Titel:
verfassungsmäßig berufener Vertreter, Verbotsirrtum, Abschalteinrichtung, Vorteilsausgleichung, Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Maßgeblicher Zeitpunkt, Verkehrserforderliche Sorgfalt, Restwert, Verfahrensrechtliche Grundsätze, Differenzschaden, Berufungsrücknahme, Verwaltungspraxis, Oberlandesgerichtsurteile, Schadensschätzung, Möglicher Schadensersatzanspruch, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, Weiterveräußerung, Unvermeidbarkeit, Kosten des Berufungsverfahrens, Schluss der mündlichen Verhandlung
Schlagworte:
Schadensersatzanspruch, Abschalteinrichtung, unvermeidbarer Verbotsirrtum, hypothetische Genehmigung, Vorteilsausgleichung, Nutzungsvorteile, Restwert
Vorinstanz:
LG Aschaffenburg, Urteil vom 19.09.2023 – 33 O 80/23
Fundstelle:
BeckRS 2024, 18463
Tenor
1.Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 19.09.2023, Az. 33 O 80/23, gemäß S 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen und den Berufungsstreitwert auf 5.175,00 € festzusetzen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis 03.07.2024.
Gründe
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Die Berufung des Klägers hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg, weil das angefochtene Urteil weder auf einer Rechtsverletzung beruht, noch die nach S. 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen (S. 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, S. 513 Abs. 1, S. 546 ZPO).
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Dem Kläger stehen gegen die Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Schadensersatzansprüche zu.
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1. Der Kläger hat, wie schon das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadensersatz gemäß §§ 826, 31 BGB. Dies wird auch in der Berufungsbegründung nicht mehr behauptet.
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2. Dem Kläger steht aber auch wegen der hier einzig in Betracht kommenden Abschalteinrichtung in Form eines sogenannten Thermofensters kein Anspruch aus S. 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit S. 6 Abs. 1, S. 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens zu.
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a) Hierzu fehlt es an dem erforderlichen Verschulden der Beklagten. Diese befand sich im Zeitpunkt des Verkaufs des streitgegenständlichen Fahrzeugs (15.12.2020) in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum.
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aa) Der Fahrzeughersteller, der sich unter Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum entlasten will, muss sowohl den Verbotsirrtum als solchen als auch die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums konkret darlegen und beweisen. Nur ein auch bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt unvermeidbarer Verbotsirrtum kann entlastend wirken. Ein entlastend wirkender Verbotsirrtum kann vorliegen, wenn der Schädiger die Rechtslage unter Einbeziehung der höchstrichterlichen Rechtsprechung sorgfältig geprüft hat und er bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt mit einer anderen Beurteilung durch die Gerichte nicht zu rechnen brauchte (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – Via ZR 335/21 –, Rn. 63, juris).
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Der Fahrzeughersteller kann zu seiner Entlastung auch darlegen und erforderlichenfalls nachweisen, seine Rechtsauffassung von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 wäre bei entsprechender Nachfrage von der für die EG-Typgenehmigung oder für anschließende Maßnahmen zuständigen Behörde bestätigt worden (hypothetische Genehmigung). Steht fest, dass eine ausreichende Erkundigung des einem Verbotsirrtum unterliegenden Schädigers dessen Fehlvorstellung bestätigt hätte, scheidet eine Haftung nach S. 823 Abs. 2 BGB infolge eines unvermeidbaren Verbotsirrtums auch dann aus, wenn der Schädiger eine entsprechende Erkundigung nicht eingeholt hat (BGH, vom 26. Juni 2023 – Via ZR 335/21 Rn. 65, juris).
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Das setzt zunächst die Darlegung und erforderlichenfalls den Nachweis eines Rechtsirrtums seitens des Fahrzeugherstellers voraus (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – Vla ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 63). Der Fahrzeughersteller muss darlegen und beweisen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des S. 31 BGB über die Rechtmäßigkeit der vom Käufer dargelegten und erforderlichenfalls nachgewiesenen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 62) im Irrtum befanden oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (BGH, Urteil vom 25. September 2023 – Via ZR 1/23 Rn. 14, Juris).
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Eine Entlastung auf dieser Grundlage setzt allerdings voraus, dass der Fahrzeughersteller nicht nur allgemein darlegt, dass die Behörde Abschalteinrichtungen der verwendeten Art genehmigt hätte, sondern dass ihm dies auch unter Berücksichtigung der konkret verwendeten Abschalteinrichtung in allen für die Beurteilung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 maßgebenden Einzelheiten gelingt. Haben mehrere Abschalteinrichtungen Verwendung gefunden, muss der Tatrichter die Einzelheiten der konkret verwendeten Kombination für die Frage einer hypothetischen Genehmigung in den Blick nehmen (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – Vla ZR 335/21 –, Rn. 66, juris).
