Titel:
Asylrecht, Türkei, Einstellung des Verfahrens, Untertauchen (verneint), Einfache Nachforschung bei Prozessbevollmächtigtem
Normenkette:
AsylG § 33
Schlagworte:
Asylrecht, Türkei, Einstellung des Verfahrens, Untertauchen (verneint), Einfache Nachforschung bei Prozessbevollmächtigtem
Fundstelle:
BeckRS 2024, 18292
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. Juli 2023 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen die Einstellung seines Asylverfahrens.
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Der türkische Kläger stellte am 17. Januar 2023 einen förmlichen Asylantrag. Mit Schriftsatz vom 31. Januar 2023 zeigte der Bevollmächtigte des Klägers die anwaltliche Vertretung unter Vollmachtsvorlage gegenüber der Beklagten an.
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Unter dem 12. Juli 2023 teilte die Ausländerbehörde der Beklagten mit, dass der Kläger seit 20. Juni 2023 unbekannt verzogen sei.
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Mit Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2023, am 21. Juli 2023 an den Bevollmächtigten als Einschreiben zur Post gegeben, wurde das Asylverfahren des Klägers nach § 33 Abs. 1 Satz 1 AsylG eingestellt, da aufgrund seines Untertauchens die Vermutung bestehe, dass der Kläger das Verfahren nicht betreibe. Zudem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Ferner wurde die Abschiebung in die Türkei angedroht sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Kläger hat mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 4. August 2023, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage gegen diesen Bescheid erhoben. Er beantragt,
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Der Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2023 wird aufgehoben.
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Zur Begründung wird vorgetragen, dass der Kläger nicht untergetaucht gewesen sei. Er habe sich lediglich nicht immer tagsüber während der Anwesenheitskontrolle durch die Sozialarbeiterin in seinem Zimmer aufgehalten. Denn sein Handy sei gestohlen worden. Er habe sich mithilfe des Applesuchservices auf die Suche nach dem Handy und deswegen nach M. … begeben. Im Übrigen sei der Bevollmächtigte wegen der Abmeldung nicht befragt worden. Derzeit halte sich der Kläger in der Erstaufnahmeeinrichtung in M. … auf.
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Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 8. August 2023,
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Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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Die Beteiligten sind mit gerichtlichen Schreiben vom 17. Mai 2024, zugestellt am 22. und 23. Mai 2024, unter Fristsetzung zur beabsichtigten Entscheidung des Gerichts im schriftlichen Verfahren gemäß § 77 Abs. 2 AsylG angehört worden. Sie haben hierauf nicht reagiert.
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Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 15. Juli 2024 auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts-, sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Über die Klage kann gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da es sich nicht um einen Fall des § 38 Abs. 1 bzw. des § 73b Abs. 7 AsylG handelt und der Kläger anwaltlich vertreten ist. Das Gericht hat die Beteiligten auch mit Schreiben vom 17. Mai 2024 zur beabsichtigten Entscheidung ohne mündliche Verhandlung angehört und darauf hingewiesen, dass auf Antrag mündlich verhandelt werden muss (§ 77 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 AsylG). Hierauf ist keine Reaktion erfolgt.
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2. Die zulässige Klage ist begründet.
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a) Die Klage ist zulässig, insbesondere ist nach überwiegender Auffassung in der vorliegenden Konstellation das Rechtsschutzbedürfnis gegeben (vgl.: BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8; VGH BW, U.v. 23.1.2018 – 9 S 350/17 – juris Rn. 18 ff., jeweils zu § 33 AsylG a.F.; zusammenfassend zum Meinungsstand: Heusch in Kluth/ders., BeckOK Ausländerrecht, 41. Ed. 1.4.2024, § 33 AsylG Rn. 40). Das mit dem Rechtsschutzbegehren verfolgte Ziel kann nicht durch ein gleich geeignetes, keine anderweitigen rechtlichen Nachteile mit sich bringendes behördliches Verfahren ebenso erreicht werden wie in diesem gerichtlichen Verfahren. Vorliegend würde ein Antrag nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG auf Wiederaufnahme des Asylverfahrens andere Rechtsfolgen als eine gerichtliche Aufhebung des belastenden Einstellungsbescheids zeitigen. Denn der Wortlaut des § 33 Abs. 5 Satz 5 Nr. 2 AsylG legt es zumindest nahe, dass die (erste) Wiederaufnahmeentscheidung ein späteres erneutes Wiederaufnahmebegehren selbst dann sperrt, wenn die erste Verfahrenseinstellung rechtswidrig gewesen ist. In einer solchen Fallgestaltung verstieße es gegen das in Art. 19 Abs. 4 GG normierte Gebot des effektiven Rechtsschutzes, das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu verneinen (vgl. BVerfG, a.a.O.).
