Inhalt

OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss v. 15.07.2024 – 8 U 643/24
Titel:

Versicherungsfall "Herzinfarkt" in der Restschuldversicherung

Normenketten:
AVB-RSV § 1, § 6, § 7
BGB § 305c Abs. 2, § 307 Abs. 1 S. 2
Leitsätze:
Die Parteien streiten um die Eintrittspflicht einer Restschuldversicherung für einen Gewerbekredit. In § 7 AVB-RSV werden die fünf versicherten schweren Erkrankungen nochmals aufgeführt, zum Teil näher beschrieben und zu nicht versicherten Krankheitsbildern abgegrenzt. Danach wird zwar deutlich, dass sog. Mikroinfarkte keinen Versicherungsschutz genießen. Es ergibt sich aber nicht hinreichend klar, dass es nicht entscheidend auf die umgangssprachliche Bezeichnung der ärztlichen Diagnose als „Herzinfarkt“ ankommen soll, sondern dass – nach dem engen Verständnis der Versicherung – letztlich nur ein Myokardinfarkt unter die Klausel fallen soll, während andere als „Herzinfarkt“ umschriebene akute Koronarsyndrome unberücksichtigt bleiben. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Gewährt eine Restschuldversicherung Deckung bei ärztlicher Diagnose "Herzinfarkt" und erläutern die Bedingungen diesen Begriff als Absterben eines Teils des Herzmuskels durch unzureichende Blutzufuhr zum Herzmuskel (Myocard) unter Ausschluss von stummen Infarkten (Mikroinfarkte) sowie Angina pectoris, liegt ein Versicherungsfall vor, wenn ärztlicherseits eine Krankheit diagnostiziert wird, die fachmedizinisch als Koronarsyndrom in Form einer instabilen Angina pectoris bezeichnet und umgangssprachlich als "Herzinfarkt" verstanden wird. (Rn. 28 – 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Restschuldversicherung, Versicherungsfall, Herzinfarkt, Angina pectoris
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Endurteil vom 06.03.2024 – 8 O 6422/22
Weiterführende Hinweise:
Die Berufung ist nach dem Hinweisbeschluss zurückgenommen worden.
Fundstellen:
VersR 2025, 272
MDR 2024, 1386
LSK 2024, 17901
BeckRS 2024, 17901
FDVersR 2024, 017901

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 06.03.2024, Az. 8 O 6422/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Parteien streiten über Ansprüche aus zwei Restschuldversicherungen, die die Klägerin bei der Beklagten unterhält.
2
Die Klägerin nahm im Zuge ihrer gewerblichen Tätigkeit als Betreiberin einer Gaststätte im November 2019 und Mai 2020 zwei Darlehen über insgesamt 91.000,00 € bei der Sparkasse N. auf (Anlagen K 1 und K 4). Hinsichtlich beider Darlehen schloss die Klägerin mit Anträgen vom 03.09.2019 und 23.03.2020 jeweils eine Restschuldversicherung bei der Beklagten ab (Anlagen K 2 und K 5). Beiden Verträgen liegen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten für die Restschuldversicherung „Gewerbekreditschutz“ (im Folgenden: AVB-RSV; Anlage K 3) zugrunde. Diese Versicherungen gewähren Schutz gegen die Risiken Tod, bestimmte schwere Krankheiten und Arbeitsunfähigkeit (§ 1 AVB-RSV). Die AVB-RSV enthalten darüber hinaus u.a. folgende Klauseln (Hervorhebungen im Original):
"§ 6 Wann liegt eine schwere Krankheit im Sinne dieser Bedingungen vor?
Eine schwere Krankheit liegt vor, wenn bei einer Gefahrperson während der Dauer Ihrer Versicherung zum ersten Mal eine der folgenden Krankheiten von einem Arzt diagnostiziert wurde:
- Herzinfarkt,
- Schlaganfall,
- Krebs (unabhängig davon, weiches Organ von Krebs befallen ist),
- Blindheit oder
- Taubheit.
