Titel:
Dublin-Verfahren (Zielstaat Kroatien, Herkunftsland Jordanien), Abschiebungsanordnung, EURODAC-Treffer der Kategorie 1, Irreguläre Einreise von Bosnien-Herzegowina nach Kroatien, Bilaterales Rückübernahmeabkommen zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylG § 77 Abs. 2 Satz 1
VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2
Dublin III-VO Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2
RL 2013/32/EU Art. 9 Abs. 1 Satz 1
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat Kroatien, Herkunftsland Jordanien), Abschiebungsanordnung, EURODAC-Treffer der Kategorie 1, Irreguläre Einreise von Bosnien-Herzegowina nach Kroatien, Bilaterales Rückübernahmeabkommen zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina
Fundstelle:
BeckRS 2024, 18269
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 8. September 2023 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht vorher der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die angeordnete Überstellung nach Kroatien im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
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Der Kläger, ein jordanischer Staatsangehöriger, reiste am 19. Juni 2023 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom 19. Juni 2023 schriftlich Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom 7. Juli 2023.
3
Aufgrund der Eurodac-Treffermeldungen vom 19. Juni2023, die einen Treffer der Kategorie 1 für Kroatien (… vom 14.6.2023) enthielt, richtete die Beklagte am 17. Juli 2023 ein Wiederaufnahmegesuch an die kroatischen Behörden, das am gleichen Tag dort einging. Mit Schreiben vom 31. Juli 2023 erklärten die kroatischen Behörden ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO.
4
Im Rahmen seiner Anhörung über die Zulässigkeit seines Asylantrags am 24. August 2023 hat der Kläger angegeben, dass er von der Polizei unangemessen behandelt worden sei. Er sei einen Tag in Kroatien gewesen und ihm seien dort Fingerabdrücke abgenommen worden.
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Mit Bescheid der Beklagten vom 8. September 2023, zugestellt durch Übergabe am 13. September 2023, wurde der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, die Abschiebung nach Kroatien angeordnet und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 19 Monate ab dem Tag der Abschiebung angeordnet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Durch Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 19. September 2023 erhob der Kläger Klage und beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 8. September 2023 aufzuheben.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass es systemische Mängel im kroatischen Asylsystem gebe und bei einer Rücküberstellung dem Kläger eine menschenrechtswidrige und erniedrigende Behandlung drohe. In der jüngsten Vergangenheit sei es zu zwangsweisen Rückschiebungen (sog. Push-Backs) gekommen. Gleichzeitig sei eine systematische Polizeigewalt gegen Schutzsuchende festgestellt worden.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
12
Auf Antrag des Klägers hat das Gericht mit Beschluss vom 2. Oktober 2023 (Az. M 10 S 23.51030) die aufschiebende Wirkung seiner Klage angeordnet. Auf die Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.
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Mit Beschluss vom 21. Mai 2024 wurde der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
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Mit Schreiben vom 24. Mai 2024 hörte das Gericht die Beteiligten zu einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG an. Hieraufhin teilten sowohl die Beklagte als auch der Kläger mit, dass eine mündliche Verhandlung nicht beantragt bzw. benötigt werde.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren Az. M 10 S 23.51030, sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage kann gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Das Gericht hat dem Klägerbevollmächtigten mit Schreiben vom 24. Mai 2024 mitgeteilt, dass gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren beabsichtigt sei. Die Beteiligten wurden gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 AsylG darauf hingewiesen, dass auf Antrag eines Beteiligten mündlich verhandelt werden muss (§ 77 Abs. 2 Satz 2 AsylG). Die Beteiligten haben Schriftsatz vom 24. Mai 2024 (Beklagte) sowie vom 27. Mai 2024 (Kläger) mitgeteilt, dass eine mündliche Verhandlung nicht beantragt bzw. auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde. Im Übrigen sind auch die weiteren Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegeben, da es sich vorliegend um keinen Fall des § 38 Abs. 1 bzw. des § 73b Abs. 7 AsylG handelt und der Kläger anwaltlich vertreten ist.
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1. Die zulässige Klage des Klägers hat in der Sache Erfolg.
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a) Der Bescheid der Beklagten vom 8. September 2023 erweist sich in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. A AsylG und die hierauf gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG erlassene Abschiebungsanordnung sind rechtswidrig, da im kroatischen Asylsystem in mehrfacher Hinsicht systemische Mängel vorliegen, die sich auch in überstellungsrelevanter Weise auf den Kläger konkret auswirken.
