Inhalt

VG München, Beschluss v. 03.04.2024 – M 19 S 23.3709
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis, Einnahme von Medizinal-Cannabis, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit Schmerzbelastungs- und Bluthochdruckproblemen, Vorangegangener illegaler Cannabiskonsum, Voraussetzungen einer Dauerbehandlung mit Arzneimitteln i.S.d. Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV, Nichtbeibringung eines angeordneten ärztlichen Gutachtens, Abgrenzung des ärztlichen Gutachtens zum Leistungstest und zur medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU), Zulässige Fragestellungen im Rahmen eines ärztlichen Gutachtens

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 2 Abs. 4 und § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 1 S. 2, S. 3 Nr. 5 und Abs. 8
FeV § 46 Abs. 1 und Abs. 3 Vorbemerkung der Anlage 4 zur FeV
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis, Einnahme von Medizinal-Cannabis, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit Schmerzbelastungs- und Bluthochdruckproblemen, Vorangegangener illegaler Cannabiskonsum, Voraussetzungen einer Dauerbehandlung mit Arzneimitteln i.S.d. Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV, Nichtbeibringung eines angeordneten ärztlichen Gutachtens, Abgrenzung des ärztlichen Gutachtens zum Leistungstest und zur medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU), Zulässige Fragestellungen im Rahmen eines ärztlichen Gutachtens
Fundstelle:
BeckRS 2024, 18297

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 6.250 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, AM, B, L und T.
2
Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Dachau vom 6. August 2019 (Az: 44 Js …*) wurde gegen den Antragsteller wegen des vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in drei Fällen und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln eine Gesamtgeldstrafe von 1.200 EUR verhängt (Bl. 9 BA). Der Strafbefehl ist seit 16. September 2019 insgesamt rechtskräftig.
3
Durch Mitteilung der Verkehrspolizei Freising wurde der Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners bekannt, dass der Antragsteller am 10. Mai 2022 einer Verkehrskontrolle unterzogen wurde. Hierbei legte er eine Bescheinigung seines behandelnden Arztes vor, wonach er aufgrund ärztlicher Verordnung täglich Medizinal-Cannabis einnehme (Bl. 14 BA).
4
Mit Schreiben vom 30. Juni 2022 wurde der Antragsteller von der Fahrerlaubnisbehörde aufgefordert, einen ärztlichen Befundbericht zu seinen Grunderkrankungen und deren Behandlung mit Medizinal-Cannabis vorzulegen.
5
Am 26. Juli 2022 legte der Antragsteller eine nervenärztliche Stellungnahme seines behandelnden Arztes vom 25. Juli 2022 (Bl. 20 BA) vor, der sich entnehmen lässt, dass der Antragsteller sich seit Dezember 2019 in ambulanter Behandlung befinde. Er leide an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter (ICD 10 F 90.0). Das Syndrom sei krankheitswertig ausgeprägt und äußere sich insbesondere durch Konzentrationsfähigkeitsdefizite und erschwerte Impulskontrollfähigkeiten. Zur Psychostimulanz sei zunächst der Einsatz von Methylphenidat versucht worden, wodurch jedoch keine zufriedenstellende Wirkung habe erzielt werden können. Es sei daher auf die Verordnung von Medizinal-Cannabis umgeschwenkt worden. Zum Einsatz komme Demecan 1, Tilray THC22 und Tilray 25/0. Der Antragsteller müsse die Stoffe mehrmals täglich bei einer Tagesdosis von maximal 2 Gramm inhalieren. Die ADHSbezogenen Symptome des Antragstellers, auch Schmerzbelastung (HWS) und Blutdrucksituation (Hypertonie) des Antragstellers verzeichneten eine Verbesserung, sodass die therapeutische Maßnahme langstreckig fortgesetzt werden solle. Der Antragsteller sei zuverlässig und sich der Risiken im Zusammenhang mit einer Teilnahme am Straßenverkehr bewusst.
6
Auf weitere Aufforderung der Behörde legte der Antragsteller das Ergebnis einer am 27. und 28. September 2022 durchgeführten Langzeitblutdruckmessung vor, wonach bei ihm derzeit keine behandlungsbedürftige Hypertonie bestehe. Die medizinischen Untersuchungsergebnisse liegen der Gerichtsakte bei (Bl. 36 BA).