Wir leisten nicht, wenn die schwere Krankheit bei der jeweiligen Gefahrperson bereits einmal vor Beginn der Versicherung diagnostiziert; wurde. Sie haben unter folgender Voraussetzung jedoch einen Anspruch auf Leistung: Die jeweilige Gefahrperson erkrankt nach dem Beginn der Versicherung zum ersten Mal an einer anderen als der zuvor diagnostizierten schweren Krankheit.
§ 7 Was ist eine schwere Krankheit im Sinne dieser Bedingungen? Schwere Krankheiten sind folgende Erkrankungen:
1. Herzinfarkt: Versichert ist ein Herzinfarkt als das erste akute Auftreten eines Herzinfarktes. Das bedeutet, ein Teil des Herzmuskels stirbt durch unzureichende Blutzufuhr zum Herzmuskel (Myokard) ab. Nicht versichert sind: Stumme Infarkte (Mikroinfarkte) sowie Angina Pectoris.
…"
3
Nachdem die Klägerin ihr Gewerbe zum 01.02.2021 abgemeldet hatte (Anlage B 9) und die Kredite nicht mehr tilgte, erklärte die Sparkasse N. am 04.03.2021 die Kündigung beider Darlehensverträge (Anlage K 9). Der insgesamt noch offene Darlehensbetrag beläuft sich auf 83.285,14 €.
4
Die Klägerin behauptet, sie habe im Dezember 2020 einen Herzinfarkt erlitten. Die Erkrankung sei ihr bei Abschluss der Versicherungsverträge nicht bekannt gewesen. Vielmehr sei die Diagnose erstmals im Februar 2021 im Anschluss an den Herzinfarkt gestellt worden (Anlagen K 6 und K 22). Die Klägerin sei seit diesem Zeitpunkt arbeitsunfähig.
5
In erster Instanz hat die Klägerin zuletzt die Zahlung von 54.923,43 € sowie die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.438,67 € verlangt. Sie forderte außerdem die Feststellung, dass die Beklagte zum Ersatz weiterer Schäden verpflichtet sei.
6
Das Landgericht hat dieser Klage nach Beweisaufnahmen überwiegend stattgegeben. Es hat die Beklagte zur Zahlung von 50.836,27 € sowie zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.293,24 € verurteilt. Das Landgericht hat dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass bei der Klägerin das versicherte Risiko einer schweren Krankheit in Form eines Herzinfarktes eingetreten sei. Die Diagnose sei erstmals am 10.02.2021 in der Praxis Dr. S. gestellt worden. Daher greife keiner der vereinbarten Ausschlusstatbestände ein. Im Übrigen sei die entsprechende Klausel unwirksam.
7
Hiergegen wendet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiterverfolgt. Die Klägerin nimmt ihr Teil-Unterliegen hin.
II.
8
Der Senat ist gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich an die in erster Instanz festgestellten Tatsachen gebunden. Durchgreifende und entscheidungserhebliche Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser Feststellungen ergeben sich nicht. Die maßgeblichen Tatsachen rechtfertigen keine von der des Landgerichts abweichende Entscheidung und dessen Entscheidung beruht auch nicht auf einer Rechtsverletzung (§ 513 Abs. 1 ZPO).
9
Zu Recht und mit überzeugender Begründung hat das Landgericht einen dem Grunde nach bestehenden Anspruch der Klägerin aus § 2 Nr. 4 AVB-RSV bejaht und der Klage in dem tenorierten Umfang stattgegeben. Mit den hiergegen erhobenen Einwendungen kann die Berufung nicht durchdringen.
