Inhalt

OLG Bamberg, Urteil v. 23.01.2024 – 10 U 67/22
Titel:

Kein Differenzschaden wegen des Einbaus unzulässiger Abscahlteinrichtungen in ein Dieselfahrzeug bei umfassendem Vorteilsausgleich

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 287
Leitsätze:
1. Der Restwert des Fahrzeugs ist im Wege der Vorteilsausgleichung auf den „Differenzschaden“ ohne Rücksicht darauf anzurechnen, ob er durch eine Weiterveräußerung realisiert worden ist. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auf den Differenzschaden eines vorsteuerabzugsberechtigten Käufers ist die beim Fahrzeugkauf angefallene Umsatzsteuer im Wege der Vorteilsausgleichung anzurechnen. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Einschätzung der Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs (hier: 250.000 km) ist nicht lediglich auf den Motor, sondern auf das Fahrzeug in seiner Gesamtheit abzustellen, wobei die höhere Motorlaufleistung heutiger Kraftfahrzeuge durch die Störungsanfälligkeit der verbauten Elektronik negativ kompensiert wird. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der vollständige Wegfall des Anspruchs auf den „Differenzschaden“ durch Vorteilsausgleichung ist zulässig und begegnet keinen rechtlichen Bedenken. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, OM 651, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, Betriebsmodi zur Eindüsung von Reagens (AdBlue), Differenzschaden, Vorteilsausgleichung, Restwert, Gesamtlaufleistung
Vorinstanz:
LG Hof, Urteil vom 03.06.2022 – 32 O 365/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 1624