7
Die Fahrerlaubnisbehörde forderte den Antragsteller mit Schreiben vom 22. November 2022 – diesem zugestellt am 24. November 2022 – auf, bis zum 5. Februar 2023 ein ärztliches Gutachten von einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung nach § 11 Abs. 2 Nr. 5 Fahrerlaubnisverordnung (FeV) in Verbindung mit der Vorbemerkung der Anlage 4 zur FeV vorzulegen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, aufgrund der Diagnose von ADHS mit Schmerzbelastungs- und Bluthochdruckproblemen in Verbindung mit der Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis bestünden Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers. Es sei daher zu klären, ob er trotz seiner Erkrankungen und der Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis in der Lage sei, die Anforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen der von seiner Fahrerlaubnis umfassten Klassen zu erfüllen. Es sei zudem zu klären, ob er die Medikation entsprechend der ärztlichen Verordnung und nicht missbräuchlich einnehme, ob eine Einsicht zur Therapietreue und eine kritische Einschätzungsfähigkeit bestehe und ob aufgrund des früheren illegalen Cannabiskonsums eine medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) nach Nr. 3 der Vorbemerkung zur Anlage 4 der FeV angezeigt sei. In ihren Ermessenserwägungen führte die Behörde aus, die Begutachtungsaufforderung sei geeignet, erforderlich und angemessen, insbesondere beeinträchtige sie die Persönlichkeitsrechte des Antragstellers im Vergleich zu anderen Maßnahmen am wenigsten. Der Antragsteller wurde auf die Rechtsfolge des § 11 Abs. 8 FeV im Falle der Nichtbeibringung des Gutachtens hingewiesen.
8
Am 18. Januar 2023 unterzog sich der Antragsteller der Begutachtung bei der TÜV Life Service GmbH. Trotz mehrfacher Fristverlängerungen zu dem Zweck, dem Antragsteller eine Nachbesserung des Gutachtens zu ermöglichen, legte dieser der Behörde kein Gutachten vor.
9
Mit Schreiben vom 9. März 2023 hörte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller zur beabsichtigten Entziehung seiner Fahrerlaubnis an.
10
Am 12. Mai 2023 legte der Antragsteller die von der TÜV Life Service GmbH am 1. März 2023 durchgeführte psychologischen Zusatzuntersuchung mit positivem Ergebnis und eine nervenärztliche Stellungnahme seines behandelnden Arztes vor. Nach der nervenärztlichen Stellungnahme sei die Behandlung des Antragstellers mit Medizinal-Cannabis aufgrund dessen positiver Vorerfahrungen als angemessener Selbstbehandlungsversuch einzustufen.
11
Mit Bescheid vom 16. Mai 2023, zur Post gegeben am selben Tag (Bl. 82 BA), entzog der Antragsgegner dem Antragsteller seine Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1), gab diesem auf, seinen Führerschein innerhalb von einer Woche nach Zustellung dieses Bescheids dem Landratsamt zu übergeben (Nr. 2), ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheids an (Nr. 3) und drohte für den Fall der Nichterfüllung der Nr. 2 ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000 EUR an (Nr. 4).
12
Zur Begründung wurde im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Die Begutachtungsanordnung finde ihre Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 2 Nr. 5 und Abs. 8 FeV in Verbindung mit der Vorbemerkung der Anlage 4 zur FeV. Die Erkrankungen des Antragstellers könnten zwar keiner Nummer in der Anlage 4 zur FeV zugeordnet werden, diese sei jedoch nicht abschließend. Bei den Krankheiten des Antragstellers handele es sich um keine alltäglich vorkommenden Erkrankungen, sodass aufzuklären sei, ob der Antragsteller trotz seiner Krankheiten (ADHS mit Schmerzbelastungs- und Bluthochdruckproblemen) in Verbindung mit der Dauermedikation mit Medizinal-Cannabis fahrtauglich sei. Eine Dauermedikation falle unter Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV. Von einer Dauermedikation in diesem Sinn könne nur ausgegangen werden, wenn die Einnahme von Cannabis ärztlich und nachvollziehbar verordnet sei; dies komme nur bei schwerwiegenden Krankheiten und als ultima ratio in Betracht. Zudem sei vorausgesetzt, dass der Stoff zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen werde, keine dauerhafte Auswirkung auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sei und die Grunderkrankung keine verkehrsmedizinische Ausprägung aufweise. Es dürfe zudem nicht zu erwarten sein, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder Medikation beeinträchtigt sei, am Straßenverkehr teilnehmen werde. Ob diese Voraussetzungen vorlägen, sei aufklärungsbedürftig. Da der Antragsteller das zum Ausschluss der Fahreignungszweifel angeordnete Gutachten nicht beigebracht habe, habe die Behörde ihm nach § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis entzogen. Es sei davon auszugehen, dass ein negatives Gutachten vorliege und der Antragsteller durch die Nichtvorlage fahreignungsausschließende Mängel verbergen wolle. Die unter Nr. 2 des Bescheids ergangene Aufforderung zur Ablieferung des Führerscheins ergebe sich aus § 3 Abs. 2 StVG i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 FeV. Die Sofortvollzugsanordnung in Nr. 3 des Bescheids sei gerechtfertigt, da die persönlichen, beruflichen und finanziellen Interessen des Antragstellers wegen der eindeutigen Gefahren, die von ungeeigneten Kraftfahrern ausgingen, gegenüber dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug zurücktreten müssten; Anhaltspunkte für ein ausnahmsweise überwiegendes privates Interesse bestünden nicht. Die Androhung des Zwangsgelds in Nr. 4 des Bescheids sei angemessen. Auf den Bescheid im Übrigen wird ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