10
1. Zutreffend hat das Landgericht festgestellt, dass in beiden Verträgen ein Versicherungsfall eingetreten ist. Dieser ist bedingungsgemäß dadurch gekennzeichnet, dass bei der versicherten Person während der Dauer der Versicherung zum ersten Mal eine schwere Krankheit von einem Arzt festgestellt wird (§ 2 Nr. 4 AVB-RSV). Als eine schwere Krankheit diesem Sinne gilt die ärztliche Diagnose von Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Blindheit oder Taubheit (§ 6 Satz 1 AVB-RSV). Hier hat die Klägerin nach Abschluss der Verträge erstmals einen Herzinfarkt (§ 7 Nr. 1 AVBRSV) erlitten.
11
a) Nach allgemeinen Grundsätzen oblag der Klägerin als Versicherungsnehmerin der Nachweis des Eintritts eines derartigen Versicherungsfalls. Diesen Beweis hat die Vorinstanz fehlerfrei für geführt angesehen (LGU 5-7).
12
aa) Die Berufungsinstanz stellt einerseits keine vollständige zweite Tatsacheninstanz dar. Daher ist die Beweiswürdigung des Erstgerichts im Rahmen der §§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3, 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO im Wesentlichen darauf zu untersuchen, ob erhebliches Parteivorbringen übergangen worden ist, notwendige Beweise nicht erhoben worden sind, die Beweislast oder das Beweismaß verkannt worden sind oder im Rahmen der Würdigung gegen Denk- oder Naturgesetze verstoßen worden ist (vgl. etwa BGH, Urteil vom 21.06.2016 – VI ZR 403/14, NJW-RR 2017, 219 Rn. 10 m.w.N.; Musielak/Voit/Ball, ZPO, 21. Aufl., § 529 Rn. 5).
13
Andererseits dient auch die Berufungsinstanz der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls. Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 04.09.2019 – VII ZR 69/17, NJW-RR 2019, 1343 Rn. 11 m.w.N.).
14
Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der vom erstinstanzlichen Gericht aufgrund erhobener Beweise getroffenen Feststellungen sind allerdings nur begründet, wenn aus der Sicht des Berufungsgerichts eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine (ergänzende oder wiederholte) Beweisaufnahme in zweiter Instanz zu abweichenden Feststellungen führen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 21.03.2018 – VII ZR 170/17, NJW-RR 2018, 651 Rn. 15 m.w.N.). Lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit begründen eine solche Wahrscheinlichkeit nicht.
15
Um im Rahmen der Berufungsbegründung Zweifel an der Beweiswürdigung des Erstgerichts darzulegen (§§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3, 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), genügt es regelmäßig nicht, der plausiblen Auffassung eines Sachverständigen lediglich die abweichende Meinung des Berufungsführers entgegenzuhalten (vgl. OLG Dresden, BeckRS 2020, 28356 Rn. 15.).
16
Solange die Beweiswürdigung innerhalb der zuvor genannten Grenzen sachlich überzeugt, wird die Berufung keinen Erfolg haben (vgl. OLG Koblenz, BeckRS 2018, 28845 Rn. 9; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, 3. Aufl., Rn. 857). Dies ist hier der Fall.
17
b) aa) Auf der Grundlage des Beweisbeschlusses vom 27.07.2023 hat die Sachverständige Dr. H., Fachärztin für Innere Medizin und Nephrologie, Transplantationsmedizin, Diabetologie und Notfallmedizin am … W., unter dem 19.10.2023 ein schriftliches Gutachten erstattet. An der Fachkunde und forensischen Erfahrung der Sachverständigen zu zweifeln, besteht für den Senat kein Anlass. Die Sachverständige hat alle ihr vorliegenden Behandlungsunterlagen und Befunde ausgewertet.
18
Am 02.02.2021 habe sich die Klägerin zur Behandlung in der kardiologischen Praxis Dr. S. befunden. Ein Belastungs-EKG sei wegen starker Atemnot der Klägerin abgebrochen worden. Es seien ST-Streckensenkungen in den Ableitungen V3 bis V6 aufgetreten. In der Echokardiografie seien dazu Wandbewegungsstörungen mit einer lateralen Hypokinesie als Zeichen einer Minderperfusion des Herzmuskels festgestellt worden. In derselben Praxis sei am 10.02.2021 eine Herzkatheteruntersuchung bei der Klägerin durchgeführt worden. Dabei sei eine koronare 1-Gefäßerkrankung diagnostiziert worden. Es habe sich ein vollständiger Verschluss der linken Koronararterie gezeigt. Koronarangiografisch sei eine zweitgradige Ischämie beschrieben worden.
