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OLG München, Endurteil v. 26.06.2024 – 7 U 5502/22
Titel:

Anspruch auf Differenzschaden im Zusammenhang mit dem von Audi entwickelten und hergestellten 3,0-Liter-Motor (hier: Audi A4)

Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 287
Leitsätze:
1. Vgl. zu 3,0 Liter-Motoren von Audi mit unterschiedlichen Ergebnissen auch: BGH BeckRS 2021, 37683; BeckRS 2022, 21374; BeckRS 2023, 15119; KG BeckRS 2023, 33393; BeckRS 2024, 7118; BeckRS 2024, 12263; OLG Celle BeckRS 2023, 34908; OLG Dresden BeckRS 2023, 5152; OLG Hamm BeckRS 2021, 37295; OLG München BeckRS 2023, 32991; BeckRS 2024, 3294; BeckRS 2024, 7529; BeckRS 2024, 7526; BeckRS 2024, 9624; BeckRS 2023, 49064; OLG Naumburg BeckRS 2023, 41799; OLG Saarbrücken BeckRS 2022, 34471; BeckRS 2024, 9899; OLG Stuttgart BeckRS 2024, 738; OLG Bamberg BeckRS 2023, 31419 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG München BeckRS 2022, 36080 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2022, 28703 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1) sowie OLG Brandenburg BeckRS 2021, 52227 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1). (redaktioneller Leitsatz)
2. Einen Differenzschaden bejahend auch: KG BeckRS 2024, 13983; OLG Celle BeckRS 2023, 32827; OLG Dresden BeckRS 2023, 22299; BeckRS 2023, 32835; OLG Hamburg BeckRS 2023, 26911; BeckRS 2024, 13979; OLG Hamm BeckRS 2023, 25175; BeckRS 2023, 29622; OLG München BeckRS 2024, 5142; BeckRS 2024, 5496; BeckRS 2024, 5589; BeckRS 2024, 6664; BeckRS 2024, 6950; BeckRS 2024, 7525; BeckRS 2024, 8552; BeckRS 2024, 8714; BeckRS 2024, 11301; OLG Oldenburg BeckRS 2024, 643; BeckRS 2024, 5526; OLG Schleswig BeckRS 2023, 35465; BeckRS 2024, 3307; OLG Stuttgart BeckRS 2023, 35483; BeckRS 2024, 394; für Wohnmobil: OLG Naumburg BeckRS 2023, 27644. (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) rechtfertigt die Bewertung als sittenwidriges Verhalten für sich genommen auch bei unterstellter Gesetzwidrigkeit der Applikation nicht, denn anders als die Umschaltlogik differenziert das Thermofenster nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine Rechtfertigung der Abschalteinrichtung mit Gründen des Motorschutzes ist ausgeschlossen, wenn die Abschalteinrichtung unter Bedingungen aktiviert ist, die innerhalb eines Jahres üblicherweise während in ihrer Summe längerer Zeitintervalle herrschen, als dies nicht der Fall ist; dabei sind die unionsrechtlichen Vorgaben im gesamten Unionsgebiet zu erfüllen, also auch im Norden Finnlands. (Rn. 34 und 36) (redaktioneller Leitsatz)
5. Ein Verbotsirrtum als solcher ist nicht hinreichend dargelegt, wenn nur auf das Vorstellungsbild „der Beklagten“, „der zuständigen Mitarbeiter“ oder „der für die Einhaltung der regulatorischen Vorgaben zuständigen Organisationseinheiten“ abgestellt wird. (Rn. 39 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
6. Der Differenzschaden kann auf 10% des Kaufpreises geschätzt werden, wenn von einem nicht unbeträchtlichen, aber nur fahrlässigen Verstoß gegen die europarechtlichen Anforderungen auszugehend ist, im Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses das Risiko behördlicher Nutzungsbeschränkungen angesichts der Genehmigungspraxis des Kraftfahrzeugbundesamtes aber als eher gering anzusehen war. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, Audi, 3.0l-Dieselmotor, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, unvermeidbarer Verbotsirrtum, Differenzschaden, Restwert, Genehmigungspraxis des KBA, Unionsgebiet
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 11.08.2022 – 20 O 18180/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 16384

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts München I vom 11.8.2022 (Az.: 20 O 18180/21) abgeändert gemäß den folgenden Ziffern.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 5.873,82 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5.2.2022 zu zahlen.
3. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 88% und die Beklagte 12% zu tragen.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
6. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
7. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird für die Zeit bis 17.6.2024 auf 48.403,01 € und für die Zeit ab 18.6.2024 auf 5.873,82 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

A.
1
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem sogenannten „Dieselskandal“.
2
Die Klagepartei erwarb mit Kaufvertrag vom 30.4.2016 von einem Autohaus den streitgegenständlichen PKW Marke Audi A4 bei einem Kilometerstand von 0 zum Kaufpreis von 58.738,19 €. Das Fahrzeug verfügt über einen von der Beklagten hergestellten 3.0l-Dieselmotor mit 160 kw (Schadstoffklasse EU6). Die Klagepartei steht auf dem Standpunkt, die Motorsoftware des Fahrzeugs enthalte diverse unzulässige Abschalteinrichtungen, die dafür Sorge trügen, dass das Fahrzeug die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand einhalte. Hierfür habe die Beklagte gegenüber der Klagepartei nach § 826 BGB und anderen Anspruchsgrundlagen einzustehen.
3
Das Fahrzeug verfügt über ein Thermofenster.
4
Die Klagepartei hat beantragt,
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 50.518,84 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.12.2021 zu bezahlen, Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des PKW Audi A4 3.0 TDI quattro allroad, FIN: ...
2.
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des im Klageantrag zu 1 genannten PKW in Annahmeverzug befindet.
3.
Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.291,54 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.12.2021 freizustellen.
5
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
6
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils wird Bezug genommen. Mit ihrer zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung verfolgte die Klagepartei ihr ursprüngliches Begehren mit der Maßgabe weiter, dass der Zahlbetrag in der Hauptsache 48.403,01 € betrage.
7
Am 26.6.2024 wies das Fahrzeug einen Kilometerstand von 66.831 auf.
8
Die Klagepartei beantragt,
I. Unter Abänderung des Urteils des Landgerichts München I, Aktenzeichen: 20 O 18180/21, wird die Beklagtenpartei verurteilt, an die Klagepartei einen vom Gericht gemäß § 287 ZPO zu schätzenden Betrag, mindestens aber 5% des Kaufpreises des Fahrzeugs A4 3.0 TDI quattro allroad, FIN: ... in Höhe von 58.738,19 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
II. Unter Abänderung des Urteils des Landgerichts München I, Aktenzeichen: 20 O 18180/21, wird die Beklagte verurteilt, an die Klagepartei die durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 3.291,54 nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten seit dem 30.12.2021 freizustellen. [sic!; Anm. d. Senats] Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Berufung.
B.
9
Die Berufung hat in der Hauptsache Erfolg und war hinsichtlich der geltend gemachten vorgerichtlichen Kosten zurückzuweisen.
10
I. Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 826 BGB wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung durch die Beklagte.
11
1. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (std. Rspr., vgl. BGH, NJW 2020, 1962 Rz. 15 mwNachw). Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH a.a.O. Rz. 15).
12
Danach liegt ein sittenwidriges Verhalten eines Fahrzeug- bzw. Motorherstellers vor, wenn dieser sich im Rahmen einer von ihm bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung, die Typengenehmigungen durch arglistige Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes [im folgenden: KBA] zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr zu bringen, die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt zunutze macht (BGH a.a.O. Rz. 25). Dies ist der Fall, wenn der Automobilhersteller dem KBA zwecks Erlangung der Typengenehmigung mittels einer zu diesem Zweck entwickelten Software, die bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden (Umschaltlogik), wahrheitswidrig vorspiegelt, die Fahrzeuge würden die Grenzwerte einhalten (BGH, Beschluss vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, Rz. 17).
13
Dabei kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht mehr sittenwidrig zu werten sein. Eine solche Verhaltensänderung kann somit bereits der Bewertung seines Verhaltens als sittenwidrig – gerade in Bezug auf den geltend gemachten, erst später eingetretenen Schaden und gerade im Verhältnis zu dem erst später Geschädigten – entgegenstehen (BGH, Urteil vom 30.7.2020 – VI ZR 5/20, Rz. 30 ff.).
14
Im Falle eines Abgasrückführungssystems, das – anders als die Umschaltlogik – nicht danach differenziert, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet (BGH, Urteil vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, Rz. 18), ist der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur dann gerechtfertigt, wenn zu dem – unterstellten – Gesetzesverstoß weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (BGH a.a.O. Rz. 19). Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und / oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung (oder vergleichbarer Beeinflussungen) des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (BGH, Urteil vom 19.1.1921 – VI ZR 433/19, Rz. 19; Beschluss vom 9.3.2021 – VI ZR 889/20, Rz. 28). Fehlt es daran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt.