13
Mit Schreiben vom 6. Juni 2023 legte die Bevollmächtigte des Antragstellers Widerspruch gegen den Entziehungsbescheid ein. Eine Entziehung nach § 11 Abs. 8 FeV setze eine rechtmäßige Begutachtungsaufforderung voraus, die hier nicht gegeben sei. Die Aufforderung enthalte unzulässige Fragestellungen, welche nicht durch ein ärztliches Gutachten, sondern nur durch eine MPU aufzuklären seien. Dies betreffe insbesondere die Fragestellung nach einem missbräuchlichen Konsum des MedizinalCannabis durch den Antragsteller. Diese Frage sei nach den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung im Sinne einer prognostischen Untersuchung durch eine psychologische Aufklärung des Konsummusters und der Drogengefährdung zu überprüfen. Auch die Frage der Einsicht des Antragstellers zur Therapietreue (Adhärenz) und zu seiner kritischen Einschätzungsfähigkeit hinsichtlich möglicher Leistungsdefizite (Risikoeinschätzung) seien nur durch eine MPU aufzuklären. Der mit der Erstellung des angeordneten ärztlichen Gutachtens beauftragte Arzt sei an die Fragestellungen in der Begutachtungsanordnung gebunden und müsse diese vollständig beantworten, obwohl er hierzu nicht in der Lage sei. Vor diesem Hintergrund sei die Begutachtungsanordnung weder anlassbezogen noch verhältnismäßig.
14
Mit Antwortschreiben des Antragsgegners vom 12. Juli 2023 wies dieser darauf hin, dass im vorliegenden Fall durchaus Aspekte zu prüfen seien, die Inhalt eines ärztlichen Gutachtens darstellten. Dies betreffe insbesondere die Frage, ob dieser vor dem Hintergrund seiner Dauermedikation mit Medizinal-Cannabis die Anforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen erfülle. Dies sei nur bei einer nachvollziehbaren medizinischen Indikation der Fall, die – wie mögliche Fahreignungseinschränkungen durch die jeweiligen Grunderkrankungen – innerhalb des ärztlichen Gutachtens abzuklären seien. Auch die Frage nach der Therapietreue des Antragstellers müsse ein Arzt und kein Psychologe klären, da sich in diesem Rahmen u.a. die Frage eines möglichen Beigebrauchs zur Dauermedikation stelle, welche die Adhärenz des Antragstellers beeinträchtigen könne; hierzu sei das klinische Bild relevant. Die Frage einer missbräuchlichen Einnahme sei durch ein ärztliches Gutachten ebenfalls aufklärbar. Der mit der Erstellung des ärztlichen Gutachtens beauftragte Verkehrsmediziner könne dann – wie im vorliegenden Fall – eine psychologische Zusatzuntersuchung (Leistungstestung) zur Aufklärung der psycho-physischen Leistungsfähigkeit des Antragstellers anordnen. Diese könne das ärztliche Gutachten jedoch ebenso wenig ersetzen wie die vom Antragsteller vorgelegten Atteste seines behandelnden Arztes. Insbesondere könne diese keine Aussagen über kurzfristig auftretende Leistungsdefizite treffen.
15
Mit Schreiben vom 24. Juli 2023 erwiderte die Bevollmächtigte des Antragstellers hierauf, dass es sich bei der psychologischen Zusatzuntersuchung (Leistungstestung) lediglich um ein standardisiertes Testverfahren handele, bei der Faktoren wie visuelle Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen geprüft würden. In diesem Rahmen könnten jedoch die Fragen nach der Risikoeinschätzung und Therapietreue des Antragstellers ebenso wenig beantwortet werden wie im ärztlichen Gutachten selbst. Diese nur durch eine MPU zu klärenden Fragen würden in der Anordnung des ärztlichen Gutachtens mit den die Leistungsfähigkeit des Antragstellers betreffenden Fragen in unzulässiger Weise vermischt. Hierzu verwies die Bevollmächtigte auf verwaltungsgerichtliche Entscheidungen. Zudem erweise sich die im ärztlichen Gutachten genannte Fragestellung, ob aufgrund des früheren illegalen Cannabiskonsums des Antragstellers eine MPU angezeigt sei, als unzulässig. Hierbei handele es sich um eine fahrerlaubnisrechtliche Frage, über welche die Fahrerlaubnisbehörde selbst zu entscheiden habe.
16
Der Antragsteller ließ seine Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 25. Juli 2023 Klage erheben und beantragen,
17
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 16. Juni 2023 gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 16. Mai 2023 wiederherzustellen und den Antragsgegner anzuweisen, die Fahrerlaubnis bis zum Abschluss des Verfahrens an den Antragsteller herauszugeben.
18
Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Widerspruchsbegründung und das Schreiben vom 24. Juli 2023 verwiesen.
