Inhalt

AG Dachau, Endurteil v. 03.07.2024 – 2 C 67/24
Titel:

Entgegenstehende Rechtskraft der Abweisung einer auf großen Schadensersatz gerichteten Klage bezüglich späterer Geltendmachung des Differenzschadens

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO 322
Leitsatz:
Ist der Streitgegenstand des Erstprozesses mit demjenigen des Zweitprozesses identisch, so ist die Rechtskraft des Urteils im Erstprozess eine negative Prozessvoraussetzung des Zweitprozesses mit der Folge, dass die neue Klage bereits unzulässig ist. Dies ist auch im Fall der rechtskräftigen Abweisung einer auf großen Schadensersatz gerichteten Klage bezüglich der späteren Geltendmachung des Differenzschadens zu bejahen, da eine Konstellation gegeben ist, welche mit derjenigen bei Identität der Streitgegenstände vergleichbar ist. (Rn. 19 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Thermofenster, entgegenstehende Rechtskraft, unzulässige Abschaltvorrichtung, Differenzschaden
Fundstelle:
BeckRS 2024, 16265

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III.    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger verlangt von der Beklagten in Folge des Erwerbs eines Dieselfahrzeugs der Marke … Schadensersatz.
2
Der Kläger erwarb am 24.07.2017 ein Fahrzeug der Marke … vom Typ … mit der FIN … zum Bruttopreis von 30.779,00 € bei dem … M. … Beim Kauf wies das Fahrzeug einen Kilometerstand von 68.322 km auf.
3
Die Beklagte stellte als Fahrzeugherstellerin für das streitgegenständliche Fahrzeug eine EG-Übereinstimmungserklärung aus, insbesondere im Hinblick auf die zur Abgasreinigung verbaute temperaturabhängige Abgasrückführung (sog. Thermofenster).
4
Der Kläger führte gegen die Beklagte bereits einen Rechtsstreit vor dem Landgericht … (Aktenzeichen …). In der letzten mündlichen Verhandlung vom 31.08.2021 beantragte er, die Beklagte zur Zahlung von 30.005,22 € Zug-um-Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs der Marke … mit der FIN … nebst zwei Fahrzeugschlüsseln, Kfz-Schein und Serviceheft, zu verurteilen.
5
Das Landgericht … wies am 16.11.2021 durch Endurteil die Klage ab, da sie nicht begründet sei. Dem Kläger stünden gegen die Beklagte keinerlei Ansprüche wegen der behaupteten unzulässigen Abschalteinrichtungen im streitgegenständlichen Fahrzeug zu. Das Landgericht … führte in seinen Entscheidungsgründen insbesondere aus, dass es für sämtliche vom Kläger ins Feld geführten und theoretisch in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen jedenfalls an der anspruchsbegründenden Kausalität zwischen einer – wenn auch nur unterstellten – Täuschungshandlung seitens der Beklagten und dem Kaufentschluss des Klägers, der letztlich zu dem von ihm behaupteten Schaden geführt haben solle, fehle.
6
Das Urteil des Landgerichts vom 16.11.2021 erwuchs durch den Verlustigkeitsbeschluss des Oberlandesgerichts … vom 05.04.2022 in Rechtskraft.
7
Der Kläger veräußerte das streitgegenständliche Fahrzeug am 6. Juli 2022 zu einem Preis von 14.687,00 € weiter. Zum Zeitpunkt der Weiterveräußerung belief sich der Kilometerstand des Fahrzeugs auf 95.432 km.
8
Einen verpflichtenden Rückruf des Kraftfahrt Bundesamtes gab es bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung für das streitgegenständliche Fahrzeug bzw. entsprechende Fahrzeuge nicht.
9
Der Kläger meint, er habe gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV i.V.m. Art. 18 der RL 2007/46/EG i.V.m Art. 5 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
10
Die Beklagte habe schuldhaft gegen § 6 Abs. 1 S. 1 EG-FGV i.V.m. Art. 18 und 28 der RL 2007/46/EG verstoßen, da sie ein Fahrzeug auf den Markt gebracht habe, das den Anforderungen der einschlägigen Rechtsakte widersprochen habe. Hierdurch habe der Kläger einen Schaden erlitten, da er ein objektiv minderwertiges Fahrzeug erhalten habe und sein Vertrauen in die Richtigkeit der Angaben aus der EG-Übereinstimmungserklärung verletzt worden sei.
11
Der Kläger beantragt wie folgt zu erkennen:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Entschädigungsbetrag bezüglich des Fahrzeugs der Marke … mit der Fahrzeugidentifikationsnummer … zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, der jedoch mindestens 4.616,85 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit betragen muss.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten des Klägers entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 659,74 € freizustellen.
12
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
13
Die Beklagte trägt vor, es handele sich bei dem verbauten Thermofenster – wenn überhaupt – um eine zulässige Abschalteinrichtung. Die behauptete Mangelhaftigkeit des streitgegenständlichen Fahrzeugs sei zudem für die Erwerbsentscheidung des Klägers nicht relevant gewesen. Die Beklagte habe bzgl. einer unterstellten rechtlichen Unzulässigkeit des im streitgegenständlichen Fahrzeug implementierten Thermofensters zum Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses jedenfalls einem Irrtum unterlegen.
14
Dem Kläger sei durch die Beklagte jedenfalls kein Schaden entstanden, da das streitgegenständliche Fahrzeug schon keinen von der Beklagten verursachten merkantilen Minderwert aufweise, allenfalls aber nach den Grundsätzen der Vorteilsanrechnung vollständig entfalle.
15
Die Beklagte meint, dass die hiesige Klage bereits unzulässig sei, da ihr mit dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts … vom 16.11.2021, Aktenzeichen …, eine negative Prozessvoraussetzung entgegenstehe.