15
2. Das unstreitig vorhandene Thermofenster erfüllt den Tatbestand des § 826 BGB vorliegend nicht.
16
Die Abgasrückführung im streitgegenständlichen Fahrzeug ist unstreitig abhängig von der Umgebungstemperatur. Streitig sind allerdings die genauen Temperaturdaten, zu denen eine Verminderung oder Abschaltung erfolgen soll. Die Klagepartei behauptet ein Thermofenster zwischen +20°C und +30°C. Die Beklagte bestreitet dies und behauptet, dass die Abgasrückführung im Temperaturbereich zwischen +5°C und +38°C ohne Abrampung vollständig aktiv sei.
17
Die genaue Reichweite des Thermofensters kann an dieser Stelle noch dahinstehen. Denn der Einsatz einer derart temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems rechtfertigt die Bewertung als sittenwidriges Verhalten für sich genommen auch bei unterstellter Gesetzwidrigkeit der Applikation nicht (BGH, Beschluss vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, Rz. 13.; Urteil vom 16.9.2021 – VI ZR 190/20, Rz. 16). Denn anders als die Umschaltlogik differenziert das Thermofenster nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet (BGH vom 19.1.2021, a.a.O. Rz. 18). Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur dann gerechtfertigt, wenn zu dem – unterstellten – Gesetzesverstoß weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen (BGH vom 19.1.2021, a.a.O. Rz. 19). Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und / oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (BGH vom 19.1.2021, a.a.O. Rz. 19; Beschluss vom 9.3.2021 – VI ZR 889/20, Rz. 28).
18
Davon ist hier nicht auszugehen. Die Rechtsfrage, ob das Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt oder nicht, war hoch umstritten. Der Bericht der Untersuchungskommission V. vom April 2016 ging von der Zulässigkeit des Thermofensters aus. Daher liegt es keineswegs auf der Hand und kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Beklagte von der Unzulässigkeit des Thermofensters ausging oder die Augen hiervor bewusst verschlossen hätte (BGH v. 16.9.2021 a.a.O. Rz. 30).
19
Zwar könnten sich unter Umständen aus einer etwaigen Verschleierung im Typengenehmigungsverfahren, dass die Abgasrückführung (auch) temperaturabhängig ist, Anhaltspunkte für ein Bewusstsein der für die Beklagte handelnden Personen, eine unzulässige Abschalteinrichtung einzusetzen, und mithin für die Täuschungsabsicht ergeben (BGH vom 9.3.2021, a.a.O. Rz. 24). Indes lässt sich aus dem Klägervortrag hier keine derartige Verschleierung ableiten, der ein solcher Indizcharakter zukäme. Eine unterbliebene Offenlegung des Thermofensters oder dessen genauer Wirkungsweise gegenüber dem KBA reichen insofern nicht aus (BGH, Hinweisbeschluss vom 15.9.2021 – VII ZR 2/21, Rz. 15; Urteil vom 16.9.2021, a.a.O. Rz. 26; Urteil vom 24..2022 – III ZR 270/20, Rz. 22; Urteil vom 18.9.2023 – VIa ZR 1508/22, Rz. 22).
20
Ebenso fehlt es an dem für § 826 BGB erforderlichen Schädigungsvorsatz. Allein aus einer etwaigen objektiven Unzulässigkeit des Thermofensters folgt kein Vorsatz hinsichtlich der Schädigung der Fahrzeugkäufer; im Hinblick auf die unsichere Rechtslage ist nicht dargetan, dass sich den für die Beklagte tätigen Personen die Gefahr einer Schädigung der Klagepartei hätte aufdrängen müssen (BGH, Urteil vom 16.9.2021, a.a.O. Rz. 32; Beschluss vom 15.9.2021, a.a.O. Rz. 23).
21
3. Die Behauptungen der Klagepartei zu weiteren Abschalteinrichtungen im Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs (insbesondere Aufheizstrategie, Manipulation der AdBlue-Zuführung, Getriebemanipulation) enthalten keine greifbaren Anhaltspunkte für die Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 826 BGB und vermögen daher eine Beweisaufnahme hierzu nicht zu rechtfertigen.