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Auf das Bestehen einer entsprechenden Verwaltungspraxis kommt es dabei nicht maßgeblich an. Die Grundsätze der hypothetischen Genehmigung gelten mit Rücksicht auf ihren Sinn und Zweck auch, wenn der Fahrzeughersteller eine hypothetische Genehmigung bezogen auf den konkreten Motor einer bestimmten Baureihe nachweist. Neben anderen Indizien kann allerdings aufgrund einer bestimmten, hinreichend konkreten Verwaltungspraxis gemäß S. 286 Abs. 1 ZPO auf eine hypothetische Genehmigung geschlossen werden (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – Vla ZR 335/21 Rn. 67, juris).
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bb) Gemessen hieran liegt ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vor.
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aaa) Der Senat ist davon überzeugt, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter über die Rechtmäßigkeit der – unterstellt unzulässigen – Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im Zeitpunkt des Verkaufs des Fahrzeuges im Irrtum befanden. Die Beklagte hat vorgetragen, dass man davon ausgegangen sei, dass die Verwendung im Rahmen der gesetzlichen Regeln zulässig gewesen sei. Das gilt für alle mit den Fragen der Zulässigkeit des Emissionskontrollsystems befassten Personen, wie auch die verantwortlich handelnden, seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter. Dies schließt der Senat daraus, dass jahrelang seitens des Kraftfahrtbundesamts (KBA) Thermofenster und weitere Abschalteinrichtungen als unkritisch angesehen wurden. Diese Genehmigungspraxis des KBA hat sich erst nach entsprechenden Rechtsäußerungen durch den Generalanwalt und den EuGH in den Jahren 2021 und 2022 geändert (vgl. auch OLG Stuttgart, Urteil vom 28. September 2023 – 24 U 2616/22 –, Rn. 38 ff., juris).
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In den Fallgruppen der tatsächlichen und hypothetischen Genehmigung einer Funktion durch das KBA ist auch das konkrete Vorstellungsbild von der Rechtmäßigkeit der Funktion (Fehivorstellung der Beklagten) nicht näher zu begründen. Der wertungsmäßige Kern der Prüfung – nämlich die tatsächliche oder hypothetische Genehmigung des KBA – beruht anders als in den anderen Fallgruppen des unvermeidbaren Verbotsirrtums gerade nicht auf dem konkreten Vorstellungsbild der Beklagten und dem Bemühen um die bestmögliche rechtliche Absicherung der Vorstellung, sondern auf der objektiven Bewertung durch das KBA zum maßgeblichen Zeitpunkt. Diese Bewertung tritt insbesondere in der Verwaltungspraxis des KBA, aber auch durch öffentliche Äußerungen (etwa auf der Homepage des KBA) oder amtliche Auskünfte nach außen (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 14. November 2023 – 7 U 19/23 –, Rn. 27, juris).
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bbb) Der Senat ist auch davon überzeugt (S. 286 ZPO), dass bei Verkauf des Fahrzeuges auf Anfrage der Beklagten beim KBA als zuständiger Genehmigungsbehörde hypothetisch die Auskunft erteilt worden wäre, dass gegen die Verwendung der Abschalteinrichtungen im vorliegenden Fahrzeug keine rechtlichen Bedenken bestehen. Dies ergibt sich aus der von der Beklagten vorgelegten Auskunft des KBA zum streitgegenständlichen Motor vom (Anlage 85) wonach die Abgasbehandlung und insbesondere das verbaute Thermofenster, nicht zu beanstanden sei. Es steht damit fest, dass das KBA, hätte sich die Beklagte bei ihm nach seiner Auffassung erkundigt, die Ansicht der Beklagten zur Zulässigkeit der Wirkungsweise des im streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Emissionskontrollsystems bestätigt hätte. Ein – auch nur fahrlässiges schuldhaftes Verhalten der Beklagten scheidet aus.
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b) Zudem wäre ein möglicher Schadensersatzanspruch hier aufgrund der zu berücksichtigenden Grundsätze der Vorteilsausgleichung aufgezehrt.
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So sind nach der grundlegenden Entscheidung des BGH vom 26.06.2023 (Az. Vla ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 80) Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs schadensmindernd anzurechnen, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigen. Dabei ist der Restwert im Wege der Vorteilsausgleichung ohne Rücksicht darauf anzurechnen, ob er durch eine Weiterveräußerung realisiert worden ist (BGH Urt. v. 27.11.2023 – Via ZR 159/22, BeckRS 2023, 39066 Rn. 13). Der Senat ist auch nicht der Auffassung, dass die Entscheidung des BGH gegen europarechtliche Grundsätze verstößt. Vielmehr hat der EuGH ausdrücklich klargestellt, dass es in Ermangelung einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften Sache des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats ist, die Vorschriften über den Ersatz des Schadens festzulegen, der dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 715/2007 ausgestatteten Fahrzeugs tatsächlich entstanden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 21.03.2023 – C-100/21, LS sowie juris Rn. 92). Diese Grundsätze werden durch die im Hinweisbeschluss zitierten Entscheidungen des BGH berücksichtigt. Auch die Rechtsprechung des EuGH setzt als Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch voraus, dass tatsächlich ein (materieller oder immaterieller) Schaden entstanden sein muss. Dieser muss nach den verfahrensrechtlichen Grundsätzen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlungen auch noch vorhanden sein (Grüneberg/Grüneberg, BGB, 83, Aufl., Vorb. v. S. 249, Rn. 127).