19
Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 27. Juli 2023,
20
den Antrag abzulehnen.
21
Er trug vor, dass die Anordnung des ärztlichen Gutachtens rechtmäßig sei und wiederholte insoweit im Wesentlichen seine bisherigen Ausführungen. Ergänzend wies er darauf hin, dass eine Beurteilung der Fahreignung nach der Fahrerlaubnisverordnung nicht durch den behandelnden Arzt erfolgen dürfe. Die in der Begutachtungsaufforderung genannten Fragestellungen seien nicht ursächlich für das negative Gutachten des Antragstellers.
22
Der Antragsteller hat seinen Führerschein bereits am 25. Mai 2023 bei der Fahrerlaubnisbehörde abgegeben.
23
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakte ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 VwGO).
II.
24
1. Der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 6. Juni 2023 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 16. Mai 2023 ist in interessengerechter Auslegung (vgl. § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO) so zu verstehen, dass nur hinsichtlich Nr. 1 und 2 des Bescheids die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragt ist (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO) und hinsichtlich Nr. 4 des Bescheids die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO).
25
2. Der so verstandene Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
26
a) Der Antrag ist zulässig.
27
aa) Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist statthaft, wenn die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs begehrt wird, die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3a VwGO) oder durch Sofortvollzugsanordnung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) entfallen ist, d.h. wenn streitgegenständlich in der Hauptsacheklage die Rechtmäßigkeit eines angegriffenen Verwaltungsakts ist. Dies ist hier der Fall.
28
Dem vom Antragsteller eingelegten Widerspruch vom 6. Juni 2023 gegen die Verwaltungsakte in Nrn. 1 und 2 des Bescheids kommt nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung zu, da die Behörde in Nr. 3 des Bescheids die sofortige Vollziehbarkeit der vorangehenden Nummern angeordnet hat. Dem Widerspruch kommt auch hinsichtlich der Nr. 4 des Bescheids nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 VwZVG keine aufschiebende Wirkung zu, sodass nach Art. 21a Satz 2 VwZVG ebenfalls ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO statthaft ist.
29
Hinsichtlich des auf einstweilige Herausgabe des Führerscheins gerichteten Begehrens wäre in der Hauptsache der Annexantrag nach § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft. Im Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht insoweit die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt – wie hier – zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung schon vollzogen ist (§ 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO).
30
bb) Dem Antrag fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis, da gegen den angefochtenen Bescheid vom 16. Mai 2023 rechtzeitig innerhalb der einmonatigen Frist nach § 70 Abs. 1 VwGO am 6. Juni 2023 Widerspruch erhoben wurde. Der eingelegte Widerspruch ist statthaft. Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV ist als „personenbezogene Prüfungsentscheidung“ i.S.d. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) anzusehen (st. Rspr., vgl. BayVGH, B.v. 15.4.2020 – 11 CS 20.316 – juris Rn. 13; B.v. 26.1.2009 – 11 CS 08.2028 – juris Rn. 15), sodass die Erhebung des Widerspruchs hier wahlweise anstelle der Anfechtungsklage möglich war. Der streitgegenständliche Bescheid ist damit nicht in Bestandskraft erwachsen.
31
b) Der Antrag ist jedoch unbegründet.
32
aa) Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung hinsichtlich Nrn. 1 und 2 des Bescheids genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei allerdings keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Schmidt in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80, Rn. 43).
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Die Fahrerlaubnisbehörde hat hier dargelegt, warum sie konkret im Fall des Antragstellers im Interesse der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Die persönlichen, beruflichen und finanziellen Interessen des Antragstellers müssten wegen der eindeutigen Gefahren, die von ungeeigneten Kraftfahrern ausgingen, gegenüber dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug zurücktreten. Das zum Nachweis der Fahreignung geforderte Gutachten sei nicht vorgelegt worden. Ein ausnahmsweise überwiegendes privates Interesse sei nicht ersichtlich. Im Übrigen ergibt sich das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung im Bereich des Sicherheitsrechts regelmäßig – so auch hier – gerade aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts selbst maßgebend waren (vgl. BayVGH, B.v. 9.2.2012 – 11 CS 11.2272 – juris).
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bb) Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessenabwägung.
35
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für den Widerspruch gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – juris Rn. 13). Da im vorliegenden Fall ein Widerspruchsbescheid noch nicht ergangen ist, kommt es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes an.
36
Nach summarischer Prüfung erweist sich der streitgegenständliche Bescheid zum maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden gerichtlichen Entscheidung als voraussichtlich rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), sodass der Widerspruch voraussichtlich erfolglos bleiben wird.
37
(1) Der Bescheid erweist sich in Nr. 1 voraussichtlich als rechtmäßig.
38
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist, vgl. § 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3, § 11 Abs. 1 Satz 1, 2 FeV i.V.m. § 2 Abs. 4 StVG.