22
a) Zwar ist es einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich nur auf vermutete Tatsachen stützen kann, weil sie mangels Sachkunde oder Einblicks in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten und verwendeten Fahrzeugmotors einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann (BGH, Beschluss vom 15.9.2021 – VII ZR 2/21, Rz. 26 f.). Eine Behauptung ist erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden ist. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur beim Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte gerechtfertigt werden können (BGH a.a.O. Rz. 28; BGH, Urteil vom 16.9.2021 – VII ZR 190/20, Rz. 23).
23
b) Nach diesen Anforderungen verfehlen die Behauptungen der Klagepartei zu weiteren Abschalteinrichtungen die Anforderungen an einen hinreichend konkreten Sachvortrag.
24
aa) Die Ausführungen der Klagepartei kranken in erster Linie daran, dass sie zu wenig auf das streitgegenständliche Fahrzeug und den darin verbauten Motor eingehen. Sie versucht, aus durch das KBA festgestellten unzulässigen Abschalteinrichtungen bei anderen Motoren in anderen Fahrzeugtypen der Beklagten Schlussfolgerungen für das streitgegenständliche Fahrzeug zu ziehen. Dieser Schluss ist spekulativ und trägt nicht.
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Das streitgegenständliche Fahrzeug unterlag keinem verbindlichen Rückruf des Kraftfahrtbundesamtes wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung. Nach der dem Senat vorliegenden Rückruftabelle des KBA gab es einen solchen Rückruf für Modelle A4 der Schadstoffklasse EU6 mit 160 kw (wie das gegenständliche Fahrzeug) nur betreffend den Motorkennbuchstaben CKV; die vorgelegte (schwer leserliche) Kopie der Zulassungsbescheinigung für das gegenständliche Fahrzeug weist dem gegenüber einen mit „Z“ beginnenden Motorkennbuchstaben aus. Dem korrespondiert der von der Klagepartei nicht substantiiert bestrittene Beklagtenvortrag, wonach es sich bei dem gegenständlichen Fahrzeug nicht um einen dem Rückruf unterliegenden „Vorerfüller“ der Schadstoffklasse EU6 handle. Die von der Klagepartei als Anlagen K 9 bis K 14 vorgelegten Rückrufe betreffen jeweils nicht Fahrzeuge der Marke A4.
26
Die Tatsache, dass das (durch den Dieselskandal sensibilisierte) KBA in anderen Motortypen der Beklagten unzulässige Abschalteinrichtungen festgestellt und hierwegen verbindliche Rückrufe veranlasst hat, hingegen beim streitgegenständlichen Fahrzeug gerade nicht, legt eher nahe, dass bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug (neben dem Thermofenster) keine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist. Es hätte daher konkreterer Darlegungen der Klagepartei bedurft, um eine Beweisaufnahme zu rechtfertigen.
27
bb) Auch die von der Klagepartei in Bezug genommenen Messungen der D.Umwelthilfe bzw. des ADAC sind keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung. Denn nach der Rechtsprechung des BGH ist eine Abweichung der Messwerte im Realbetrieb von den Messwerten nach dem NEFZ als Indiz für eine Abschalteinrichtung, und noch dazu für eine Manipulationssoftware, die die Voraussetzungen des § 826 BGB erfüllen könnte, angesichts der unstreitigen gravierenden Unterschiede der Bedingungen, unter denen die Messungen erfolgen, ungeeignet (BGH, Beschluss vom 15.9.2021 – VII ZR 2/21, Rz. 30). Im übrigen ist darauf zu verweisen, dass das eng bedatete Thermofenster (dazu oben I.2 und unten II.2) einen erhöhten Schadstoffausstoß im Realbetrieb nahelegt.
28
cc) Der Vorwurf der Klagepartei, die Beklagte habe mittels eines manipulierten On-Board-Diagnosesystems (OBD) getäuscht, rechtfertigt nicht die Annahme eines Anspruchs aus § 826 BGB. Die Annahme, dass das OBD selbst eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt, wäre angesichts der Tatsache, dass Aufgabe eines Diagnosesystems nur die Anzeige von (Fehl-)Funktionen ist, fernliegend. Selbst wenn die konkrete Ausgestaltung des OBD gegen gesetzliche Vorschriften verstoßen würde, ergäbe sich aus diesem Befund allein nicht der Vorwurf verwerflichen Verhaltens gegenüber der Klagepartei. Eine – unterstellte – Manipulation des OBD-Systems stellt auch kein Indiz für die Verschleierung einer im Bewusstsein der Unzulässigkeit installierte unzulässigen Abschalteinrichtung dar. Denn wenn die Beklagte eine in Rede stehende Programmierung des Abgassystems für zulässig hielt, hat sie naturgemäß dafür Sorge getragen, dass beim korrekten Arbeiten des Systems nach dieser Programmierung keine Fehlermeldung erscheint.
