Titel:
Strafbarkeit nach § 130 Abs. 3 StGB bei mehrdeutigen Äußerungen
Normenkette:
StGB § 130 Abs. 3, GG Art. 5 Abs. 1
Leitsätze:
Die Strafbarkeit einer Meinungsäußerung nach § 130 Abs. 3 StGB setzt wegen Art. 5 Abs. 1 GG bei mehrdeutigen Äußerungen voraus, dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen, die den Straftatbestand nicht erfüllen würden, mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind. Bei dieser Auslegung sind ausgehend vom Wortlaut auch der Kontext und die sonstigen Begleitumstände der Äußerung zu beachten. Die Auslegung ist eine reine Rechtsfrage, so dass sie bei ausreichender Tatsachengrundlage auch vom Revisionsgericht vorzunehmen ist. (Rn. 2 – 3) (red. LS Alexander Kalomiris)
1. Die Strafbarkeit einer Meinungsäußerung nach § 130 Abs. 3 StGB setzt wegen Art. 5 Abs. 1 GG bei mehrdeutigen Äußerungen voraus, dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen, die den Straftatbestand nicht erfüllen würden, mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind. (redaktioneller Leitsatz)
2. Diese Auslegung ist eine reine Rechtsfrage, so dass sie bei ausreichender Tatsachengrundlage auch vom Revisionsgericht vorzunehmen ist. (Leitsätze des Verfassers) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Volksverhetzung, Meinungsäußerung, mehrdeutige Äußerung, Auslegung, Auslegung durch das Revisionsgericht
Vorinstanz:
LG München II, Urteil vom 17.08.2023 – 6 Ns 510 Js 5/22
Fundstelle:
BeckRS 2024, 187
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten werden die Urteile des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 6. Juli 2022 und des Landgerichts München II vom 17. August 2023 aufgehoben.
II. Der Angeklagte wird freigesprochen.
III. Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe
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Die zulässige Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO) und führt zu seinem Freispruch (§ 354 Abs. 1 StPO), so dass es einer Entscheidung über die Verfahrensrügen nicht bedarf. Die Revision rügt im Ergebnis zu Recht, dass das Berufungsgericht die Bestimmung des Schutzbereiches des Art. 5 Abs. 1 GG, der auch im Rahmen von § 130 Abs. 3 StGB von Bedeutung ist, rechtsfehlerhaft vorgenommen hat.
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1. Allerdings gewährleistet Art. 5 Abs. 2 GG auch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung nur in den Schranken der allgemeinen Gesetze, zu denen auch die Strafgesetze wie § 130 StGB gehören (vgl. BGH, Urteil vom 08.08.2006, 5 StR 405/05, NStZ 2007, 216, 217). Die Strafvorschrift des § 130 Abs. 3 StGB muss somit im Licht der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden, sog. „Wechselwirkung“. Diese Abwägung ist eine reine Rechtsfrage, so dass sie bei ausreichender Tatsachengrundlage auch vom Revisionsgericht vorzunehmen ist (vgl. OLG München, Beschluss vom 31.05.2017, 5 OLG 13 Ss 81/17, zitiert nach juris, Rdn. 11 (zu § 185 StGB); BayObLG, Beschluss vom 20.03.2023, 206 StRR 1/23, zitiert nach juris, dort Rdn. 11ff. (zu § 130 StGB)).