39
Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Bewerber anordnen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 FeV). Hierfür reichen begründete Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen, dessen Fahrungeeignetheit muss – wie ein Vergleich zu § 11 Abs. 7 FeV zeigt – nicht feststehen. Die Behörde darf bestimmen, welcher Facharzt die Untersuchung vornehmen soll, z.B. kann sie – wie hier – die Begutachtung durch einen Arzt in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung nach § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV anordnen. Bringt der Bewerber ein rechtmäßig angefordertes ärztliches Gutachten nicht oder nicht fristgerecht bei, darf die Behörde auf die Nichteignung des Bewerbers schließen (§ 11 Abs. 8 FeV).
40
So liegt der Fall hier. Die Begutachtungsanordnung vom 22. November 2022 erging nach der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt ihres Erlasses (vgl. BVerwG, U.v. 4.12.2020 – 3 C 5.29 – juris Rn. 14) rechtmäßig auf Grundlage des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV. Der Schluss aus der Nichtbeibringung des angeforderten ärztlichen Gutachtens auf die fehlende Fahreignung war voraussichtlich gerechtfertigt, da die Anordnung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 19 m.w.N.).
41
(a) Dem Antragsgegner wurden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung begründen.
42
Denn es lagen aufgrund der Umstände, dass sich der Antragsteller in der polizeilichen Verkehrskontrolle am 10. Mai 2022 als Cannabispatient auswies, in Verbindung mit der nervenärztlichen Stellungnahme seines behandelnden Arztes vom 25. Juli 2022, der sich eine mit Medizinal-Cannabis behandelte ADHS-Erkrankung sowie Schmerzbelastungs- und Bluthochdruckprobleme (Hypertonie) des Antragstellers entnehmen lassen, nach summarischer Prüfung Tatsachen vor, die auf fahreignungsausschließende Umstände i.S.d. der Vorbemerkung der Anlage 4 zur FeV beim Antragsteller hinwiesen. Zwar können die Erkrankungen und die Medikation des Antragstellers mit Cannabis (noch) keiner konkreten Nummer der Anlage 4 zugeordnet werden. Die Anlage 4 ist jedoch, wie die Nrn. 1 und 3 ihrer Vorbemerkung und der klare Wortlaut in § 11 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 und § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV („insbesondere“) zeigen, nicht abschließend. Sie deckt insbesondere nur häufig vorkommende und längerfristige Erkrankungen ab und umfasst keine Kumulationen aus verschiedenen fahreignungsrelevanten Umständen bzw. Erkrankungen (Komorbidität), die in ihrer Verbindung Fahreignungszweifel auslösen.
43
(aa) Der Antragsgegner durfte davon ausgehen, dass sich aufklärungsbedürftige Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers i.S.d. Vorbemerkung der Anlage 4 zur FeV aus der Kumulation seiner Erkrankungen ergeben.
44
ADHS ist zwar von der Anlage 4 zur FeV nicht umfasst und kann für sich genommen i.d.R. keine Fahreignungszweifel begründen; anders sind jedoch Fälle zu beurteilen, in denen weitere fahreignungsrelevante Aspekte hinzutreten (vgl. BayVGH, B.v. 25.3.2020 – 11 CS 20.203 – juris Rn. 16).
45
Der Antragsteller leidet nicht nur an einer ADHS-Erkrankung, die sich ausweislich der nervenärztlichen Stellungnahme vom 25. Juli 2022 gerade durch Defizite bei seiner Reaktions- und Impulskontrollfähigkeit äußert, sondern hat auch Schmerzbelastungs- und Bluthochdruckprobleme. Auch wenn sich diese beiden Erkrankungen aktuell gebessert haben sollten, ändert dies nichts am Vorliegen einer Kumulation. Der behandelnde Arzt des Antragstellers hat dessen Erkrankungen – vor dem Hintergrund der Zulässigkeit einer Cannabisbehandlung nur bei schweren Krankheiten (vgl. § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch V – SGB V) – als schwerwiegend eingestuft.
46
(bb) Zudem ergeben sich Fahreignungszweifel im Hinblick auf die regelmäßige Einnahme von Cannabis durch den Antragsteller.
47
Grundsätzlich ist bei einer Cannabismedikation zwar von einer medizinisch indizierten und vom Patienten sorgfältig durchgeführten Therapie auszugehen. Bedenken können sich aber aus der Vorgeschichte des Patienten ableiten lassen, insbesondere aus einem früheren illegalen Cannabiskonsum oder dem Vorliegen einer Komorbidität (vgl. Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O.).