19
Sodann hat die Sachverständige Dr. H. den (unzweifelhaft versicherten) Myokardinfarkt und den (nicht versicherten) Mikroinfarkt voneinander abgegrenzt. Maßgeblich sei die Ausdehnung der Schädigung im Herzmuskel. Ein transmuraler Myokardinfarkt sei ein schwerwiegendes Ischämieereignis, bei dem das gesamte Herzgewebe von der innersten bis zur äußersten Schicht des Herzmuskels betroffen sei. Fachlich spreche man von einem ST-Hebungsinfarkt (STEMI), der in der Regel eine sofortige Behandlung des Patienten erfordere, um das betroffene Gewebe zu retten. Klassische klinische Symptome seien plötzlich einsetzende, schwerste thorakale Schmerzen mit Atemnot, Kaltschweißigkeit und Todesangst.
20
Bei der Klägerin sei erstmals am 10.02.2021 eine koronare 1-Gefäßerkrankung diagnostiziert worden. Dabei handelte es sich um das Vorhandensein arteriosklerotisch veränderter Arterien an einem der drei Herzkranzgefäße. Die zunehmende Verengung bzw. der Verschluss bildeten häufig einen schleichenden Prozess durch bekannte Risikofaktoren, welche oft noch lange durch z.B. das Ausbilden von Kollateralgefäßen kompensiert werden könnten. Erst im Falle eines schlagartigen Verschlusses, bspw. durch Lösen einer arteriosklerotischen Plaque entstehe daraus ein Myokardinfarkt. Die koronare 1-Gefäßerkrankung könne sowohl symptomatisch als auch asymptomatisch verlaufen. Typische Symptome seien Atemnot oder Brustschmerzen bei Belastung (Angina pectoris), die durch die mangelnde Sauerstoffversorgung des Herzmuskels hervorgerufen würden. Im Falle der Kombination dieser Beschwerden mit einem nachgewiesenen Schaden am Herzmuskel spreche man von einem Myokardinfarkt. Bei der Klägerin liege mangels Bestimmung der Herzenzyme keine klare Diagnose eines solchen Myokardinfarkts mit oder ohne ST-Streckenveränderungen vor.
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Mikroinfarkte seien subtiler und könnten oft unbemerkt bleiben, so die Sachverständige Dr. H. Erst wenn sie sich häuften und das Herzmuskelgewebe schädigten, könne es im Laufe der Zeit zu einer Beeinträchtigung der Herzfunktion führen. Das Vorhandensein solcher Mikroinfarkte zeige sich klinisch in Form von wiederkehrenden Angina-pectoris-Beschwerden bei Belastung oder könne vollkommen ohne Symptome ablaufen. Die dokumentierte Anamnese der Klägerin ergebe keine Hinweise auf eine wiederkehrende Symptomatik oder eine zunehmende Belastungsdyspnoe. „Stumme Infarkte“ seien nicht Anlass für die Diagnostik und Erhebung des entsprechenden Befundes bei der Klägerin gewesen.
22
Bei der Agina pectoris sind nach den Ausführungen der Sachverständigen zwei Haupttypen zu unterscheiden. Dabei handelte es sich hinsichtlich der klinischen und prognostischen Relevanz um zwei völlig unterschiedliche Krankheitsentitäten. Die stabile Angina pectoris trete typischerweise auf, wenn das Herz aufgrund von körperlicher Anstrengung oder emotionalem Stress mehr Sauerstoff benötige, aber die verengten Koronararterien nicht genug Blut liefern könnten. Die Schmerzen seien in der Regel vorhersehbar und treten bei körperlicher Anstrengung oder emotionalem Stress auf. Sie würden zumeist nach Ruhe oder der Einnahme von Nitroglyzerin wieder verschwinden. Die bevorzugte Behandlung bestehe aus Medikamenten, Änderungen des Lebensstils und elektiv aus Eingriffen (z.B. Angioplastie oder Bypass-Operation).
