Inhalt

VG München, Urteil v. 21.06.2024 – M 10 K 23.51003
Titel:

Asyl, Dublin III-VO (Zielstaat: Italien), Herkunftsland: Afghanistan, Familienangehörige in Deutschland, Selbsteintrittsrecht, Sehr kleines, in Deutschland nachgeborenes Kind, Offenes nationales Asylverfahren des Vaters, Gelebte Vater-Kind-Beziehung

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1
AsylG § 34a
Dublin III-VO Art. 17 Abs. 1
EMRK Art. 8
GG Art. 6
Schlagworte:
Asyl, Dublin III-VO (Zielstaat: Italien), Herkunftsland: Afghanistan, Familienangehörige in Deutschland, Selbsteintrittsrecht, Sehr kleines, in Deutschland nachgeborenes Kind, Offenes nationales Asylverfahren des Vaters, Gelebte Vater-Kind-Beziehung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 17378

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom *. September 2023 wird aufgehoben.
II.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht vorher der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerinnen wenden sich mit ihrer Klage gegen die angeordnete Überstellung nach Italien im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
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Die Klägerin zu 1., eine afghanische Staatsangehörige, reiste am … Januar 2023 zusammen mit ihrer Tochter (Klägerin zu 2.) sowie ihrem Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Klägerin zu 3. wurde nach der Einreise am *. März 2023 in München geboren. Sie äußerten ein Asylgesuch, von dem die Beklagte durch behördliche Mitteilung am … März 2023 Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag wurde am … April 2023 gestellt. Über den Asylantrag des ebenfalls miteingereisten Ehemanns wurde bislang im nationalen Verfahren nicht entschieden.
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Eine Abfrage der Fingerabdrücke der Klägerin zu 1. am … März 2023 blieb erfolglos. Dies gilt auch für eine Visumsabfrage.
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In ihrer Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags am … April 2023 erklärte die Klägerin zu 1., dass sie über Italien und Österreich nach Deutschland eingereist sei. Am 8. … 2023 richtete die Beklagte ein Wiederaufnahmegesuch an die italienischen Behörden. Eine Reaktion der italienischen Behörden erfolgte nicht. In der weiteren Anhörung der Klägerin zu 1. in Anwesenheit ihres Ehemanns am *. August 2023 erklärte sie ebenfalls, dass sie über Italien eingereist sei. An Näheres könne sie sich nicht mehr erinnern, da sie damals schwanger gewesen sei. Der Ehemann erklärte, er habe in M* … Zugtickets nach Deutschland gekauft.
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Mit Bescheid der Beklagten vom *. September 2023, zugestellt mit Postzustellungsurkunde am … September 2023, wurde der Asylantrag der Klägerinnen als unzulässig abgelehnt, festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen, die Abschiebung nach Italien sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG für die Dauer von 15 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 19. September 2023, eingegangen beim Verwaltungsgericht München am selben Tag, erhoben die Klägerinnen Klage und beantragen,
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den Bescheid der Beklagten vom *. September 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ein nationales Asylverfahren für die Klägerinnen durchzuführen.
8
Zur Begründung erklären die Klägerinnen, dass die Klägerin zu 3. in Deutschland geboren sei und daher kein Dublin-Verfahren sondern ein nationales Verfahren hätte durchgeführt werden dürfen. Dies werde an keiner Stelle im Bescheid erwähnt. Über den Antrag des miteingereisten Ehemanns sei noch nicht entschieden worden. Zudem sei eine Trennung der Klägerin zu 1. von ihren Kindern, den Klägerinnen zu 2. und 3. nicht zulässig.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen.
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Auf Antrag der Klägerinnen hat das Gericht mit Beschluss vom 22. November 2023 (Az. M 10 S 23.51004) die aufschiebende Wirkung ihrer Klage angeordnet. Auf die Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.