Entscheidungsgründe

I.
16
Die Klage ist bereits unzulässig.
17
1. Das Amtsgericht Dachau ist sachlich nach § 1 ZPO i.V.m §§ 71 Abs. 1, 23 Nr. 1 GVG in Anbetracht des Streitwerts und mangels streitwertunabhängiger Zuweisung zuständig. Die örtliche Zuständigkeit folgt aus § 29 ZPO.
18
2. Der Zulässigkeit der Klage steht jedoch die Rechtskraft des Urteils des Landgerichts … vom 16.11.2021, Aktenzeichen …, aus dem vorangegangenen Erstprozess als negative Prozessvoraussetzung entgegen.
19
Ist der Streitgegenstand des Erstprozesses mit demjenigen des Zweitprozesses identisch, so ist die Rechtskraft des Urteils im Erstprozess eine negative Prozessvoraussetzung des Zweitprozesses mit der Folge, dass die neue Klage bereits unzulässig ist. Liegt eine solche Identität der Streitgegenstände nicht vor, so hat das rechtskräftige Urteil im Erstprozess zwar grundsätzlich nicht die Unzulässigkeit der Klage im Zweitprozess zur Folge. Jedoch ist das später entscheidende Gericht an die Vorentscheidung gebunden.
20
Zwar sind die Streitgegenstände des Verfahrens vor dem Landgericht … vom 16.11.2021, Aktenzeichen … und des hiesigen Verfahrens bei formaler Betrachtung nicht identisch. Jedoch ist die vorliegende Konstellation mit derjenigen vergleichbar, in der eine Identität der Streitgegenstände gegeben ist, sodass die Rechtskraft des Urteils des Landgerichts … vom 16.11.2021, Aktenzeichen … Die bereits der Zulässigkeit der hiesigen Klage entgegensteht.
21
a) Bei formaler Betrachtung sind der hiesige Streitgegenstand und der Streitgegenstand des Verfahrens vor dem Landgericht … vom 16.11.2021, Aktenzeichen …, nicht im Sinne des zweigliedrigen Streitgetgenstandsbegriffs identisch, da sich die Klageanträge unterscheiden.
22
Nach dem heute vorherrschenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff ist Gegenstand des Rechtsstreits der als Rechtsschutzbegehren oder Rechtsfolgenbehauptung aufgefasste eigenständige prozessuale Anspruch, welcher durch den Klageantrag und den Lebenssachverhalt, aus welchem der Kläger die von ihm begehrte Rechtsfolge herleitet, bestimmt wird.
23
Hiernach wäre von Streitgegenstandsverschiedenheit bereits deswegen auszugehen, da das hiesige Klagebegehren gegenüber dem Klagebegehren aus dem Erstprozess quantitativ beschränkt ist. Denn während der Kläger im Erstprozess beantragt hat, die Beklagte zur Zahlung von 30.005,22 € Zug-um-Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs der Marke … mit der FIN … nebst zwei Fahrzeugschlüsseln, Kfz-Schein und Serviceheft, zu verurteilen, beantragt der Kläger im hiesigen Prozess nur noch, die Beklagte zur Zahlung von 4.616,85 € zu verurteilen.
24
b) Die Rechtskraft der Vorentscheidung steht der Zulässigkeit der Klage aber auch bei Konstellationen entgegen, die mit derjenigen vergleichbar, in der auch der Klageantrag identisch ist und daher eine Identität der Streitgegenstände nach dem zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff unzweifelhaft gegeben ist.
25
Sinn und Zweck der materiellen Rechtskraft ist es, den Bestand einer einmal getroffenen, unanfechtbaren Entscheidung zu sichern. Es soll verhindert werden, dass durch eine erneute Anrufung des Gerichts versucht wird, eine von der ursprünglichen abweichende Entscheidung herbeizuführen, und so der durch das Urteil zwischen den Parteien hergestellte Rechtsfrieden gefährdet wird. Dieser Sinn und Zweck greift nicht nur dann, wenn die Streitgegenstände des Erstprozesses und des Zweitprozesses formal vollständig identisch sind, sondern auch dann, wenn der Kläger nach einem klageabweisenden Ersturteil nunmehr im Zweitprozess erneut im Wege der Zahlungsklage einen gegenüber dem Geldbetrag der Zahlungsklage aus dem Erstverfahren geringeren Geldbetrag auf gleicher Sachverhaltsgrundlage geltend macht. Denn auch in diesem Fall versucht der Kläger, eine von der ursprünglichen Entscheidung abweichende Entscheidung durch eine erneute Anrufung des Gerichts herbeizuführen und stellt damit die durch das Erstgericht getroffene Entscheidung in vergleichbarer Weise in Frage wie bei der erneuten Geltendmachung des identischen Klagebegehrens in einem Zweitprozess. Es soll aber nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes gerade vermieden werden, dass sich widersprechende Entscheidungen in Bezug auf die gleiche Anspruchsgrundlage bestehen.