23
Die instabile Angina pectoris sei hingegen ein dringender Zustand und könne ein Vorläufer eines Herzinfarkts sein. Sie trete auf, wenn sich Plaque in einer Koronararterie löse oder rupturiere, was zu einem partiellen oder kompletten Verschluss des Gefäßes führe. Die Schmerzen seien unvorhersehbar und würden häufig in Ruhe auftreten; sie könnten intensiver sein und länger anhalten als bei stabiler Angina pectoris. Es handele sich hierbei um einen medizinischen Notfall, der umgehendes Handeln erfordere. Die Behandlung umfasse in der Regel Medikamente zur Blutverdünnung und zur Schmerzlinderung sowie zeitnahe Eingriffe wie Angioplastie oder eine Bypass-Operation.
24
Schließlich hat die Sachverständige Dr. H. ausgeführt, dass der in den Versicherungsbedingungen verwendete Begriff „Herzinfarkt“ in der leitlinienbasierten Medizin nicht bekannt sei, sondern als akutes Koronarsyndrom (ACS) bezeichnet werde. Ein solches könne nach den medizinischen Leitlinien für die Diagnose und Behandlung akuter Koronarsyndrome in drei Hauptkategorien eingeteilt werden: den ST-Hebungs-Myokardinfarkt (STEMI), den Nicht-ST-Hebungs-Myokardinfarkt (NSTEMI) und die instabile Angina pectoris.
25
Alle drei ischämischen kardialen Ereignisse seien potenziell lebensbedrohliche und dringlich zu behandelnde Erscheinungsformen derselben Erkrankung, welche unter Laien häufig als „Herzinfarkt“ bezeichnet werde. Die Klägerin habe am 02.02.2021 zweifelsfrei ein akutes Koronarsyndrom erlitten. Der Untersucher Dr. S. habe eindeutig EKG-Veränderungen beschrieben, nämlich relevante ST-Streckensenkungen in den Brustwandableitungen V3 bis V6. Dazu beschreibe der Kardiologe eine in Ruhe leicht reduzierte Pumpleistung von 50%, Hypokinesie, also Wandbewegungsstörungen lateral und nebenbefundlich geringe Herzklappenschlussdefekte. Zudem seien die Beschwerden erstmals dokumentiert und akut unter Belastung aufgetreten. Jedes Erstauftreten von typischen Angina-pectoris-Symptomen definiere per se eine instabile Angina pectoris und somit ein akutes Koronarsyndrom.
26
Den in den Versicherungsbedingungen genannten Begriff „Angina pectoris“ würde die Sachverständige Dr. H. im Kontext mit stummen Infarkten als stabile Angina pectoris, d.h. als wiederkehrende Brustschmerzen bei Belastung verstehen. Derartiges liege hier nicht vor.
27
bb) Die Parteien haben in erster Instanz zu diesem Gutachten Stellung genommen. Konkrete Einwendungen oder Ergänzungsfragen wurden nicht formuliert.
28
cc) Nach eigener Würdigung der erhobenen Beweise gelangt der Senat zu der Überzeugung, dass bei der Klägerin erstmals am 10.02.2021 eine Krankheit ärztlich festgestellt worden ist, die fachmedizinisch als akutes Koronarsyndrom in Form einer instabile Angina pectoris bezeichnet und umgangssprachlich als „Herzinfarkt“ verstanden wird. Die Diagnose einer koronaren Herzerkrankung steht im Einklang mit dem als Anlage K 7 vorgelegten Attest und der als Anlage K 23 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die umgangssprachliche Bezeichnung der bei der Klägerin festgestellten koronaren 1-Gefäßerkrankung als „Herzinfarkt“ wird durch das Schreiben des behandelnden Kardiologen Dr. S. bestätigt (Anlage K 22).