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2. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Die strafrechtliche Sanktionierung knüpft an diese dementsprechend in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallenden und als Werturteil zu qualifizierende Äußerungen an und greift damit in die Meinungsfreiheit des Äußernden ein. Da der Schutzumfang des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG von der näheren Qualifizierung des Sinngehalts einer Aussage abhängt, muss sich für das Revisionsgericht aus den Feststellungen des Tatrichters auch dieser ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG Vorgaben abgeleitet, die schon im erforderlichen Ermittlungsvorgang gelten und damit rechtliche Maßstäbe für die tatrichterliche Sachverhaltsfeststellung enthalten. Ihre Einhaltung zu überprüfen ist Teil der revisionsgerichtlichen Kontrolle. So verstößt eine strafgerichtliche Verurteilung wegen einer Äußerung schon dann gegen Art. 5 Abs. 1 GG, wenn diese den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und der Verurteilung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind (vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 26.06.1990, 1 BvR 1165/89, zitiert nach juris, dort Rdn. 34 (zu § 185 StGB); BayObLG, Beschluss vom 20.10.2004, 1St RR 153/04, zitiert nach juris, dort Rdn. 21 (zu § 185 StGB), vom 20.03.2023, 206 StRR 1/23, aaO Rdn. 19, und vom 02.08.2023, 203 StRR 287/23, BeckRS 2023, 28655, dort Rd. 20 (jeweils zu § 130 StGB)). Dabei haben die Gerichte insbesondere ausgehend vom Wortlaut auch den Kontext und die sonstigen Begleitumstände der Äußerung zu beachten (siehe z.B. BVerfG, Beschluss vom 28.03.2017, 1 BvR 1384/16, zitiert nach juris, dort Rdn. 17).
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3. Auf dieser Grundlage hat das Landgericht die erforderliche Auslegung rechtsfehlerhaft vorgenommen und die Reichweite des Art. 5 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verkannt.
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Der Sinngehalt der inkriminierten Äußerung des Angeklagten ist – anders als das Landgericht meint – keineswegs zwingend dahingehend auszulegen, dass der Umgang mit Ungeimpften vergleichbar sei mit den Maßnahmen, denen die jüdische Bevölkerung in Deutschland bereits bei den Novemberprogrammen 1938 ausgesetzt war (UA S. 8 und 13); eine derartige Aussage würde den Tatbestand des § 130 Abs. 3 StGB allerdings grundsätzlich erfüllen (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 17.02.2023, 207 StRR 32/23, BeckRS 2023, 2859). Es liegt nach dem Gesamtzusammenhang des Beitrages vielmehr mindestens genauso nahe, dass der Angeklagte damit zum Ausdruck bringen wollte, dass von der Politik immer einfache und populistische Lösungen und „Sündenböcke“ gesucht würden, und dass das 1938 die Juden und heute die Ungeimpften seien. Dafür spricht bereits, dass der Angeklagte die Verfolgung der Juden nicht negiert oder relativiert, sondern darauf verweist, dass die Juden an der damaligen wirtschaftlichen Situation im Reich genauso wenig schuld gewesen seien wie die Ungeimpften an der Pandemie. Die Politik sei vielmehr damals wie heute auf der Suche nach Schuldigen, gegen die sich der Volkszorn richten solle (UA S. 5). In dieser letztgenannten Deutung wäre die Äußerung des Angeklagten offensichtlich vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt.
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Diese mögliche Auslegung der Äußerung hat das Landgericht zwar erkannt (UA S. 14/15), aber ohne nähere Begründung ausgeschlossen und hierbei insbesondere auf Kommentare unter dem Beitrag des Angeklagten verwiesen, die die Äußerung anders (im Sinne der Auslegung des Landgerichts) verstanden hätten. Dies war schon deshalb nicht zielführend, weil die Kammer selbst andere Kommentare anführt, die den Beitrag im Sinne der vorgenannten Deutung verstanden haben (UA S. 14/15), und damit verkannt hat, dass es für die Straflosigkeit bereits ausreichend ist, wenn eine mögliche Auslegung der Äußerung den Tatbestand nicht erfüllt.
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4. Da auszuschließen ist, dass eine erneute Hauptverhandlung weitere oder neue Feststellungen zu erbringen vermag, die eine Aufrechterhaltung der Verurteilung wegen Volksverhetzung begründen könnten, sind das angefochtene Urteil und das Ersturteil insoweit aufzuheben und der Angeklagte freizusprechen (§ 353 Abs. 1, § 354 Abs. 1 StPO).
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Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 465 Abs. 1 Satz 1, § 467 Abs. 1, § 473 Abs. 3 StPO.