48
Soweit vorliegend eine Dauerbehandlung mit Arzneimitteln nach Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV in Betracht kommt, bei der die Fahreignung gegeben ist, sofern die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht unter das erforderliche Maß beeinträchtigt wird (Nrn. 9.6.2), ist hiervon und nicht von fahreignungsausschließendem Konsum nach Nr. 9.2 der Anlage 4 zur FeV nur unter bestimmten Voraussetzungen auszugehen (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 2 StVG, Rn. 62a). Die Einnahme von Cannabis muss medizinisch indiziert und ärztlich verordnet sein, das Medizinal-Cannabis muss zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen werden und es dürfen keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sein, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik darf keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweisen, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und es darf nicht zu erwarten sein, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankungen oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (BayVGH, B.v. 30.3. 2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 19; VGH BW, B.v. 8.7.2021 – 13 S 1800/21 – juris Rn. 26).
49
Die nervenärztliche Stellungnahme vom 25. Juli 2022 gibt dementsprechend keinen hinreichenden Aufschluss darüber, an welcher konkreten Nummer der Anlage 4 zur FeV (Nr. 9.2., 9.4 oder 9.6) der Cannabiskonsum des Antragstellers zu messen ist, weil sie die vorstehenden Fragestellungen, insbesondere vor dem Hintergrund des früheren illegalen Cannabiskonsums und der Kumulation von Erkrankungen, nicht beantwortet. Bereits die Frage nach der Indikation, ob also die Behandlung mit Cannabis im Fall des Antragstellers die ultima ratio ist (vgl. BayVGH, B.v. 22.8.2022 – 11 CS 22.1202 – juris Rn. 26), findet keine zweifelsfreie Klärung.
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(cc) Die bestehenden Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers können auch nicht durch die Vorlage der psychologischen Zusatzuntersuchung ausgeräumt werden. Bei dieser sog. „Leistungstestung“ wird in einem standardisierten Testverfahren nur die psycho-physische Leistungsfähigkeit des Betroffenen anhand der Kriterien der Reaktions-, Orientierungs- und Konzentrationsfähigkeit geprüft (Zwerger in Verkehrsrechtliches Mandat, Bd. 3: Verkehrsverwaltungsrecht und Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 14, Rn. 10 ff.).
51
(b) Hinsichtlich der in der Begutachtungsaufforderung aufgeworfenen Fragen bestehen keine durchgreifenden Bedenken.
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(aa) Der Begutachtungsrahmen ist durch die Fahrerlaubnisbehörde entsprechend den Anforderungen des § 11 Abs. 6 FeV klar und anlassbezogen festzulegen. Der Betroffene soll durch die Mitteilung der zu begutachtenden Fragestellung, die ebenso wie die Angabe der Gründe, die Zweifel an der Fahreignung begründen, sowie der Fachrichtung des zur Begutachtung einzuschaltenden Facharztes bereits in der an ihn gerichteten Beibringungsanordnung zu erfolgen hat, in die Lage versetzt werden, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob die Anordnung des Gutachtens rechtmäßig ist und er dieses beibringen will (vgl. BVerwG, B.v. 5.2.2015 – 3 B 16/14 – juris Rn. 8 m.w.N.). Da die Begutachtungsanordnung nicht selbstständig anfechtbar ist, sind an ihre Rechtmäßigkeit strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 25.7.2016 – 11 CS 16.1256 – juris Rn. 11).
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Die Fragen in der Begutachtungsaufforderung müssen inhaltlich angemessen, d.h. geeignet sein, die bestehenden Fahreignungszweifel auszuräumen. Dies setzt voraus, dass sie durch den beauftragten Arzt fachlich beantwortet werden können. Bei einer Medikation mit Cannabis ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Dauerbehandlung mit Arzneimitteln i.S.d. Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV vorliegen, und – falls ja – ob dadurch die Leistungsfähigkeit des Antragstellers in verkehrsmedizinischer und -psychologischer Hinsicht unter das erforderliche Maß beeinträchtigt wird. Letzteres wäre der Fall, wenn durch die Grunderkrankungen oder die entsprechenden Medikationen des Antragstellers dessen Fahreignung beeinträchtigt wird, wobei eine eingeschränkte psycho-physische Leistungsfähigkeit, d.h. etwaige kognitive Einschränkungen (anders als rein körperliche Beeinträchtigungen) ein Aspekt der verkehrspsychologischen Leistungsfähigkeit sind. Aus verkehrsmedizinischer Sicht sind bei einer Medikation mit Cannabis daher in einer einzelfallorientierten Beurteilung die Erkrankungen, ihre Symptome, die