13
Mit Beschluss vom 27. Mai 2024 wurde der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
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Mit Schreiben vom 5. Juni 2024 hörte das Gericht die Beteiligten zu einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG an. Hieraufhin teilte der Bevollmächtigte der Klägerinnen mit Schreiben vom 12. Juni 2024 mit, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht beantragt werde. Die Beklagte äußerte sich innerhalb der gesetzten Frist nicht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Verfahren M 10 K 23.51004 sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage kann gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Das Gericht hat den Beteiligten mit Schreiben vom 5. Juni 2024 mitgeteilt, dass gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren beabsichtigt sei. Die Beteiligten wurden gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 AsylG darauf hingewiesen, dass auf Antrag eines Beteiligten mündlich verhandelt werden muss (§ 77 Abs. 2 Satz 2 AsylG). Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom 12. Juni 2024 mitgeteilt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht beantragt werde. Die Beklagte hat sich innerhalb der gesetzten Frist nicht geäußert. Im Übrigen sind auch die weiteren Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegeben, da es sich vorliegend um keinen Fall des § 38 Abs. 1 bzw. des § 73b Abs. 7 AsylG handelt und der Kläger anwaltlich vertreten ist.
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1. Die zulässige Klage der Klägerinnen hat in der Sache Erfolg.
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a) Der Bescheid der Beklagten vom *. September 2023 erweist sich in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG als rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. A AsylG und die hierauf gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG erlassene Abschiebungsanordnung sind rechtswidrig, weil die Klägerinnen aus familiären Gründen einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO (vgl. VG Freiburg, U.v. 14.12.2020 – A 4 K 8024/17 – juris) haben. Denn die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerinnen in Italien würde eine unzumutbare Trennung der Klägerinnen von ihrem Ehemann bzw. Vater bewirken, so dass unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 GG, der unionsrechtlichen Gewährleistungen nach Art. 7 und Art. 24 Abs. 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) sowie der völkerrechtlichen Vorgaben nach Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ein Anspruch aus Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO anzunehmen ist.
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Nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO kann jeder Mitgliedsstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin III-VO festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.
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Das der Beklagten im Rahmen des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumte Ermessen zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts ist sehr weit. Gleichwohl kann sich das Ermessen in besonderen Ausnahmefällen zu einer Pflicht zum Selbsteintritt verdichten, wenn individuelle in der Person des Antragstellers liegende Gründe es geboten erscheinen lassen, aus humanitären Gründen von der Überstellung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat abzusehen. Für einen Selbsteintritt in Betracht kommen vornehmlich familiäre Gründe sowie weitere humanitäre Kriterien. Angenommen wird dies bei besonders schutzbedürftigen Personen, die von Art. 20 Abs. 3 RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) erfasst sind, dazu zählen insbesondere Minderjährige (s. für eine zusammenfassende Darstellung: Barden in Heusch/Haderlein/Fleuß/Barden, Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021, Rn. 451 f.). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris) kann das Selbsteintrittsrecht jedenfalls dann in eine einklagbare Selbsteintrittspflicht übergehen und damit eine Klage gegen die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts erfolgreich sein, wenn das Ermessen fehlerhaft gebraucht oder eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.
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Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ist im Licht der Grund- und Menschenrechte auszulegen und anzuwenden. Die grundsätzliche Wahrung der Familieneinheit ist ein ganz maßgebliches Ziel der Dublin III-VO. So sollen nach den Erwägungsgründen 13 und 14 der Dublin III-VO bei der Anwendung der Regelungen der Dublin III-VO das Wohl des Kindes und die Achtung des Familienlebens vorrangige Erwägungen der Mitgliedstaaten sein. Erwägungsgrund 15 der Dublin III-VO betont, dass mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat insbesondere sichergestellt werden kann, dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden (vgl. hierzu: VG München, U.v. 27.5.2021 – M 11 K 20.50075 n.v.; U.v. 8.9.2022 – M 10 K 16.50556 u.a. – juris; U.v. 25.10.2022 – M 10 K 18.52175 – n.v.).
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Aus Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG ergibt sich der Schutz des Familienlebens. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NvWZ 2013, 1207; B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris) gewähren Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG oder Art. 8 Abs. 1 EMRK keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Gleichwohl ist die Ausländerbehörde bzw. im vorliegenden Fall die Beklagte verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen. Voraussetzung ist stets eine schutzwürdige echte familiäre Beziehung im Sinne einer Beistandsgemeinschaft. Maßgeblich ist auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, drängt regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück, wenn die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden kann, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist.