29
Zweifelsfrei steht ferner fest, dass es sich nicht um einen in § 7 Nr. 1 AVB-RSV als „Stumme Infarkte“ bezeichneten Mikroinfarkt gehandelt hat. Derartiges ist nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. H. ebenso wenig dokumentiert wie eine auf das Vorhandensein von Mikroinfarkten hindeutende stabile Angina pectoris.
30
c) Soweit in § 7 Nr. 1 AVB-RSV beschrieben wird, dass ein Herzinfarkt bedeute, dass ein Teil des Herzmuskels durch unzureichende Blutzufuhr zum Herzmuskel (Myokard) abstirbt, steht dies einem eingetretenem Versicherungsfall nicht entgegen. Diese Klausel ist mehrdeutig. Sie ist im vertraglichen Regelungsgefüge nicht klar und nicht eindeutig (§ 305c Abs. 2 BGB). Die Unklarheitenregel ist grundsätzlich auch auf Klauseln anwendbar, die als Leistungsbeschreibungen der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 3 BGB entzogen sind (vgl. Langheid/Rixecker, VVG, 7. Aufl., § 1 Rn. 60). Unklar gemäß § 305c Abs. 2 BGB sind Klauseln, bei denen nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel verbleibt und mindestens zwei unterschiedliche Auslegungen vertretbar sind (vgl. BGH, Urteil vom 14.06.2017 – IV ZR 161/16, VersR 2017, 1012 Rn. 12 m.w.N.). Eine solche Mehrdeutigkeit, die nicht beseitigt werden kann, weist § 7 Nr. 1 AVB-RSV nach der gebotenen Auslegung auf.
31
aa) Bei der genannten Klausel handelt es sich unzweifelhaft um Allgemeine Versicherungsbedingungen i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB, § 7 Abs. 1 Satz 1 VVG.
32
Nach dem in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zum Ausdruck kommenden Transparenzgebot ist der Verwender Allgemeiner Versicherungsbedingungen gehalten, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Dabei kommt es nicht nur darauf an, dass eine Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Der Verwender muss bei der Abfassung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen so genau beschreiben, dass für ihn kein ungerechtfertigter Beurteilungsspielraum entsteht (vgl. BGH, Urteil vom 09.06.2011 − III ZR 157/10, NJW-RR 2011, 1618 Rn. 27 m.w.N.). Der Vertragspartner soll andererseits ohne fremde Hilfe möglichst klar und einfach seine Rechte feststellen können, damit er nicht von deren Durchsetzung abgehalten wird. Wird der Versicherungsschutz durch eine AVB-Klausel eingeschränkt, so muss dem Versicherungsnehmer oder Versicherten deutlich vor Augen geführt werden, in welchem Umfang Versicherungsschutz trotz der Klausel noch besteht (vgl. BGH, Urteil vom 10.12.2014 – IV ZR 289/13, NJW-RR 2015, 801 Rn. 23 m.w.N.).
33
Anderseits ist dem Versicherungsnehmer durchaus eine gewisse Auslegungsarbeit zuzumuten. Es kommt auch nicht entscheidend darauf an, ob die Versicherungsbedingungen noch klarer und verständlicher hätten formuliert werden können (vgl. BGH, Urteil vom 13.09.2017 – IV ZR 302/16, NJW 2017, 3711 Rn. 15 m.w.N.). Denn es bedarf grundsätzlich keines solchen Grades an Konkretisierung, dass alle Eventualitäten erfasst sind und im Einzelfall keinerlei Zweifelsfragen auftreten. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (vgl. BGH, Urteil vom 31.03.2021 – IV ZR 221/19, NJW 2021, 2193 Rn. 26).