29
II. Hingegen steht der Klagepartei im Zusammenhang mit dem Erwerb des gegenständlichen Fahrzeugs ein Schadensersatzanspruch in der zuerkannten Höhe nebst Rechtshängigkeitszinsen aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 6, 27 EG-FGV zu.
30
1. Der Bundesgerichtshof hat kürzlich entschieden (Urteile vom 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, VIa ZR 53/21 und VIa ZR 1031/22), dass dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 versehenen Kraftfahrzeugs unter den Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 BGB i.V. mit §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch gegen den Fahrzeughersteller auf Ersatz des Differenzschadens zustehen kann. Die Haftung knüpft an die Erteilung einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung an (BGH, Urteil vom 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, Rz. 28 ff.). Der Fahrzeughersteller kann hiernach auch dann haften, wenn er den Motor eines anderen Herstellers verwendet hat (BGH, Urteil vom 8.10.2023 – VIa ZR 26/21).
31
2. Das streitgegenständliche Fahrzeug verfügt über eine unzulässige Abschalteinrichtung in Gestalt des unstreitig verbauten Thermofensters. Dabei legt der Senat zugunsten der Beklagten deren Vortrag zugrunde, dass das Thermofenster eine vollständige Abgasreinigung nur zwischen +5°C und +38°C gewährleistet.
32
Nach Art. 3 Nr. 10 der VO Nr. 715/2007/EG ist Abschalteinrichtung „ein Konstruktionsteil, das die Temperatur … ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind“, reduziert. Nach dieser Definition handelt es sich bei dem Thermofenster, bei welchem die Abgasrückführung bei Umgebungstemperaturen von unter +5°C reduziert wird, um eine Abschalteinrichtung. Temperaturen in diesem Bereich treten im Unionsgebiet allgemeinkundig häufig auf. Die Abgasrückführung wird daher temperaturabhängig (auch) unter Fahrbedingungen reduziert, die vernünftigerweise zu erwarten sind.
33
Es handelt sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der genannten Verordnung. Das Thermofenster führt temperaturabhängig zu einer Verringerung der Wirkung der Abgasrückführung und ist damit grundsätzlich unzulässig. Eine Ausnahme nach lit. a) – c) der Vorschrift greift vorliegend nicht. Ernsthaft in Betracht käme nur, dass die Funktion erforderlich wäre, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten (lit. a)). Diese beiden Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (EuGH, Urteil vom 21.3.2023 -C-101/21, Rz. 22). Nicht notwendig in diesem Sinn ist eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Bedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten (EuGH a.a.O. Rz. 65, 66). So liegt es hier.
34
Denn der Gerichtshof der Europäischen Union hat der Verordnung 715/2007/EG mit Blick auf deren Ziel für Ausnahmen nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung den ungeschriebenen Ausschlussgrund einer motorschützenden Aktivierung der Abschalteinrichtung während des überwiegenden Teils des Jahres statuiert. Um diesen Ausschlussgrund zu widerlegen und die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung darzulegen, müsste die (für die ausnahmsweise Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung darlegungspflichtige) Beklagte substantiiert vortragen, dass das Thermofenster unter normalen Betriebsbedingungen nicht den überwiegenden Teil eines Jahres aktiv sein müsste, damit der Motor vor Beschädigungen oder Unfall geschützt ist. Denn eine Rechtfertigung der Abschalteinrichtung mit Gründen des Motorschutzes ist ausgeschlossen, wenn die Abschalteinrichtung unter Bedingungen aktiviert ist, die innerhalb eines Jahres üblicherweise während in ihrer Summe längerer Zeitintervalle herrschen, als dies nicht der Fall ist (OLG Karlsruhe, Urteil vom 13.12.2023 – 6 U 198/20, Rz. 137; Urteil vom 28.2.2024 – 6 U 45/21, Rz. 96).
