung positiver Asylentscheidungen (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 18).
13
Auch aus dem vom Gerichtshof der Europäischen Union aus Art. 2 und 3 EUV und Art. 67 und 82 Abs. 1 AEUV entwickelten „Grundsatz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten“ folgt keine Bindung an die in einem anderen Mitgliedstaat getroffene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 19 f.). Dem Eintritt einer derart weitreichenden Rechtsfolge steht entgegen, dass die Union bislang gerade keinen einheitlichen Schutzstatus im Sinne des Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV geschaffen hat. Die inhaltliche Prüfung der Voraussetzungen des Antrags auf internationalen Schutz bleibt daher Sache des Mitgliedstaates, bei dem dieser Antrag gestellt wurde.
14
Auch das Sekundärrecht der Union kennt keine Regelung des verfahrensrechtlichen oder des materiellen Flüchtlingsrechts, die ausdrücklich eine Bindung an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat für das Asylverfahren eines anderen Mitgliedstaates vorschreibt (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 22; U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – BVerwGE 172, 125 – juris Rn. 32; U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – BVerwGE 150, 29 – juris Rn. 29).
15
Da das Bundesverwaltungsgericht die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Beantwortung der Bindungsfrage weder in die eine noch die andere Richtung mit Gewissheit heranziehen konnte, hat es ihm die Frage vorgelegt, ob „Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) 604/2013, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 RL 2011/95/EU sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU dahin auszulegen [sind], dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen?“ (BVerwG B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – juris Rn. 22).
16
In seinem Urteil vom 18. Juni 2024 hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausdrücklich festgestellt, dass das Unionsrecht im Bereich des internationalen Schutzes die Mitgliedstaaten nach derzeitigen Stand nicht ausdrücklich verpflichtet, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen, insbesondere seien die Mitgliedstaaten hierzu nach den Bestimmungen der RL 2011/95 nicht verpflichtet (EuGH, U.v. 18.6.2024 – C-753/22 – juris Rn. 63). Auch seien die Asylbehörden der Mitgliedstaaten weder nach Art. 10 noch nach Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/32 verpflichtet, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen (EuGH, U.v. 18.6.2024 – C-753/22 – juris Rn. 65). Aus der Verordnung Nr. 604/2013 (Dublin VO) ergebe sich ebenfalls nicht, dass die Entscheidung des danach bestimmten Mitgliedstaats automatisch von den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden müsste, da es an einer entsprechenden Vorschrift fehle (EuGH, U.v. 18.6.2024 – C-753/22 – juris Rn. 67).
17
Insgesamt stellt der Gerichtshof der Europäischen Union fest, dass der Unionsgesetzgeber beim gegenwärtigen Stand des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems das mit Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV verfolgte Ziel eines in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige noch nicht vollständig verwirklicht habe. Insbesondere habe er bislang weder den Grundsatz aufgestellt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen, noch habe er die Einzelheiten zur Umsetzung eines solchen Grundsatzes festgelegt (EuGH, U.v. 18.6.2024 – C-753/22 – juris Rn. 68). Somit stehe es den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts zwar frei, die Anerkennung sämtlicher mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in ihrem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass ihre zuständigen Behörden eine neue Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erließen, sie könnten aber vorsehen, dass solche Entscheidungen, die ein anderer Mitgliedstaat nach günstigeren Bestimmungen im Sinne von Art. 3 der RL 2011/95 und Art. 5 der RL 2013/32 erlassen habe, automatisch anerkannt würden. Es stehe jedoch fest, dass die Bundesrepublik Deutschland von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht habe (EuGH, U.v. 18.6.2024 – C-753/22 – juris Rn. 69).
18
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.