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aa) Die Bewertung der gezogenen Nutzungen schätzt der Senat auf Basis der vom Bundesgerichtshof für zulässig erachteten Methode der linearen Wertminderung (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 07.1 1.2022 – Via ZR 325/21, juris Rn. 25) gemäß S. 287 ZPO unter Zugrundelegung einer Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 250.000 km (ebenfalls von einer Gesamtlaufleistung in Höhe von 250.000 km ausgehend bzw. diese billigend: BGH, Beschluss vom 09.12.2014 – VIII ZR 196/14, Rn. 3; Urteil v. 27.07.2021, Az. VI ZR 480/19, Rn. 26, juris).
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Weiter legt der Senat bei seiner Schätzung des Wertes den von der Klagepartei tatsächlich gezahlten Kaufpreis zugrunde und nicht den um den Differenzschadensersatz reduzierten objektiven Fahrzeugwert. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass, wenn sich dieses wertbestimmende Risiko bis zum Ende der Gesamtlaufzeit des Fahrzeugs nicht verwirklicht hat, dieser Umstand auch im Wege der im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vorzunehmenden Vorteilsausgleichung Berücksichtigung zu finden hat (BGH, Urteil vom 24.01.2022 – Vla ZR 100/21, juris Rn. 20).
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Hieraus resultiert unter Berücksichtigung der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in erster Instanz am 19.09.2023 zurückgelegten Fahrtstrecke (165.129) eine geschätzte Fahrtstrecke von derzeit 181.900 km und damit ein realisierter Nutzungswert von 18.418,89 G.
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bb) Der Fahrzeugrestwert ist unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgelegten DAT-Bewertung und den eigenen Ermittlungen des Senats auf der Grundlage der entsprechender Verkaufsangebote auf den Internetseiten „....de“ und „...“ auf mindestens 25.000,- € zu schätzen. Für die Bewertung des Fahrzeugrestwerts ist auf den aktuellen Marktwert des Fahrzeugs abzustellen. Für dessen Bestimmung sind Angebote von Bewertungs- und Verkaufsportalen auch grundsätzlich geeignet (OLG Celle Urt. v. 6.3.2024 – 7 U 120/22, BeckRS 2024, 3678, OLG Schleswig, Urteil v. 10. Oktober 2023 – 7 U 100/22, juris; OLG Frankfurt, Urteil v. 20. September 2023 – 3 U 8/23, juris). Dabei verkennt der Senat nicht, dass die gerade auf Verkaufsportalen ausgewiesenen Preise die Erwartungshaltung auf Verkäuferseite widerspiegeln und der Verkauf der Fahrzeuge voraussichtlich unter Vornahme von Abzügen erfolgt. Diesem Umstand ist deswegen im Rahmen der Schadensschätzung durch Vornahme eines Abschlags Rechnung zu tragen, was der Senat hier berücksichtigt hat.
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cc) Die Summe aus Restwert und Nutzungsersatz übersteigt hier den vom Kläger bezahlten Kaufpreis, so dass ein möglicher Differenzschaden vollständig aufgezehrt ist.
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Auch für den Zeitpunkt der außergerichtlichen Tätigkeit und der Klageerhebung stellt sich die Situation bei Berücksichtigung eines wegen geringerer Laufleistung erhöhten Restwertes im Ergebnis nicht anders dar, weshalb auch insoweit kein eigenständiger Zinsanspruch besteht dd) Auf der hier einzig vorhandenen Grundlage des S. 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit S. 6 Abs. 1, S. 27 Abs. 1 EG-FGV kann der Kläger neben dem Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens eine Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nicht verlangen (BGH Urt. v. 16.10.2023 – Via ZR 14/22, BeckRS 2023, 32287 Rn. 13; Via ZR 37/21, NJW, 2024, 49, Rn. 19).
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Die weiteren Voraussetzungen des S. 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO liegen vor. Der Fall hat weder Grundsatzbedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts. Es handelt sich um die Subsumtion eines Einzelfalls unter bereits vom Bundesgerichtshof aufgestellte Rechtsgrundsätze.
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Auch eine mündliche Verhandlung ist in der vorliegenden Sache nicht veranlasst, S. 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO.
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Der Senat beabsichtigt außerdem, der Klägerin gemäß S. 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des Berufungsverfahrens aufzulegen und den Streitwert wie oben angegeben festzusetzen. Auf die bei einer Berufungsrücknahme in Betracht kommende Gerichtsgebührenermäßigung (vgl. KV-Nrn. 1220, 1222) wird vorsorglich hingewiesen. Im Falle der Rücknahme der Berufung verringern sich die Gerichtsgebühren von dem 4,0-fachen auf das 2,0-fache der Gebühr.