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Teilen dagegen der Ehegatte und ein etwaiges minderjähriges Kind die Staatsangehörigkeit des Ausländers, ohne zugleich deutsche Staatsangehörige zu sein, so kann die Berücksichtigung des Schutzes von Ehe und Familie nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 11.6.1975 – 1 C 8.71 – juris; U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris; s. auch: VG Trier, B.v. 4.7.2012 – 1 L 671/12 – juris) nur geringeres Gewicht beanspruchen. In diesem Fall ist ein Ausländer prinzipiell darauf verwiesen, die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen ausländischen Familienangehörigen im gemeinsamen Heimatland herzustellen und zu wahren, solange die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nicht vorliegen. Ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK kann mithin nicht anerkannt werden, wenn es den Familienangehörigen möglich und zumutbar ist, zur Vermeidung einer Trennung mit dem Ausländer zusammen in das gemeinsame Heimatland oder ein anderes Land zurückzukehren beziehungsweise ihm dorthin nachzufolgen. Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist.
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Ob es dem Ausländer oder Familienangehörigen zuzumuten ist, das Bundesgebiet zu verlassen und die familiäre Lebensgemeinschaft in einem anderen Land zu führen, hängt dabei maßgeblich von dem aufenthaltsrechtlichen Status des Ausländers oder Familienangehörigen im Bundesgebiet ab (vgl. hierzu: OVG LSA, B.v. 10.12.2014 – 2 M 127/14, s. auch: NdsOVG, B.v. 2.3.2011 – 11 ME 551/10 – BeckRS 2011, 50316; VG Trier, B.v. 4.7.2012 – 1 L 671/12 – juris). Abschiebungsschutz ist jedenfalls zu gewähren, wenn die Familienangehörigen ein gesichertes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet haben (s. OVG LSA, B.v. 10.12.2014 – 2 M 127/14).
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In Anwendung dieser Grundsätze haben die Klägerinnen einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO. Das Ermessen der Beklagten hat sich auf Null reduziert. Wegen der durch Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Familieneinheit der Klägerinnen mit ihrem Ehemann und Vater liegen individuelle außergewöhnliche Gründe vor, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen.
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Im konkreten Fall bestehen keine durchgreifenden Anhaltspunkte, die gegen eine verwandtschaftliche Beziehung der Klägerinnen mit dem Ehemann bzw. Vater sprechen. Für die Klägerin zu 2. wurde eine afghanische Geburtsurkunde vorgelegt, welche den Vater benennt. Die Klägerin zu 3. wurde in Deutschland geboren. Der Ehemann und Vater hat die Vaterschaft förmlich anerkannt. Das Vorliegen einer Ehe zwischen der Klägerin zu 1. und ihrem Ehemann und Vater der Klägerinnen zu 2. und 3. wird von der Beklagten nicht bestritten.
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Nach der Aktenlage ist davon auszugehen, dass die Klägerinnen mit ihrem Ehemann bzw. Vater eine von persönlicher Verbundenheit getragene Beziehung haben, auf deren Aufrechterhaltung die Klägerinnen zu ihrem Wohl angewiesen sind. Die Klägerinnen sind gemeinsam mit dem Ehemann bzw. Vater nach Deutschland eingereist und leben weiterhin gemeinsam im Familienverband. Die Klägerin zu 2. ist knapp vier Jahre alt, die Klägerin zu 3. wurde erst Anfang März 2023 in Deutschland geboren. Angesichts dessen ist eine gelebte familiäre Beziehung zwischen den Klägerinnen und dem Ehemann bzw. Vater anzunehmen und wurde von der Beklagten auch nicht bezweifelt.