medikamentenspezifischen Auswirkungen und die ärztliche Überwachung der Medikamenteneinnahme zu prüfen; in verkehrspsychologischer Hinsicht bedarf es einer Untersuchung der individuellen Leistungsfähigkeit (psycho-physische Leistungsfähigkeit), der Fähigkeit zur Kompensation von ggf. festgestellten Leistungseinschränkungen, der Therapietreue, der Fähigkeit zur Risikoeinschätzung und der Gefahr der missbräuchlichen Einnahme (vgl. VGH BW, B.v. 31.1.2017 – 10 S 1503/16 – juris Rn. 8; B.v. 22.1.2013 – 10 S 243/12 – juris Ls. 2; Koehl, Anm. zu OVG Saarlouis, B.v. 8.11.2021 – 1 B 180/21 – SVR 2021, 477, 479). Die psychische Leistungsfähigkeit kann nur in psychologischen Untersuchungen überprüft werden: Zur Aufklärung der psycho-physischen Leistungsfähigkeit dienen Leistungstests (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 21). Alle anderen psychischen Aspekte, d.h. die Frage der Adhärenz, der Risikoeinschätzung und der Gefahr einer missbräuchlichen Einnahme (Aufklärung von Konsummuster und Drogengefährdung) sind grundsätzlich in einer MPU zu klären (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 21 sowie B.v. 15.12.2017 – 11 CS 17.2201 – juris Rn. 21; VGH BW, B.v. 25.10.2022 – 13 S 1641/22 – juris Rn. 15; vgl. zur Risikowahrnehmung und zum Missbrauch auch Schubert/Huetten/Reimann/Graw (Hrsg. u.a.), Kommentar zu den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, Anhang: Handlungsempfehlung der Ständigen Arbeitsgruppe Beurteilungskriterien zur Fahreignungsbegutachtung bei Cannabismedikation, S. 443). Hiervon zu trennen ist die Problematik, ob Fragen, die grundsätzlich psychologischer Natur sind, bereits in einem ärztlichen Gutachten aufgeworfen werden dürfen, wenn sich der Aufklärungsgegenstand nicht auf ein ärztliches Gutachten beschränkt, sondern sich ggf. auf anschließende psychologische Untersuchungen erstreckt (vgl. hierzu S. 4 und hinsichtlich des zusätzlichen Leistungstests S. 5 der Begutachtungsaufforderung). Insoweit ist in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass die Behörde mit ihrer Fragestellung sicherstellen muss, dass der Arzt in der Begutachtungsstelle nicht schwerpunktmäßig und in eigener Verantwortung dem psychologischen Aufgabenbereich zuzuordnende Testverfahren durchführt (vgl. VGH BW, U.v. 11.8.2015 – 10 S 444/14 – juris Rn. 35 ff., VG Würzburg, B.v. 27.7.2016 – W 6 S 16.680 – juris Rn. 38 f.).
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(bb) Dies zugrundgelegt sind die in der Begutachtungsanordnung gestellten Fragen hier als rechtmäßig anzusehen. Die Anordnung umfasst ausschließlich Fragen, die (zunächst) in einem ärztlichen Gutachten zu klären sind und ist vor diesem Hintergrund für den Antragsteller hinreichend bestimmt und sachangemessen. Soweit sie grundsätzlich psychologische Fragestellungen miteinbezieht, handelt es sich um Fragen, die – nicht zuletzt wegen der hier bestehenden Kumulationsproblematik – in einem ersten Schritt einer medizinischen Tatsachenklärung bedürfen. Denn es ist im streitgegenständlichen Fall unklar, ob diese Fragen in einer MPU auf zweiter Stufe überhaupt noch gestellt werden dürfen; dies hängt vom Ergebnis der ärztlichen Untersuchung ab. Vor diesem Hintergrund besteht hier durch den durch die Behörde gesetzten Untersuchungsrahmen (vgl. § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Nr. 1 lit. a Satz 2 der Anlage 4a zur FeV) nicht die Gefahr, dass dem beauftragten Arzt in eigener Verantwortung psychologische Testverfahren überantwortet werden.
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Bei der ersten Frage nach etwaigen Fahreignungseinschränkungen des Antragstellers durch seine Erkrankungen bzw. die Medikation mit Cannabis handelt es sich in erster Linie um körperliche Aspekte; sie umfasst auch die Frage, ob die Behandlung überhaupt den Anforderungen einer Dauerbehandlung i.S.d. Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV entspricht, da diese erst den Maßstab für die Prüfung der Fahreignung setzt. Konkret sind insbesondere die Fragen zu beantworten, ob im Fall des Antragstellers Cannabis verordnet werden durfte (v.a. schwerwiegende Krankheit, ultima ratio, keine verkehrsmedizinische Ausprägung der Grunderkrankung). Zudem muss der Arzt klären, welche Medikamente gegen die Erkrankungen des Antragstellers eingenommen werden müssen, ob diese oder die Symptome der Krankheiten im Verhältnis zueinander oder zur Cannabismedikation gefährliche Wechselwirkungen entfalten und ob ärztliche Kontrollen erforderlich sind. Die Fragestellung entspricht der Handlungsempfehlung für Cannabismedikationen im Merkblatt Arzneimittel und Fahreignung der Bundesanstalt für Straßenwesen (Stand: 2022, S. 11).