34
bb) Die im Zusammenhang mit den Ratenkreditverträgen abgeschlossenen Restschuldversicherungen sollen die Zahlungsverpflichtungen des Darlehensnehmers absichern. Es handelt sich der Sache nach um Risikolebensversicherungen mit eingeschlossener Arbeitsunfähigkeitszusatzversicherung und Versicherung gegen bestimmte schwere Erkrankungen („dread-disease“).
35
Ein durchschnittlicher verständiger Versicherungsnehmer muss und wird damit rechnen, dass der Versicherer den Versicherungsschutz im Interesse der Vorhersehbarkeit und zur Kalkulation seines Risikos auf im Vertrag ausdrücklich genannte Fälle beschränkt und den Versicherungsschutz danach konkret definiert. In diesem Zusammenhang wird der Versicherungsnehmer auch erkennen, dass ihm die Restschuldversicherung Schutz gegen bestimmte im versicherten Zeitraum neu und plötzlich auftretende ernstliche Erkrankungen bietet, die typischerweise mit einem Verlust oder der Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einhergehen und daher die Rückführung des Darlehens gefährden.
36
In § 7 AVB-RSV werden die fünf versicherten schweren Erkrankungen – entsprechend der abschließenden Aufzählung in § 6 Satz 1 AVB-RSV – nochmals aufgeführt, zum Teil näher beschrieben und zu nicht versicherten Krankheitsbildern abgegrenzt. Danach wird zwar deutlich, dass sog. Mikroinfarkte keinen Versicherungsschutz genießen. Es ergibt sich aber nicht hinreichend klar, dass es nicht entscheidend auf die umgangssprachliche Bezeichnung der ärztlichen Diagnose als „Herzinfarkt“ ankommen soll, sondern dass – nach dem engen Verständnis der Beklagten – letztlich nur ein Myokardinfarkt unter die Klausel fallen soll, während andere als „Herzinfarkt“ umschriebene akute Koronarsyndrome unberücksichtigt bleiben.
37
Im Rahmen der Definition der anderen schweren Erkrankungen in § 7 AVB-RSV Nrn. 2 bis 5 wird durch den Gebrauch des Wortes „muss“ (etwa: „Der Hirninfarkt muss Folge einer Gehirnblutung, Thrombose oder Embolie sein.“) oder der Wörter „liegt vor, wenn“ (etwa „Blindheit liegt vor, wenn eine Gefahrperson das gesamte Sehvermögen beider Augen verliert.“) jeweils unmissverständlich erläutert, dass es sich um zwingend notwendige medizinische Voraussetzungen der versicherten Erkrankungen handelt. Demgegenüber heißt es in § 7 Nr. 1 AVB-RSV im Anschluss an das erforderliche Auftreten eines akuten Herzinfarktes:
„Das bedeutet, ein Teil des Herzmuskels stirbt durch unzureichende Blutzufuhr zum Herzmuskel (Myokard) ab.“
38
Durch die Wortwahl „Das bedeutet, …“ bleibt offen und wird für einen verständigen Versicherungsnehmer nicht hinreichend klar, ob es sich um eine rein deskriptive Beschreibung dessen handelt, was – aus der Sicht der Verwenderin – einen Herzinfarkt kennzeichnet oder ob der nachfolgende Satzteil eine zwingende normative Voraussetzung der Erkrankung definiert. Beide Auslegungsergebnisse sind möglich, ohne dass eine von beiden den klaren Vorzug verdient. Den Umständen nach war hier eine verständliche Formulierung geboten und die Beklagte hätte dies durch eine ihr ohne weiteres zumutbare Klarstellung in den Versicherungsbedingungen erreichen können. Der Versicherungsnehmer kann nämlich nach dem Wortlaut der Klauseln in §§ 6 Satz 1, 7 Nr. 1 AVB-RSV den nicht fernliegenden Eindruck gewinnen, als komme es allein und entscheidend darauf an, dass die behandelnden Ärzte konkret die Diagnose „Herzinfarkt“ gestellt haben und damit von einer potenziell lebensbedrohlichen und dringlich zu behandelnden Herzerkrankung