35
Aus Sicht des Senats reicht hierfür der oben genannte Temperaturbereich nicht aus, denn bezogen auf das ganze Unionsgebiet und damit unter Einbeziehung etwa der nördlichen Teile von Schweden oder Finnland sind im Herbst, Winter und Frühling und damit im überwiegenden Teil eines Jahres Temperaturen unter +5°C üblich. Entgegen der in der mündlichen Verhandlung vom 26.6.2024 geäußerten Ansicht der Beklagten (vgl. Protokoll vom 26.6.2024, Bl. 424 ff. der Akten, dort S. 2 f.) kommt es dabei auch nicht auf die in Finnland vorherrschende Durchschnittstemperatur bzw. die Mediantemperatur an, die nach dem Beklagtenvortrag bei +6°C liege. Insoweit kann schon nicht – wie die Beklagte es aber meint – auf die auf ganz Finnland bezogene Durchschnitts- bzw. Mediantemperatur abgestellt werden. Denn dies würde dazu führen, dass die Abgasrückführung bei ansonsten identischen Fahrtumständen wegen der allgemein bekannt in Nordfinnland (z.B. in Kiruna, wo ausweislich Wikipedia die mittlere Tagestemperatur von Oktober bis einschließlich April unter dem Gefrierpunkt liegt) im Vergleich zu Südfinnland (z.B. Turku) vorherrschenden niedrigeren Temperaturen in Nordfinnland über einen, auf das ganze Jahr betrachtet überwiegenden Zeitraum nicht oder nur eingeschränkt aktiv wäre. Das wiederum würde in Nordfinnland gegenüber Südfinnland erhöhten Stickstoffausstoß bedeuten.
36
Es ist aber nicht zu erkennen, warum der mit Art. 5 VO 715/2007/EG beabsichtigte Schutz der Umwelt in Nordfinnland geringer ausfallen solle als im restlichen Finnland bzw. dem übrigen Unionsgebiet (siehe dazu auch Erwägungsgrund 1 und Erwägungsgrund 27 der Verordnung 715/2007/EG, denen zufolge durch die Verordnung die Vorschriften harmonisiert werden, um den Binnenmarkt zu vollenden und ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen). Eine „weitere Aufsplitterung des räumlichen Bezugspunktes (z.B. letztes Dorf vor der russischen Grenze)“ – um es mit den Worten des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung vom 26.6.2024 auszudrücken – ist daher sehr wohl veranlasst. Die unionsrechtlichen Vorgaben sind im gesamten Unionsgebiet zu erfüllen (siehe auch Art. 191 Abs. 3 AEUV, wonach die Union bei der Erarbeitung ihrer Umweltpolitik die Umweltbedingungen in den einzelnen Regionen der Union berücksichtigt).
37
Im übrigen ist die von der Beklagten angeführte Temperatur auch deshalb irrelevant, weil es sich dabei offensichtlich um die Jahresdurchschnittstemperatur handelt. Diese lässt jedoch keinen Rückschluss darauf zu, welche Temperaturen im Jahresverlauf auftreten. Auf letztgenannte Temperaturen ist aber abzustellen, um feststellen zu können, ob infolge des Temperaturfensters die Abgasrückführung den überwiegenden Teil des Jahres uneingeschränkt aktiv ist.
38
3. Voraussetzung für einen Anspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V. mit §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV ist ein schuldhaftes Handeln des Anspruchsgegners, wobei ein fahrlässiger Verstoß genügt (BGH, Urteil vom 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, Rz. 36, 38). Es besteht eine von der objektiven Schutzgesetzverletzung ausgehende Verschuldensvermutung, die von der Beklagten ausgeräumt werden muss (BGH, a.a.O. Rz. 59). Insbesondere ist die Beklagte darlegungs- und beweisbelastet sowohl für einen Verbotsirrtum als auch für dessen Unvermeidbarkeit (BGH, a.a.O. Rz. 63). Die Ausräumung der Verschuldensvermutung ist der Beklagten vorliegend nicht gelungen.
