Inhalt

VGH München, Urteil v. 13.06.2024 – 20 B 22.1914
Titel:

Unwirksamkeit einer Entwässerungssatzung

Normenketten:
BYKAG Art. 2 Abs. 1 S. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1
BV Art. 3 Abs. 1 S. 1
GO Art. 24 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2
Leitsätze:
1. Die Pflicht zur Einleitung von Niederschlagswasser in eine öffentliche Entwässerungsanlage bedarf – namentlich auch wegen der Möglichkeit der Durchsetzung des Anschluss- und Benutzungszwangs gegen den Willen betroffener Grundstückseigentümer – einer besonderen Rechtfertigung. Das Rechtsstaatsprinzip ist verletzt, wenn eine gemeindliche Satzung zur Beseitigung des Niederschlagswassers den Anschluss an eine gemeindliche Entwässerungseinrichtung und deren Benutzung anordnet, ohne dass hierfür hinreichende Gründe des öffentlichen Wohls ersichtlich sind (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein die vom Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der mündlichen Verhandlung geäußerte und dokumentierte Absicht des Beklagten, er habe ab einem bestimmten Zeitpunkt insgesamt wirksames (Stamm- und Abgabe-) Satzungsrecht schaffen wollen, ist schon aus Gründen der Rechtsklarheit nicht geeignet, eine Heilung der Unwirksamkeit des bisherigen Beitrags- und Gebührenrechts zu bewirken.  (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wirksamkeit einer Entwässerungssatzung, Anschluss- und Benutzungszwang für die Einleitung von Niederschlagswasser, wirksame Stammsatzung zum Zeitpunkt des Erlasses einer Beitrags- und Gebührensatzung, Rechtsstaatsprinzip, Satzungsrecht
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 01.12.2021 – W 2 K 20.555
Fundstelle:
BeckRS 2024, 16947