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Die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützte Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sowie die gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG angeordnete Abschiebung des Klägers nach Kroatien sind rechtswidrig, weil eine Überstellung an Kroatien als den an sich zuständigen Mitgliedstaat (nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO) an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO wegen systemischer Mängel im dortigen Asylsystem, aus denen sich die ernsthafte Gefahr einer Verletzung des Rechts des Klägers aus Art. 4 GRCh ergibt, scheitert. Demnach ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen.
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Der Begriff des Vertrauens meint im konkreten Rechtskontext in einer Situation des Nichtwissens das Bestehen von Normkonformitätserwartungen des überstellenden Staates an den Zielstaat, was im Grundsatz mit Kontrollverzichten und Unbeachtlichkeitsregeln einhergeht (vgl. Lübbe, NVwZ 2017, 674). In diesem Sinn reicht Vertrauen so weit, bis es von entgegenstehenden Realitäten erschüttert wird (vgl. Lübbe, NVwZ 2017, 674). Den nationalen Gerichten obliegt insoweit die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Kläger führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, – C-411/10 und C-493/10 – juris). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. Regelverstöße, die Betroffene schicksalhaft treffen, sind nicht vorhersehbar und lassen sich – anders als bei regelhaft vorkommenden Rechtsverstößen – nicht verlässlich prognostizieren (vgl. Lübbe, ʹ‘Systemic Flaws’ and Dublin Transfers: Incompatible Tests before the CJEU and the ECtHR?ʹ in International Journal of Refugee Law [27] 2015, 135). An die Feststellung systemischer Mängel sind daher hohe Anforderungen zu stellen. Systemische Schwachstellen bzw. Mängel, die eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, liegen nur dann vor, wenn Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhafte Defizite aufweisen und als Folge davon im konkreten Fall dem Asylbewerber im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss daraus die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B66.21 – juris; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417). Auf der anderen Seite machen selbst schwerwiegende Schwachstellen oder Mängel im Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen, die nicht nur vereinzelt vorkommen (und damit „systemisch“ sind), eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht unmöglich, wenn sich daraus im konkret zu entscheidenden Einzelfall keine Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung entgegen Art. 4 GRCh ableiten lässt (vgl. NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris; vgl. für den Fall des Vorliegens einer konkreten Garantieerklärung durch den Dublin-Zielstaat bei ansonsten vorliegenden systemischem Mangel: BayVGH, B.v. 27.2.2023 – 24 ZB 22.50056 – juris). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die lediglich bestimmte Personengruppen betreffen (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – NVwZ 2017, 691 m. Anm. Hruschka; BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris). Andererseits kann auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im Überstellungsstaat ist (vgl. EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – NVwZ 2017, 691 m. Anm. Hruschka). Der rechtliche Bezug zu Art. 4 GRCh setzt dabei in jedem Fall das Erreichen einer besonders hohen Erheblichkeitsschwelle voraus. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris und C-163/17, „Jawo“ – juris).
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass es ungeachtet des europarechtlichen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein kann, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen müssen (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris). Insoweit kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Dublin-Rechtskontext zu berücksichtigen ist, der Grundsatz des „mutual trust“ nicht im Sinn eines „blinden Vertrauens“ zur Rechtfertigung von Überstellungen zwischen EU-Mitgliedstaaten verstanden und auch nicht „schematisch“ bzw. „mechanisch“ angewandt werden (stRspr, vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – NVwZ 2020, 937; U.v. 23.5.2016 – Avotiņš/Litauen, Nr. 17502/07 – NJOZ 2018, 1515; U.v. 3.7.2014 – Mohammadi/Österreich, Nr. 71932/12 – BeckRS 2014, 127908; U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413). Dass gegenseitiges Vertrauen nicht mit „blindem Vertrauen“ verwechselt werden darf, hat zuletzt auch die Generalanwältin im Verfahren C-753/22 vor dem Gerichtshof der Europäischen Union dargelegt (vgl. Schlussanträge vom 25.1.2024 – C-753/22 – BeckRS 2024, 688). In der zitierten Entscheidung Ilias und Ahmed/Ungarn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter Verweis auf das M.S.S.-Urteil nachdrücklich bekräftigt, dass der abschiebende Staat nicht einfach unterstellen könne, der Asylbewerber werde im Drittstaat unter Einhaltung von Konventionsgarantien behandelt, er müsse vielmehr zunächst selbst prüfen, wie die dortigen Behörden ihr Asylrecht in der Praxis anwenden (vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – NVwZ 2020, 937). Bei einer zutreffenden Handhabung der mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehenden Vermutungsregel ergeben sich insofern auch keine praktischen Unterschiede zwischen den Maßstäben des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. Lübbe, ʹ‘Systemic Flaws’ and Dublin Transfers: Incompatible Tests before the CJEU and the ECtHR?ʹ in International Journal of Refugee Law [27] 2015, 135).