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Angesichts dieser Beziehung der Klägerinnen zu ihrem Ehemann bzw. Vater würden die Gewährleistungen aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GRCh und Art. 8 Abs. 1 EMRK verletzt, wenn die Klägerinnen nach Italien gingen bzw. dorthin abgeschoben würden. Denn der Ehemann bzw. Vater der Klägerinnen, über dessen Asylantrag im nationalen Verfahren entschieden wird, darf (jedenfalls für die Dauer seines Asylverfahrens) in Deutschland bleiben. Die Durchführung des Asylverfahrens in Italien der Klägerinnen würde zu einer unzumutbaren Trennung dieser von ihrem Ehemann und Vater führen. Insbesondere die sehr jungen Klägerinnen zu 2. und 3. würden die Trennung von seinem Vater nicht verstehen und als endgültigen Verlust begreifen, was einen schweren Grundrechtseingriff bedeuten würde. Abgesehen davon, dass diese in diesem Alter auch eine nur vorübergehende Trennung rasch als endgültig wahrnehmen würde, ist derzeit nicht von einer nur vorübergehenden Trennung auszugehen. Es ist nach derzeitigem Sachstand davon auszugehen, dass das (nationale) Asylverfahren des Vaters des Klägers noch einige Zeit, ggf. Jahre in Anspruch nehmen wird. Nach telefonischer Auskunft der Beklagten vom … November 2023 ist beim Ehemann und Vater noch eine ergänzende Anhörung erforderlich. Das Verfahren kann noch länger dauern. Angesichts dessen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit einem zeitnahen (rechtskräftigen) Abschluss des Asylverfahrens des Ehemanns und Vaters zu rechnen.
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Selbst wenn der Asylantrag des Ehemanns und Vaters von der Beklagten zeitnah (bestandskräftig) negativ verbeschieden würde, wäre eine Abschiebung der Klägerinnen nach Italien mit einer unzumutbaren Trennung vom Ehemann und Vater verbunden. Denn der Ehemann und Vater würde nicht ebenso nach Italien, sondern nach Afghanistan abgeschoben, da über sein Asylverfahren im nationalen Verfahren entschieden wird. Eine Abschiebung unter Wahrung der Familieneinheit wäre dann gerade nicht möglich, da die Abschiebungsandrohung (im nationalen Verfahren) und die Abschiebungsanordnung (im „Dublin-Verfahren“) bezüglich verschiedener Länder ergangen wären (zu vergleichbaren Konstellationen: vgl. VG München, U.v. 25.10.2022 – M 10 K 18.52175 – n.v.; B.v. 29.8.2022 – M 10 S 21.50716 – juris; U.v. 29.4.2022 – M 2 K 19.50909 – n.v.).
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Es ist auch nicht zumutbar, die Klägerinnen darauf zu verweisen, den Kontakt zum in Deutschland lebenden Ehemann und Vater aus Italien über Telefonate, soziale Medien oder gelegentliche Besuche aufrechtzuerhalten. Denn insbesondere die Klägerinnen zu 2. und 3. sind mit knapp vier Jahren bzw. einem Jahr zu klein, um auf diese Weise den Kontakt zum Vater aufrechtzuerhalten. Im Kleinkindalter ist vielmehr der regelmäßige persönliche, körperliche Kontakt des Kindes zu seiner Bezugsperson für das Wohl des Kindes entscheidend.
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Die Trennung der Klägerinnen vom Ehemann und Vater lässt sich auch nicht in zumutbarer und damit im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG verhältnismäßiger Weise dadurch vermeiden, dass die Familie (freiwillig) gemeinsam nach Italien, in ihr Herkunftsland oder ein anderes Land geht und dort als Familie zusammenlebt.
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Zwar würden die Klägerinnen als Dublin-Rückkehrer in Italien Aufnahme finden. Aber es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Ehemann und Vater ein Aufenthaltsrecht in Italien hat (so auch: VG München, U.v. 25.10.2022 – M 10 K 18.52175 – n.v.).
33
Die Familie kann auch nicht in zumutbarer Weise darauf verwiesen werden, zur Wahrung der familiären Einheit nach Afghanistan zu gehen, da jedenfalls über den Asylantrag des Ehemanns und Vaters gerade noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist (vgl. auch: VG München, U.v. 25.10.2022 – M 10 K 18.52175 – n.v.; s. auch: VG München, U.v. 29.4.2022 – M 2 K 19.50909 – n.v.).
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b) Die Nebenentscheidungen des angegriffenen Bescheids in Nummer 2 und Nummer 4 können nach allem ebenso keinen Bestand haben. Die Entscheidung über das Nichtvorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote ist vorliegend jedenfalls verfrüht erfolgt (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21). Dem angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot von 15 Monaten ab dem Tag der Abschiebung ist infolge der Aufhebung der Abschiebungsanordnung die rechtliche Grundlage entzogen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG). Sie sind ebenfalls aufzuheben.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.