Tenor

I.    Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 1. Dezember 2021 wird geändert. Der Bescheid des Beklagten vom 30. November 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2016 wird aufgehoben.
II.    Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war erforderlich.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten vorläufig vollstreckbar.
III.    Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Bescheides zur Erhebung eines Verbesserungsbeitrags für eine Maßnahme an der öffentlichen Entwässerungsanlage des Beklagten, die in den Jahren 2007/2008 durchgeführt wurde. Mit Bescheid vom 30. November 2012 hat der Beklagte gegenüber dem Kläger einen Verbesserungsbeitrag über 369,15 EUR auf der Grundlage der Beitragssatzung für die Verbesserung der Entwässerungsanlage vom 31. August 2012 festgesetzt.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Anwesens Ebene 12 der Gemarkung … (Fl.Nrn. 481, 481/1, 481/2, 481/3, 486, 486/1 und 486/2), das an die öffentliche Entwässerungseinrichtung des Beklagten angeschlossen ist. Der Kläger hat das Eigentum an den Grundstücken mit Zuschlag vom 7. April 2009 im Wege des Zwangsversteigerungsverfahrens erworben. Mit Bescheiden vom 18. Juli 1990 und 6. Juli 1994 (nach Grundstücksflächenerweiterung) hatte der Beklagte gegenüber dem Voreigentümer, zu dessen Lasten am 20. Januar 2006 ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, einen Herstellungsbeitrag erhoben.
3
Der Beklagte verfügte seit dem 28. Juni 1975 über eine Entwässerungssatzung, die in § 4 Nr. 1 und § 5 Nr. 5 (auszugsweise) folgendes regelte und bis zum Erlass der Entwässerungssatzung vom 29. November 2012 insoweit unverändert fortbestand:
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„§ 4 Anschluss- und Benutzungsrecht
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Nr. 1 Jeder Grundstückseigentümer kann verlangen, daß sein Grundstück nach Maßgabe dieser Satzung an die öffentliche Entwässerungsanlage angeschlossen wird. Er ist berechtigt, nach Maßgabe der §§ 14 bis 17 alles Abwasser in die öffentliche Entwässerungsanlage einzuleiten.
6
§ 5 Anschluss- und Benutzungszwang …
7
Nr. 5 Auf Grundstücken, die an die öffentliche Entwässerungsanlage angeschlossen sind, ist alles Abwasser nach Maßgabe der §§ 14 bis 17 in die öffentliche Entwässerungsanlage einzuleiten (Benutzungszwang)…“
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Mit der Entwässerungssatzung vom 29. November 2012, die am 1. Januar 2013 in Kraft trat, legten §§ 4 und 5 auszugsweise folgendes fest:
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„§ 4 Anschluss- und Benutzungsrecht
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(5) Unbeschadet des Abs. 4 besteht ein Benutzungsrecht nicht, soweit eine Versickerung oder anderweitige Beseitigung von Niederschlagswasser ordnungsgemäß möglich ist. …
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§ 5 Anschluss- und Benutzungszwang …
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(3) Der Anschluss- und Benutzungszwang gilt nicht für Niederschlagswasser, sofern dessen Versickerung oder anderweitige Beseitigung ordnungsgemäß möglich ist.
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(6) Auf Grundstücken, die an die Entwässerungseinrichtung angeschlossen sind, ist im Umfang des Benutzungsrechts alles Abwasser in die Entwässerungsanlage einzuleiten (Benutzungszwang)…“
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Zur Deckung des Aufwands der streitgegenständlichen Maßnahme zur „Leitungsverbesserung und -erneuerung im Zuge des Ausbaus der B 279 OD J.“ hatte der Beklagte am 18. April 2008 eine Verbesserungsbeitragssatzung erlassen (VBS-EWS). Am 31. August 2012 erließ der Beklagte eine neue Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung und eine neue Verbesserungsbeitragssatzung.
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Während des laufenden Widerspruchsverfahrens, das der Kläger am 29. Dezember 2012 einleitete, änderte der Beklagte die BGS-EWS und nahm § 6a in die 1. Satzungsänderung vom 29. April 2016 auf. Dieser hat folgenden Wortlaut:
„§ 6a
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(1) Der Herstellungsbeitrag wird bei all den erschlossenen Grundstücken, die bereits nach den Beitragssatzungen zur Entwässerungssatzung (BGS-EWS) bis einschließlich 31.08.2012 bestandskräftig veranlagt worden sind, in der Höhe begrenzt.
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Der eingeschränkte Herstellungsbeitrag beträgt 0,05 € je m² Grundstücksfläche und 0,25 € je m² von Geschossfläche.
18
Die als Vorausleistung auf die unwirksamen Verbesserungsbeitragssatzungen (VBS) erbrachten Zahlungen werden nominell angerechnet.
19
(2) Bei unvollständigen Veranlagungen nach den Beitragssatzungen bis einschließlich 31.08.2012 gilt Abs. 1 nur für die bestandskräftig herangezogenen Geschoss- und Grundstücksflächen.
20
(3) Im Übrigen bleibt es bei der Anwendung dieser BGS-EWS.“
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Infolge dieser Satzungsänderung deutete die Widerspruchsbehörde den streitgegenständlichen Verbesserungsbeitragsbescheid in einen eingeschränkten Herstellungsbeitragsbescheid um und wies den Widerspruch mit Bescheid vom 30. Juni 2016 zurück. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 1. Dezember 2021, dem Klägerbevollmächtigten zugestellt am 4. Januar 2022, als unbegründet ab. Auf die Begründung der Entscheidung wird Bezug genommen.
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Auf Antrag des Klägerbevollmächtigten vom 2. Februar 2022 hin, der am 3. März 2022 begründet wurde, ließ der Senat die Berufung mit Beschluss vom 24. August 2022 wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung zu. Zur Begründung der Berufung führte der Klägerbevollmächtigte unter anderem aus, es fehle die für eine rechtmäßige Beitragserhebung erforderliche Rechtsgrundlage.