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Die zweite Frage, ob der Antragsteller das Cannabis entsprechend der ärztlichen Verordnung und insbesondere nicht missbräuchlich einnimmt (s. hierzu Nr. 9.4 der Anlage 4 zur FeV) und ob eine Einsicht in die Therapietreue besteht, wurde ebenfalls in zulässiger Weise im Rahmen eines ärztlichen Gutachtens gestellt (vgl. hierzu die Vorlage im Merkblatt Arzneimittel und Fahreignung der Bundesanstalt für Straßenwesen, a.a.O.). Sie dient der Tatsachenklärung für eine mögliche anschließende Fragestellung in einer (noch anzuordnenden) MPU. Sie ist im Rahmen einer MPU zur charakterlichen Untersuchung der Zuverlässigkeit des Antragstellers nur noch relevant, wenn nach dem Ergebnis des ärztlichen Gutachtens eine Dauerbehandlung i.S.d. Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV vorliegt und fahreignungsrelevante körperliche Leistungseinschränkungen des Antragstellers sich nicht schon allein aus seinen Grunderkrankungen oder seinen deshalb eingenommenen Medikamenten ergeben, sondern allenfalls aus einer verordnungswidrigen Einnahme des Medizinal-Cannabis.
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Dasselbe gilt für die dritte Frage nach der Risikoeinschätzung des Antragstellers. Diese Frage ist im Rahmen einer MPU nur noch gerechtfertigt, wenn sich diese aufgrund der im ärztlichen Gutachten festgestellten konkreten Risiken der Erkrankungen und Nebenwirkungen der Medikamente des Antragstellers für die Fahreignung als relevant erweist. Die Frage hält sich ebenfalls an die Empfehlung im Merkblatt Arzneimittel und Fahreignung der Bundesanstalt für Straßenwesen (a.a.O.).
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Die Frage an den Arzt, ob aufgrund des früheren Cannabiskonsums eine MPU angezeigt ist, führt ebenfalls nicht zur Rechtswidrigkeit der Begutachtungsanordnung. Sie ist im Zusammenhang mit den vorstehenden Fragen zu sehen und damit auf die ärztliche Einschätzung, ob sich aufgrund der medizinischen Untersuchung Aufklärungsbedarf in psychologischer Hinsicht ergeben hat, gerichtet. Der Behörde geht es um möglichst umfassende Sachverhaltsermittlung. Dies ist mit Blick auf das dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung tragende Stufenverhältnis zwischen der ärztlichen und der – eingriffsintensiveren – medizinisch-psychologischen Begutachtung nicht zu beanstanden. Die Beantwortung der Frage ändert nichts daran, dass die Behörde das ärztliche Gutachten gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV im Sinne eines eigenen Urteils zu würdigen und eine darin enthaltene ärztliche Empfehlung, eine MPU zu fordern, auf ihre Nachvollziehbarkeit zu überprüfen hat (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 17 m.w.N.; VG München, B.v. 10.1.2022 – M 19 S 21.6221 – juris Rn. 32 m.w.N.).
59
(c) Der Antragsgegner hat sein Ermessen nach Aktenlage fehlerfrei ausgeübt. Die Anordnung ist geeignet, die bestehenden Fahreignungszweifel zu beseitigen. Sie ist auch erforderlich, da sie im Verhältnis zu anderen Mitteln – insbesondere der unmittelbaren Fahrerlaubnisentziehung – das mildeste Mittel ist. Die nervenärztlichen Stellungnahmen vom 25. Juli 2022 und 12. Mai 2023 konnten die Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers nicht ausräumen und eine ärztliche Begutachtung nicht ersetzen (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2019 – 11 CS 19.1451 – juris Rn. 19). Zu Recht ist die Behörde daher davon ausgegangen, dass die Anordnung angemessen ist, weil das Interesse der Verkehrssicherheit das allgemeine Persönlichkeitsinteresse des Antragstellers im konkreten Fall überwiegt. Besondere, ausnahmsweise das öffentliche Interesse an der Verkehrssicherheit überwiegende private Interessen des Antragstellers sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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(d) Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 8 FeV sind erfüllt. Der Antragsteller hat das rechtmäßig angeordnete ärztliche Gutachten nicht innerhalb der gesetzten dreimonatigen Frist beigebracht, obwohl er auf die Folgen des § 11 Abs. 8 FeV in der Anordnung hingewiesen worden ist. Die Antragsgegnerin durfte daher ohne weitere Prüfung von der Fahruntauglichkeit des Antragstellers ausgehen und diesem nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1, 2 FeV die Fahrerlaubnis entziehen.
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(2) Da somit die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, ist auch die Abgabeverpflichtung als begleitende Anordnung (Nr. 2 des Bescheids), die ebenfalls für sofort vollziehbar erklärt wurde, geboten, um die Ablieferungspflicht nach § 47 Abs. 1 FeV durchzusetzen.
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(3) Auch die Zwangsgeldandrohung in Nr. 4 des Bescheids erweist sich vor diesem Hintergrund voraussichtlich als rechtmäßig, sodass der diesbezüglich gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ebenso wenig Erfolg hat.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nrn. 1.5 und 46 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.