26
c) Folglich ist hier eine Konstellation anzunehmen, welche mit derjenigen bei Identität der Streitgegenstände vergleichbar ist, sodass die Rechtskraft des Urteils des Landgerichts … vom 16.11.2021, Aktenzeichen …, bereits der Zulässigkeit der hiesigen Klage entgegensteht.
27
So wurde im Erstprozess rechtskräftig festgestellt, dass der vom Kläger geltend gemachte große Schadensersatzanspruch nicht besteht. Damit wurde gleichzeitig rechtskräftig festgestellt, dass die begehrte Rechtsfolge unter keiner der theoretisch in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zugesprochen werden kann.
28
Hätte der Kläger in demselben Verfahren statt des ursprünglich begehrten sog. großen Schadensersatz nunmehr den sog. kleinen Schadensersatz beantragt, hätte es sich um eine stets zulässige Klageänderung i.S.d § 264 Nr. 2 Alt. 2 ZPO gehandelt, da das geänderte Klagebegehren vom bisherigen Begehren als inhaltsgleiches Minus mit umfasst war. Das Gericht hätte in dem Fall sogar eine gegenüber dem ursprünglichen Antrag beschränkte Rechtsfolge im Sinne des § 264 Nr. 2 ZPO auch ohne Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO und auch ohne ausdrückliche Änderung des Antrags zusprechen können.
29
Auch wenn ein solcher Ausspruch zum kleinen Schadensersatz im Rahmen des Erstverfahrens nicht erfolgt ist, ist der Entscheidung des Gerichts dennoch immanent, dass der begehrte Anspruch weder gerichtet auf großen noch auf kleinen Schadensersatz besteht. Durch das Ersturteil wurde vielmehr rechtskräftig entschieden, dass die durch das Gericht verneinte Rechtsfolge unter allen möglichen Gesichtspunkten weder im vollen Umfang noch in einem entsprechend § 264 Nr. 2 Alt. 2 ZPO beschränkten Umfang in Betracht kommt.
30
Da der Kläger im Zweitprozess nun unter Berufung auf das im Erstprozess bereits vorgebrachte Schadensersatzverlangen eine Rechtsfolge fordert, die gegenüber der ursprünglich begehrten Rechtsfolge lediglich entsprechend § 264 Nr. 2 Alt. 2 ZPO beschränkt ist, verfolgt er mit der hiesigen Klage im Ergebnis das Ziel, die durch das Ersturteil herbeigeführten Folgen unter Negierung des Ergebnisses des Ersturteils rückgängig zu machen. Der hiesige Rechtsstreit erschöpft sich damit im Ergebnis in der Auseinandersetzung mit solchen Fragen, die sämtlich bereits Gegenstand des Erstprozesses waren.
31
Der Kläger hat vorliegend keinerlei Umstände vorgetragen, aus denen sich ergibt, dass der hiesigen Klage nunmehr ein gegenüber dem Urteil des Landgerichts … vom 16.11.2021 abweichender Lebenssachverhalt zugrunde liegt. Vielmehr ist die hiesige Zahlungsklage auf der Grundlage des schon im Urteil des Landgerichts … vom 16.11.2021, Aktenzeichen …, zugrunde liegenden Lebenssachverhalts erhoben, da beide Klagen auf Schadensersatzansprüche gerichtet sind, die auf dieselbe Pflichtverletzung gestützt werden und somit bei dem Übergang von einem Anspruch gerichtet auf „großen“ zu einem Anspruch gerichtet auf „kleinen“ Schadensersatz kein unterschiedlicher Lebenssachverhalt zugrunde liegt. Der zwischenzeitliche Verkauf des Fahrzeugs spielt insofern keine Rolle.
32
Legt man dies zugrunde, erscheint es gerechtfertigt, diesen Fall unter Berücksichtigung des Sinn und Zwecks der materiellen Rechtskraft nicht anders zu behandeln als denjenigen, in dem der Streitgegenstand des Erstprozesses bei formaler Betrachtung mit einem gleichlautenden Klageantrag erneut geltend gemacht wird. Die Klage ist daher unzulässig, da ihr die Rechtskraft des Urteils des Landgerichts Ingolstadt vom 16.11.2021, Aktenzeichen 21 O 1704/20, entgegensteht.
II.
33
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
34
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
35
War die Klage auf großen Schadensersatz für ein Dieselfahrzeug rechtskräftig abgewiesen, ist eine nun auf den sogen. kleinen Schadensersatz gerichtete neue Klage bereits wegen entgegenstehender Rechtskraft unzulässig.