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Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Kammer mit (zwischenzeitlich rechtskräftig gewordenen) Urteilen vom 22 Februar 2024, auf deren Entscheidungsgründe vollumfänglich Bezug genommen wird, entschieden, dass im Mitgliedstaat Kroatien in mehrfacher Hinsicht systemische Mängel im dortigen Asylsystem vorliegen, aus denen sich die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Verletzung des Rechts aus Art. 4 GRCh ergeben kann (vgl. VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479, M 10 K 23.50597 – beide juris). Neuere bzw. anderweitige Erkenntnismittel, welche die tragenden Argumentationssätze in den Entscheidungsgründen der genannten Kammerurteile in Zweifel ziehen würden, liegen, soweit ersichtlich, bislang nicht vor. Soweit in einem neu bekannten Medienbericht des österreichischen „Der Standard“ (welchen die Kammer bislang nicht berücksichtigten konnte, vgl. den erstmaligen Hinweis in ACCORD, Anfragebeantwortung Kroatien [9.4.2024], S. 12 m.w.N. – abrufbar in Asylfact) erwähnt wird, dass Bosnien-Herzegowina etwa ein Drittel der in der ersten Hälfte des Jahres 2023 gestellten 6.186 Rückübernahmeersuchen von Kroatien abgelehnt habe und teilweise Umsetzungsschwierigkeiten erwähnt werden, dürfte sich das ausweislich der relevanten Bestimmungen des Abkommens im Wesentlichen auf die höheren verfahrens- und tatbestandsmäßigen Hürden des sogenannten „summarischen“ bzw. beschleunigten Verfahrens (vgl. Art. 2 Abs. 3 des Abkommens) beziehen (vgl. auch Sarajewo Times vom 10.4.2023, „One Thousand Migrants have been returned from Croatia to BiH“, abrufbar unter https://sarajevotimes.com/one-thousand-migrants-have-been-returned-from-croatia-to-bih/). Insoweit geht das Gericht davon aus, dass die in den Kammerurteilen vom 22. Februar 2024 dargelegten systemischen Schwachstellen auch im vorliegenden Fall mit der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr einer Verletzung des Rechts des Klägers aus Art. 4 GRCh nach einer Überstellung nach Kroatien einhergehen.
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Nach den Angaben des Klägers zu seinem Reiseweg bzw. den in Verwaltungsakte dazu gehörigen nachprüfbaren Informationen (wie insbesondere dem in der EURODAC-Ergebnismitteilung genannten Ort des Aufgriffs in Kroatien) ist davon auszugehen, dass er auf dem Landweg unerlaubt von Bosnien-Herzegowina (als Transitland) nach Kroatien eingereist ist. Ausgehend von den verfügbaren Informationen zur Örtlichkeit des Aufgriffs des Klägers können die kroatischen Behörden im Sinn des bilateralen Rückübernahmeabkommens mit Bosnien-Herzegowina „vernünftigerweise annehmen“ (vgl. Art. 2 Abs. 1 des Abkommens), dass er unmittelbar nach der Durchquerung von Bosnien-Herzegowina unerlaubt nach Kroatien eingereist ist. Unter Berücksichtigung aller relevanten Vorschriften des bilateralen Rückübernahmeabkommens kann daher Kroatien seinerseits gegenüber Bosnien-Herzegowina im regulären Verfahren – gegebenenfalls auch erst nach einer Entscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c RL 2013/32/EU – erzwingen, den Kläger wiederaufzunehmen. Anhaltspunkte dafür, dass etwa die Behörden von Bosnien-Herzegowina Rückübernahmeersuchen von Kroatien mehrheitlich ablehnen würden, sind (bislang) nicht bekannt. Diese Regelungsmechanismen, die vorliegend tatbestandlich einschlägig sind, begründen unter ergänzender Berücksichtigung der Erkenntnisse zur gegenwärtigen Vollzugspraxis dieses Abkommens die hinreichende bzw. beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Kettenabschiebung nach Bosnien-Herzegowina (vgl. ausführlich VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris).