ausgegangen sind. Denn all diese Fälle eines Herzinfarkts verbindet der Versicherungsnehmer bei vertragszweckorientiertem Verständnis mit einer „schweren Krankheit“. Er wird darin durch einen Blick auf § 13 Nr. 1 AVB-RSV bestärkt. Nach der dortigen Regelung setzt der Risikoschutz in bestimmten Fällen erst 24 Monate nach der Unterzeichnung des Antrags ein. Als eine der „folgenden Erkrankungen“ sind dort „Koronare Herzerkrankungen“ aufgeführt. Dies setzt denknotwendig voraus, dass für Koronare Herzerkrankungen (ohne weitere medizinische Einschränkung) grundsätzlich Versicherungsschutz besteht – daher auch die einleitenden Worte „Für Versicherungsfälle …“ – und dass dieser lediglich zeitlichen Beschränkungen unterliegt. In dieser Auslegung behält die Klausel in § 7 Nr. 1 AVB-RSV ohne Zweifel ihren Sinn, zumal – wie auch die Sachverständige Dr. H. beschrieben hat – jede Form des „Herzinfarktes“ mit einer dauerhaften Beeinträchtigung der Herzfunktion verbunden ist und sowohl die Lebenserwartung als auch die Lebensqualität massiv beeinträchtigt. Ebenso sinnvoll erscheint die Beschränkung auf eine Erkrankung, die fachmedizinisch als Myokardinfarkt zu bewerten ist.
39
Diese verbleibenden Zweifel gehen zu Lasten der Beklagten als Verwenderin, d.h. die der Versicherungsnehmerin günstigere Auslegung ist maßgebend.
40
e) Nach dem Wortlaut des § 7 Nr. 1 AVB-RSV ist eine Angina pectoris ebenfalls nicht als „Herzinfarkt“ versichert. Eine Unterscheidung nach den – fachmedizinisch streng zu trennenden – Hauptformen der Angina pectoris enthält die Klausel nicht. Ihre Auslegung ergibt jedoch, dass der Leistungsausschluss nur für die sog. stabile Angina pectoris gilt und im Streitfall daher nicht eingreift (LGU 7/8).
41
Dies folgt zum einen aus dem Sinn und Zweck der Regelung sowie aus der Zusammenschau mit den ebenfalls vom Versicherungsschutz ausgeschlossenen „stummen Infarkten“. Bei einer stabilen Angina pectoris handelt es sich um vorhersehbar auftretende Beschwerden, die zumeist nach Ruhe oder der Einnahme von Nitroglyzerin wieder verschwinden und denen mit einer Änderung des Lebensstils begegnet werden kann. Dieses Beschwerdebild wird ein verständiger Versicherungsnehmer von vornherein nicht als eine seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gefährdende „schwere Erkrankung“ auffassen. Wiederkehrende Beschwerden bei Belastung und weniger bedrohliche Symptome hat die stabile Angina pectoris mit dem Mikroinfarkt gemeinsam. Beide Erscheinungsformen treten – so die Sachverständige – häufig gemeinsam auf. Demgegenüber handelt es sich bei der sog. instabilen Angina pectoris um einen anfallartigen dringenden medizinischen Notfall und um eine Erscheinungsform des akuten Koronarsyndroms, welches umgangssprachlich als „Herzinfarkt“ bezeichnet wird. Ohne nähere Klarstellung muss ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer nicht damit rechnen, dass in diesem Fall einer schweren Erkrankung kein Versicherungsschutz besteht.
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2. Die Berechnung der zu zahlenden Versicherungsleistung (LGU 10) greift die Berufung nicht an und etwaige Fehler sind für den Senat auch nicht ersichtlich. Gleiches gilt für die zuerkannten außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten (LGU 10/11).
III.
43
Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Senat, die Berufung zurückzunehmen. Hierdurch würden sich die Gerichtskosten von 4,0 auf 2,0 Gebühren reduzieren (Nr. 1222 KV GKG).