39
Die Verneinung eines Verschuldens unter dem Gesichtspunkt eines unvermeidbaren Verbotsirrtums setzt zunächst einen solchen Irrtum der Beklagten voraus (BGH, Urteil vom 27.11.2023 – VIa ZR 1425/22, Rz. 32). Vorliegend kann auf der Basis des Beklagtenvortrags schon nicht davon ausgegangen werden, dass die satzungsmäßigen Organe (Vorstandsmitglieder) und die ihnen nach § 31 BGB gleichstehenden leitenden Mitarbeiter der Beklagten einem Verbotsirrtum unterlagen. Dazu müsste die Beklagte darlegen und erforderlichenfalls beweisen, dass sich sämtliche ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit der gegenständlichen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 22 der Verordnung Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im maßgebenden Zeitpunkt im Irrtum befanden oder im Falle der Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (BGH, Urteil vom 25.9.2023 – VIa ZR 1/23, Rz. 14). Diesen Anforderungen wird der pauschale Beklagtenvortrag nicht gerecht. Insoweit wird nur auf das Vorstellungsbild „der Beklagten“, „der zuständigen Mitarbeiter“ oder „der für die Einhaltung der regulatorischen Vorgaben zuständigen Organisationseinheiten“ abgestellt. Aus diesem Vortrag lässt sich kein Rückschluss darauf ziehen, ob und gegebenenfalls welche Vorstellungen sich die (sämtlichen) haftungsrechtlichen Organe im Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses von der Rechtmäßigkeit des konkreten Thermofensters gemacht haben.
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Da somit schon ein Verbotsirrtum als solcher nicht hinreichend dargelegt ist, kommt es auf die Frage von dessen Vermeidbarkeit nicht an.
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4. Der dem Kläger zuzuerkennende Schadensersatzbetrag beläuft sich auf 5.873,82 €.
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a) Der Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB ist auf den Ersatz des sogenannten Differenzschadens gerichtet (BGH, Urteil vom 26.6.2023- VIa ZR 5/21, Rz. 39 ff.). Es handelt sich um das rechnerische Minus, welches sich daraus ergibt, dass der objektive Wert des erworbenen Fahrzeugs hinter dem Kaufpreis zurückbleibt (a.a.O. Rz. 40). Abzustellen ist dabei auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses (a.a.O. Rz. 41).
43
Die Höhe dieses Schadens ist nach § 287 ZPO zu schätzen, und zwar im Bereich zwischen 5% und 15% des Kaufpreises (a.a.O.Rz. 42, 43). Dabei ist insbesondere auf das Risiko behördlicher Anordnungen in Bezug auf die Nutzbarkeit des Fahrzeugs, vor allem auf Umfang und Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Betriebsbeschränkungen im Zeitpunkt des Vertrages abzustellen (a.a.O. Rz. 76). Ferner ist, um dem europarechtlichen Gebot hinreichender Sanktionierung Rechnung zu tragen, auf das Gewicht des Rechtsverstoßes und den Grad des Verschuldens abzustellen (a.a.O. Rz. 77). Der Erholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es nicht (a.a.O. Rz. 78).
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Der Senat schätzt nach diesen Grundsätzen den Differenzschaden vorliegend auf 10% des Kaufpreises. Auszugehen ist insoweit von einem nicht unbeträchtlichen, aber nur fahrlässigen Verstoß gegen die europarechtlichen Anforderungen. Andererseits erschien im Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses das Risiko behördlicher Nutzungsbeschränkungen angesichts der Genehmigungspraxis des Kraftfahrzeugbundesamtes eher gering. Dem Senat erscheint es daher angemessen, sich in der Mitte des vorgegebenen Rahmens zu halten. Dies ergibt bei einem Kaufpreis von 58.738,19 € im Ausgangspunkt einen klägerischen Schaden von 5.873,82 €.
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b) Gegenzurechnen sind allerdings die Vorteile, die die Klagepartei aus dem erworbenen Fahrzeug gezogen hat. Dies sind der Restwert des klägerischen Fahrzeugs und die von ihm gezogenen Nutzungsvorteile (jeweils nach dem Stand der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung), allerdings nur, soweit die Summe dieser Positionen den wahren Wert des Fahrzeugs bei Vertragsschluss (Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigt (BGH, a.a.O. Rz. 79).
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Der wahre Wert des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses betrug (58.738,19 – 5.873,82 =) 52.864,37 €.
47
Die von der Klagepartei gezogenen Nutzungsvorteile betragen 13.085,11 €. Der Kläger ist mit dem Fahrzeug 66.831 km gefahren (km-Stand bei Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung 66.831 – km-Stand bei Erwerb 0). Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung von einer Gesamtfahrleistung bei Dieselfahrzeugen von 300.000 km aus. Folglich war bei Erwerb des Fahrzeugs durch die Klagepartei eine mögliche Restfahrleistung von 300.000 km (300.000 – 0) zu erwarten. Der von der Klagepartei gezogene Nutzungsvorteil ergibt sich daher bei einem Kaufpreis von 58.738,19 € nach der Formel Kaufpreis x gefahrene Kilometer zu Restfahrleistung (= 58.738,19 x 66.831 : 300.000).