Tenor

(abgekürzt – ohne Tatbestand – nach §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO)
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Hof vom 03.06.2022 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 19.06.2022, Aktenzeichen 32 O 365/21, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das Urteil des Landgerichts Hof ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klägerin nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin auf Ersatz des sog. „Differenzschadens“ wegen Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung in Anspruch.
2
Die vorsteuerabzugsberechtigte Klägerin erwarb mit Bestellung vom 01.04.2016 für ihr Taxiunternehmen von der Beklagten ein Fahrzeug Mercedes Benz V. Tourer zum Kaufpreis von 46.628,96 €. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgestattet. In die Steuerung des Motors sind ein sog. „Thermofenster“ sowie eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung implementiert. Die Abgasanlage des Fahrzeugs ist mit einem SCR-Katalysator ausgestattet. In Abhängigkeit verschiedener Parameter werden beim Betrieb dieses Katalysators zwei unterschiedliche Betriebsmodi zur Eindüsung von Reagens (AdBlue) verwendet. Das Fahrzeug wurde vom Kraftfahrt-Bundesamt mit Bescheid vom 03.08.2018 zurückgerufen. Zum Zeitpunkt des Kaufs betrug der Kilometerstand des Fahrzeugs 0 km, zum 22.01.2024 betrug die Laufleistung 98.776 km.
3
Das Landgericht hat die in erster Instanz auf den sog. „kleinen“ Schadensersatz in Höhe von 20% des Kaufpreises gerichtete Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihr „Anspruchsziel umgestellt“ (Schriftsatz vom 05.01.2024, Seite 2) und macht nunmehr ausschließlich einen „Differenzschaden“ in Höhe von 15% des Kaufpreises geltend.
II.
4
Die Berufung der Klägerin bleibt ohne Erfolg. Der zuletzt im Berufungsverfahren ausschließlich geltend gemachte Anspruch auf den sog. „Differenzschaden“ besteht jedenfalls deswegen nicht, weil der Schaden durch die vorzunehmende Vorteilsausgleichung vollständig aufgezehrt ist. Der Senat kann daher im Streitfall offenlassen, ob im Fahrzeug der Klagepartei unzulässige Abschalteinrichtungen vorhanden sind, und ob sich die Beklagte auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen kann.
5
1. Zwar kann dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs grundsätzlich ein Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV gegen den Fahrzeughersteller zustehen, wenn und soweit ihm aufgrund des Vertragsschlusses ein Vermögensschaden nach Maßgabe der Differenzhypothese (sog. „Differenzschaden“), entstanden ist (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 28 ff.). Es bedarf im Streitfall keiner Entscheidung darüber, ob ein derartiger Anspruch dem Grunde nach besteht, denn ein etwaiger Anspruch wäre jedenfalls der Höhe nach vollständig durch anzurechnende Vorteile aufgezehrt.
6
2. Die Höhe des Differenzschadens ist unter Beachtung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Streitfalls nach § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu schätzen (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 71 f.). Für den Differenzschaden kommt es nicht darauf an, ob die Klagepartei das Fahrzeug zur gewerblichen Nutzung erworben hat (BGH, Urteil vom 20.11.2023, VIa ZR 1/21, juris Rn. 13; Urteil vom 20.11.2023, VIa ZR 661/21, juris Rn. 11). Ausgangspunkt für die Bemessung des Differenzschadens ist der gezahlte Kaufpreis (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 73; Urteil vom 13.11.2023, VIa ZR 1065/22, juris Rn. 13).
7
Der von der Klägerin gezahlte Kaufpreis beträgt 46.628,96 €. Aus diesem Kaufpreis macht die Klagepartei einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 15%, mithin einen Anspruch in Höhe von 6.994,34 € geltend. Zu Gunsten der Klägerin kann unterstellt werden, dass dies die angemessene Höhe des „Differenzschadens“ ist.
8
3. Auf den „Differenzschaden“ muss sich die Klägerin allerdings die von ihr erlangten Vorteile im Wege der Vorteilsausgleichung anrechnen lassen. Insofern gelten die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zum „kleinen“ Schadensersatz nach § 826 BGB sinngemäß (BGH, Urteil vom 24.07.2023, VIa ZR 752/22, NJW 2023, 3010 Rn. 12; vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 80; Urteil vom 24.10.2023, VI ZR 131/20, MDR 2024, 107 Rn. 51). Die Höhe der anzurechnenden Vorteile kann nach § 287 ZPO geschätzt werden (BGH, Urteil vom 24.07.2023, VIa ZR 752/22, juris Rn. 12).
9
a) Auf den „Differenzschaden“ ist, entgegen der im Schriftsatz vom 05.01.2024 unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts (Urteil vom 06.10.2023, Az.: 3 U 183/21) vertretenen Auffassung der Klägerin, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zunächst der Restwert des Fahrzeugs anzurechnen (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 80; Urteil vom 24.10.2023, VI ZR 131/20, MDR 2024, 107 Rn. 51). Der Restwert des Fahrzeugs ist im Wege der Vorteilsausgleichung auf den „Differenzschaden“ ohne Rücksicht darauf anzurechnen, ob er durch eine Weiterveräußerung realisiert worden ist (BGH, Urteil vom 27.11.2023, VIa ZR 159/22, juris Rn. 13). Die vorgenannte Entscheidung des OLG Hamburg hat der BGH in seinem Urteil vom 27.11.2023 ausdrücklich als „unzutreffend anders“ abgelehnt.
10
Den Restwert schätzt der Senat im Anschluss an den insoweit übereinstimmenden Sachvortrag der Parteien auf 22.600,00 €.
11