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b) Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2023 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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aa) Im konkreten Fall lagen die Voraussetzungen für eine Einstellung des Asylverfahrens nach § 33 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vor, da die Vermutung des Nichtbetreibens des Verfahrens nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht greift. Die Beklagte durfte nicht annehmen, dass der Kläger im Sinn der Vorschrift untergetaucht war.
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Untergetaucht im Sinn von § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ist der Ausländer, wenn er – so die Begründung zum Gesetzesentwurf – für die staatlichen Behörden nicht auffindbar ist. Das Bundesamt muss jedoch auf ausreichender Tatsachengrundlage davon ausgehen dürfen, dass der Ausländer unter der dem Bundesamt gegenüber angegebenen Adresse nicht (mehr) erreichbar ist und darf diesen Umstand nicht „ins Blaue hinein“ annehmen (vgl. zusammenfassend zum Ganzen: Heusch in Kluth/ders., BeckOK Ausländerrecht, 41. Ed. 1.4.2024, § 33 AsylG Rn. 21).
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Ist der Ausländer nicht mehr unter der dem Bundesamt angegebenen Adresse aufhältig, ist das Bundesamt nicht gehalten, aktiv langwierige Nachforschungen nach dem aktuellen Aufenthalt, etwa durch Rückfragen bei der Ausländerbehörde und anderen öffentlichen Stellen (Einwohnermeldeamt, Sozialamt etc.), zu betreiben (vgl. Heusch, a.a.O.; VG Augsburg, U.v. 4.5.2018 – Au 4 K 17.35379 – juris Rn. 7; Brauer: „Untergetaucht“ und „flüchtig“: zur Fixierung des Nichtgreifbaren, ZAR 2019, 256 (258)). Denn dies wäre mit dem Ziel des Gesetzgebers, durch die Regelung in § 33 AsylG das Bundesamt zu entlasten und die Asylverfahren zu beschleunigen, nicht vereinbar. Auch die vom Gesetzgeber vorgenommene Verantwortlichkeits- und Aufgabenzuschreibung im Asylverfahren streitet gegen eine Nachforschungspflicht. Es ist der Ausländer, der jeden Wechsel seiner Anschrift unverzüglich anzuzeigen hat (§ 10 Abs. 1 AsylG). Eine Pflicht zur Aufenthaltsermittlung seitens der Behörde legt dies nicht nahe (vgl. hierzu: Brauer, a.a.O.).
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Hat das Bundesamt freilich anderweitig Kenntnis vom neuen Wohnort des Ausländers erlangt, kann nicht (mehr) von Unauffindbarkeit die Rede sein (vgl. Heusch, a.a.O.; Brauer, a.a.O.; VG Augsburg, U.v. 10.3.2017 – Au 4 K 17.30601 – juris; VG Köln, U.v. 1.7.2021 – 20 K 2397/20.A – juris Rn. 33). Das Gleiche gilt, wenn auf einfachste Nachforschung der aktuelle Aufenthaltsort hätte ermittelt werden können, dies aber unterlassen wird. Letzteres wird insbesondere bei einer ordnungsgemäß bestehenden Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten, der um Auskunft gebeten werden könnte, angenommen (vgl. hierzu: VG Köln, a.a.O.; VG München, B.v. 27.3.2024 – M 28 S 24.30222 – n.v. Rn. 20 f.; U.v. 5.1.2022 – M 27 K 21.32291 – n.v. Rn. 28; U.v. 5.12.2017 – M 23 K 16.33472 – juris Rn. 28; a.A.: VG Regensburg, U.v. 19.7.2017 – RO 3 K 17.31202 – juris Rn. 26).
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Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass der Kläger untergetaucht war. Kurz nach der Asylantragstellung hat sich der Prozessbevollmächtigte für den Kläger im Januar 2023 ordnungsgemäß bestellt. Durch dessen Mandatierung hat der Kläger zumindest grundsätzlich zum Ausdruck gebracht hat, dass er ein Interesse an einer Sachentscheidung hat. Angesichts dessen wäre die Beklagte nach Erhalt der Information, dass der Kläger unbekannt verzogen sein soll, im Juli 2023 zunächst gehalten gewesen, den Prozessbevollmächtigten um Auskunft über den Aufenthaltsort des Klägers zu ersuchen. Dieser stand offensichtlich in Kontakt mit dem Kläger, da er in der Lage war, dem Kläger den an ihn zugestellten streitgegenständlichen Bescheid zur Kenntnis zu geben und die diesbezüglichen Hintergründe zu erfragen. Der Prozessbevollmächtigte kannte auch den aktuellen Aufenthaltsort des Klägers im Zeitpunkt der Klageerhebung.
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bb) Aufgrund der Aufhebung von Nummer 1 des angefochtenen Bescheids ist den Nummern 2 bis 4 des Bescheids die Grundlage entzogen, so dass auch diese aufzuheben sind.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).