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Der Kläger beantragte zuletzt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 21. Dezember 2021 abzuändern und den Bescheid des Beklagten vom 30. November 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2016 aufzuheben und die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
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Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 21. März 2024
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die Berufung zurückzuweisen.
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Nach Aufforderung des Senats legte der Bevollmächtigte des Beklagten mit Schreiben vom 21. März 2024 das Satzungswerk des Beklagten vor und äußerte sich zum Verfahren wie folgt:
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"Die BGS-EWS vom 31. August 2012 in der Fassung der 1. Änderungssatzung vom 20. April 2016 sei wirksam und eine tragfähige Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid. Die Umdeutung eines Verbesserungsbeitragsbescheides in einen „beschränkten Herstellungsbeitrag“ sei möglich und vorliegend zu recht erfolgt. Ein unzulässiger Austausch der Rechtsgrundlage sei nicht erfolgt.“
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Behörden- und Gerichtsakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist begründet. Der angefochtene Beitragsbescheid des Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Der Bescheid findet im Satzungsrecht des Beklagten keine tragfähige Rechtsgrundlage. Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KAG können die Gemeinden und Landkreise zur Deckung des Aufwands für die Herstellung, Anschaffung, Verbesserung oder Erneuerung ihrer öffentlichen Einrichtungen (Investitionsaufwand) Beiträge von den Grundstückseigentümern und Erbbauberechtigten erheben, denen die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser Einrichtungen besondere Vorteile bietet. Dies geschieht nach Art. 2 Abs. 1 KAG auf Grund einer besonderen Abgabesatzung.
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Weder zum Zeitpunkt der Erhebung des Beitrags mit Bescheid vom 30. November 2012 noch zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung verfügte der Beklagte über wirksames Satzungsrecht im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 KAG.
33
a. Zum Zeitpunkt der Erhebung des Beitrags galt die Entwässerungssatzung des Beklagten vom 28. Juni 1975, die in §§ 4 Nr. 1 und 5 Nr. 5 EWS im Umfang des Benutzungsrechts alles Abwasser einem Benutzungszwang unterwarf, ohne eine Versickerungsmöglichkeit für Niederschlagswasser vorzusehen. Eine solche Regelung ist nach der Rechtsprechung des Senates jedoch nichtig, weil keine besonderen Gründe des öffentlichen Wohls ersichtlich sind, welche eine solche Maßnahme rechtfertigen würden. Die Pflicht zur Einleitung von Niederschlagswasser in eine öffentliche Entwässerungsanlage bedarf – namentlich auch wegen der Möglichkeit der Durchsetzung des Anschluss- und Benutzungszwangs gegen den Willen betroffener Grundstückseigentümer – einer besonderen Rechtfertigung (vgl. BayVGH, U. v. 28.10.1994 – 23 N 90.2272 – NVwZ-RR 1995, 345). Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) ist verletzt, wenn eine gemeindliche Satzung gemäß Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 GO zur Beseitigung des Niederschlagswassers den Anschluss an eine gemeindliche Entwässerungseinrichtung und deren Benutzung anordnet, ohne dass hierfür hinreichende Gründe des öffentlichen Wohls ersichtlich sind (vgl. BayVerfGH, E. v. 10.11.2008 – Vf.4-VII-06 – VerfGH 61, 262 = NVwZ 2009, 298). Solche Gründe hat der Antragsgegner nicht vorgetragen noch sind sie sonst wie ersichtlich (BayVGH, U.v. 27.9.2018 – 20 N 17.1760 – BeckRS 2018, 32953 Rn. 23 und U.v. 27.9.2018 – 20 N 16.546 – BeckRS 2018, 32952 Rn. 23). Die Nichtigkeit der EWS 1975 bedingt die Nichtigkeit der Herstellungsbeitragssatzung und der Verbesserungsbeitragssatzung bis zum Erlass einer neuen gültigen Stammsatzung.
34
b. Jedoch hat auch der Erlass der neuen Entwässerungssatzung durch den Beklagten am 29. November 2012 mit Wirkung zum 1. Januar 2013 keine wirksame Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Bescheid geschaffen. Denn die bereits vor dem 1. Januar 2013 in Kraft getretenen BGS-EWS und die VES-EWS vom 31. August 2012 haben ihre Grundlage noch in der unwirksamen Stammsatzung vom 28. Juni 1975 und teilen ihr rechtliches Schicksal. Ohne wirksame Stammsatzung, die den Zugang zu einer Einrichtung und das Benutzungsverhältnis im Sinne von Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 GO regelt, kann wirksames Beitragsrecht nicht entstehen. Daher wäre auf der Grundlage der Stammsatzung vom 29. November 2012 ein Neuerlass des Beitrags- und Gebührenrechts erforderlich (gewesen), um insgesamt wirksames Satzungsrecht. zu schaffen, auf dessen Grundlage die Erhebung von Beiträgen für die Entwässerungsanlage erfolgen kann (st. Rspr., BayVGH, U.v. 10.11.1998 – 23 B 97.504 – BeckRS 1998, 25275; BayVGH, U.v. 28.10.2021 – 20 B 18.1929- BeckRS 2021, 52012 Rn. 30; BayVGH, U.v. 27.9.2018 – 20 N 16.546 – BeckRS 2018, 32952 Rn. 25). Allein die vom Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der mündlichen Verhandlung geäußerte und dokumentierte Absicht des Beklagten, er habe ab dem Januar 2013 insgesamt wirksames (Stamm- und Abgabe-) Satzungsrecht schaffen wollen, ist schon aus Gründen der Rechtsklarheit nicht geeignet, eine Heilung der Unwirksamkeit des bisherigen Beitrags- und Gebührenrechts zu bewirken. Daran ändert auch die 1. Satzungsänderung vom 29. April 2016, die zur Aufnahme des § 6a in die BGS-EWS führte, nichts, da es sich hierbei nur um eine Teilregelung handelt. Allein maßgeblich ist, dass die Herstellungsbeitragssatzung und die Verbesserungsbeitragssatzung vor der geänderten Entwässerungssatzung in Kraft getreten sind.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO war wegen der Schwierigkeit der Sache die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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3. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 132 Abs. 2 VwGO.