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Hinsichtlich des Restwerts des Fahrzeugs geht der Senat vom Händlereinkaufspreis gemäß Gebrauchtwagenbewertung erstellt mit SilverDAT aus (§ 287 ZPO). Dabei handelt es sich nach Auffassung des Senats um denjenigen Betrag, den der Verkäufer eines Gebrauchtwagens bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge zu erzielen vermag, zumal sich in Zeiten weitestgehender Verbreitung des Internets nicht nur gewerbliche, sondern auch private Gebrauchtwagenkäufer bei lebensnaher Würdigung an den im Internet verfügbaren KFZ-Bewertungsmöglichkeiten orientieren werden. – Vorliegend ergab die SilverDAT-Abfrage einen aktuellen Restwert des Fahrzeugs von 19.644,95 €.
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Die Nutzungsvorteile von 13.085,11 € und der Restwert von 19.644,95 € (zusammen 32.730,06 €) übersteigen den wahren Wert des Fahrzeugs bei Vertragsschluss (52.864,37 €) nicht. Es verbleibt daher bei einem Schaden von 5.873,82 €.
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An diesem Ergebnis würde sich nichts ändern, wenn man anstelle des über DAT-Abfrage ermittelten Restwert den von der Beklagten behaupteten Restwert von 27.990,- € ansetzen würde. Auch dann übersteigen Nutzungsvorteile und Restwert (zusammen 41.075,11 €) den wahren Wert des Fahrzeugs bei Vertragsschluss nicht.
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5. Der oben dargestellte Schutzgesetzverstoß der Beklagten ist kausal für diesen Schaden. Die Lebenserfahrung streitet dafür, dass die Klagepartei das Fahrzeug nicht zu dem gezahlten Preis erworben hätte, wenn sie gewusst hätte, dass es aufgrund der unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung 10% weniger wert ist. Ob die Klagepartei von der rechtlichen Bedeutung der Übereinstimmungsbescheinigung wusste oder deren Existenz zur Kenntnis genommen hat, ist für diese Wertung irrelevant.
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6. Die diesbezügliche Zinsentscheidung folgt aus §§ 288, 291 BGB.
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III. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten. Ein Anspruch aus § 826 BGB, in dessen Rahmen er geltend gemacht werden könnte, besteht nicht (vgl. oben). Neben der Geltendmachung des Differenzschadens kommt ein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten nicht in Betracht (BGH, Urteil vom 16.10.2023 – VIa ZR 14/22, Rz. 13). Die vorgerichtliche Geltendmachung des nicht bestehenden Anspruchs auf Rückabwicklung stellt keine zweckentsprechende Rechtsverfolgung dar.
C.
54
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 92, 97 ZPO.
55
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
56
Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Zu würdigen waren vielmehr die Umstände des Einzelfalles.
57
Der Streitwert wurde vorliegend gestaffelt nach dem Wert des ursprünglich angekündigten bzw. dem schließlich gestellten Antrag des Berufungsführers festgesetzt. Nur diese Staffelung bildet den Verfahrensverlauf zutreffend ab, zumal sich die Rechtsanwaltsgebühren nach der gerichtlichen Streitwertfestsetzung richten und die Terminsgebühr naturgemäß nur aus dem im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblichen Streitwert entstehen kann (vgl. insbes. auch Schindler, in: Dörndorfer u.a., Beck OGK Kostenrecht, 45. Aufl., § 40 GKG Rz. 13). Dass sich der Streitwert für die Bemessung der Gerichtsgebühren nach § 40 GKG nach dem Wert zu Beginn der Instanz bemisst, hindert aus dem dargestellten Grund eine gestaffelte Streitwertfestsetzung von Amts wegen ebenso wenig wie die Tatsache, dass dies nach § 33 RVG auch auf Antrag geschehen kann. Dem Senat ist bewusst, dass einige Oberlandesgerichte dies anders sehen und nur auf Antrag eine gestaffelte Streitwertfestsetzung vornehmen. Dem folgt der Senat aus den dargestellten Gründen nicht. Eine Divergenzvorlage oder eine Zulassung der Rechtsbeschwerde sieht das Gesetz nicht vor (vgl. §§ 66 Abs. 3 S. 3, 68 Abs. 1 S. 5 GKG).