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Die von der Beklagten zuletzt verschiedentlich vorgetragene neuere erstinstanzliche Rechtsprechung (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 13.5.2024 – 12 L 984/24.A; VG Würzburg, B.v. 7.5.2024 – W 7 S 24.50124; VG München, B.v. 30.4.2024 – M 3 S 24.50449; VG Wiesbaden, B.v. 26.4.2024 – 4 L 371/23.WI.A; VG Sigmaringen, B.v. 23.4.2024 – A 14 K 2421/23; VG Meiningen, B.v. 17.4.2024 – 5 E 169/24 Me – alle juris/milo; a.A. dazu zuletzt VG Köln, B.v. 24.4.2024 – 22 L 691/24.A – juris: Annahme offener Erfolgsaussichten) seit dem Ergehen der Kammerurteile vom 22. Februar 2024 vermag am obigen Ergebnis nichts zu ändern. Ein Großteil der von der Beklagten angeführten Entscheidungen erwähnt die Urteile der Kammer vom 22. Februar 2024 lediglich im Rahmen umfänglicher Referenzen auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, ohne sich substantiell deren wesentlichen Argumentationssträngen auseinanderzusetzen. Im Übrigen ist die Behauptung, die Kammer habe unter Zugrundelegung identischer Erkenntnismittel (lediglich) eine andere Rechtsauffassung als der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris) vertreten (so VG Sigmaringen, B.v. 23.4.2024 – A 14 K 2421/23 – juris), unzutreffend. Aus einer Gegenüberstellung der Entscheidungsgründe der Kammerurteile vom 22. Februar 2024 mit denjenigen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 11. Mai 2023 samt dem jeweils verwerteten Quellenmaterial bzw. den zugrunde gelegten Tatsachen (wozu gerade auch das einschlägige ausländische Recht und dessen Einordnung im Verhältnis zum verwerteten Quellenmaterial zählt, vgl. BVerwG, B.v. 5.3.2018 – 1 B 155.17 – juris; U.v. 19.7.2012 – 10 C 2.12 – juris) ist allein schon anhand der Referenzen sowie der Heranziehung des einschlägigen ausländischen Rechts unschwer zu erkennen, dass die Kammer nicht lediglich unter Zugrundlegung identischer Tatsachen eine andere Rechtsauffassung als der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vertreten hat. Insoweit wäre auch die vom Verwaltungsgericht Würzburg angesprochene (und verneinte) Frage, ob im Weg der Dublin III-VO rücküberstellte Personen „tatsächlich einem von Kroatien geschlossenen bilateralen Rückübernahmeabkommen unterfallen“ (VG Würzburg, B.v. 7.5.2024 – W 7 S 24.50124 – juris), richtigerweise durch die Heranziehung und Auslegung des einschlägigen Vertragstexts einschließlich jeder späteren Übung bei der Anwendung dieses Abkommens (vgl. Art. 31 Abs. 3 Buchst. b WVK) zu beantworten gewesen (vgl. VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris). Soweit sich die Beklagte zuletzt anderweitig noch auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Trier vom 21. Mai 2024 (1703/24.TR, b.n.v.) bezogen hat, die „abstrakte Möglichkeit der Anwendung“ der zwischenstaatlichen Regelungen bilateralen Rückübernahmeabkommen Kroatiens mit Serbien und Bosnien-Herzegowina reiche generell nicht für die Annahme systemischer Mängel aus, lässt dies auf allgemeiner Ebene lediglich prinzipielle Auffassungsunterschiede zu der von der Kammer herangezogenen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris: „die Gesetzeslage“, „gesetzliche[n] Zulässigkeit einer Abschiebung“; HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris; OVG Saarl, U.v. 9.3.2017 – 2 A 364/16 – juris; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris) erkennen, ohne dass diese insoweit von der zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung abweichende Auffassung näher begründet wird.
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b) Die Nebenentscheidungen des angegriffenen Bescheids in Nummer 2 und Nummer 4 können nach allem ebenso keinen Bestand haben. Die Entscheidung über das Nichtvorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote ist vorliegend jedenfalls verfrüht erfolgt (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris). Dem angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot von 19 Monaten ab dem Tag der Abschiebung ist infolge der Aufhebung der Abschiebungsanordnung die rechtliche Grundlage entzogen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG). Sie sind ebenfalls aufzuheben.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.