b) Ferner hat sich die Klagepartei die Umsatzsteuer in Höhe 7.444,96 € auf den „Differenzschaden“ anrechnen zu lassen. Auf den Differenzschaden eines vorsteuerabzugsberechtigten Käufers ist die beim Fahrzeugkauf angefallene Umsatzsteuer im Wege der Vorteilsausgleichung anzurechnen (BGH, Urteil vom 18.12.2023, VIa ZR 1248/22, juris Rn. 13), denn angefallene Umsatzsteuer ist nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung nicht ersatzfähig, soweit sie der Geschädigte als Vorsteuer abziehen kann. Den in der Abzugsmöglichkeit liegenden Vorteil muss sich der Geschädigte auf seinen Schaden anrechnen lassen. Ob er von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch gemacht hat, ist unerheblich (BGH, Beschluss vom 25.07.2022, VIa ZR 622/21, juris Rn. 9).
12
c) Schließlich muss sich die Klagepartei die von ihr gezogenen Gebrauchsvorteile anrechnen lassen. Die Laufleistung des Fahrzeugs betrug zuletzt 98.776 km. Ausgehend von einem Bruttokaufpreis von 46.628,96 € (vgl. BGH, Urteil vom 24.07.2023, VIa ZR 752/22, NJW 2023, 3010 Rn. 20) und einer zu erwartenden Gesamtlaufleistung von 250.000,00 € errechnet sich nach der Formel Nutzungsvorteil = Bruttokaufpreis x gefahrene Strecke (seit Erwerb) / erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt ein Nutzungsvorteil in Höhe von 18.423,29 €.
13
Soweit die Klägerin – insbesondere unter Bezugnahme auf verschiedene Angebote auf der Internetplattform m...de – meint, es sei eine Gesamtlaufleistung von mindestens 500.000 km zu erwarten, kann dem nicht gefolgt werden. Der Bundesgerichtshof hat die Annahme einer zu erwartenden Gesamtlaufleistung von 250.000 km wiederholt ausdrücklich gebilligt (BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 15; Urteil vom 27.07.2021, VI ZR 480/19, MDR 2021, 1333 Rn. 23; Urteil vom 27.03.2023, VIa ZR 657/21, juris Rn. 8).
14
Gegen eine zu erwartende Laufleistung von 500.000 km spricht im Streitfall schon die konkrete Nutzung des Fahrzeugs, nämlich dessen gewerbliche Nutzung als Taxi. Bei der Einschätzung der Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs ist zudem nicht lediglich auf den Motor, sondern auf das Fahrzeug in seiner Gesamtheit abzustellen (OLG Stuttgart, Urteil vom 19.10.2023, 24 U 193/21, juris Rn. 83 ff.). Dabei ist zu beachten, dass die höhere Motorlaufleistung heutiger Kraftfahrzeuge durch die Störungsanfälligkeit der verbauten Elektronik negativ kompensiert wird. Bei Versagen der Elektronik ist das Kraftfahrzeug nicht mehr einsatzfähig und häufig auch nicht mehr wirtschaftlich reparabel, obwohl Motor und Karosserie noch in vergleichsweise gutem Zustand sein mögen (OLG Stuttgart, Urteil vom 27.11.2019, 9 U 202/19, juris Rn. 58; OLG Stuttgart, Urteil vom 19.10.2023, 24 U 193/21, juris Rn. 83 ff.). Zur Annahme einer Gesamtlaufleistung von 250.000 km führt auch die Schätzung anhand der vom Kraftfahrtbundesamt veröffentlichten Statistiken für das Durchschnittsalter von Personenkraftwagen und deren durchschnittlicher Jahresfahrleistung (OLG Stuttgart, Urteil vom 19.10.2023, 24 U 193/21, juris Rn. 83 ff.). Denkbare Schwankungen gehen nicht über die mit einer Schätzung ohnehin und immer einhergehenden Unsicherheiten hinaus, welche im Rahmen der Schadensschätzung nach § 287 ZPO vom Gesetz aber in Kauf genommen werden (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023, Via ZR 335/21, juris Rn. 72). Höhere Gesamtlaufleistungen kommen – wie auch die Klägerin durch ihre Internetrecherche belegt hat – vor, umgekehrt aber auch geringere. Für die voraussichtliche Gesamtlaufleistung fällt beides nicht ins Gewicht (OLG Stuttgart, Urteil vom 19.10.2023, 24 U 193/21, juris Rn. 83 ff.).
15
d) Somit hat die Klägerin Vorteile in einer Gesamthöhe von 48.468,25 € (22.600,00 € + 7.444,96 € + 18.423,29 €) erlangt.
16
4. Diese Vorteile sind allerdings erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigen (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 80; Urteil vom 24.10.2023, VI ZR 131/20, MDR 2024, 107 Rn. 51).
17
Der Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags betrug nach dem zu ihren Gunsten als richtig zugrunde zu legenden Sachvortrag der Klägerin 39.634,62 € (46.628,96 € – 6.994,34 €). Diesen Wert übersteigen die von der Klägerin erlangten Vorteile vom 8.833,63 € (48.468,25 € – 39.634,62 €). Die Klägerin muss sich somit 8.833,63 € auf den geltend gemachten „Differenzschaden“ in Höhe von 6.994,34 € anrechnen lassen, sodass dieser vollständig durch die Vorteilsausgleichung aufgezehrt ist.
18
Der vollständige Wegfall des Anspruchs auf den „Differenzschaden“ durch Vorteilsausgleichung ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässig und begegnet keinen rechtlichen Bedenken (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 80; Urteil vom 24.10.2023, VI ZR 131/20, MDR 2024, 107 Rn. 51), denn auch der Schutz der unionsrechtlich gewährleisteten Rechte führt nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten (vgl. EuGH, Urteil vom 21.03.2023 C-100/21, NJW 2023, 1111 Rn. 94). Aus dem Gebot unionsrechtskonformer Rechtsanwendung ergeben sich daher keine Bedenken gegen eine vollständige Aufzehrung von Schadensersatzansprüchen durch die Anrechnung von Nutzungsvorteilen (BGH, Urteil vom 24.10.2023, VI ZR 131/20, MDR 2024, 107 Rn. 46).
19
5. Der Berufungsantrag zu 2. aus dem Schriftsatz vom 05.01.2024 bleibt – bereits aus Rechtsgründen – ebenfalls ohne Erfolg. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV gewähren dem Käufer eines vom sogenannten Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs gegen den Fahrzeughersteller neben dem der Höhe nach auf 15% des gezahlten Kaufpreises begrenzten Anspruch auf Ersatz des „Differenzschadens“ keinen Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten (BGH, Urteil vom 16.10.2023, VIa ZR 14/22, MDR 2023, 1586 Rn. 13).
III.
20
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
21
Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
22
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die entscheidungserheblichen Rechtsfragen sind bereits höchstrichterlich geklärt.