Inhalt

AG Erlangen, Beschluss v. 28.05.2024 – 4 XIV 45/24 (B)
Titel:

Rechtmäßigkeit der Anordnung von Ausreisegewahrsam

Normenkette:
AufenthG § 62a Abs. 1, § 62b
Leitsätze:
1. Die Dauer des Ausreisegewahrsams begründet sich unter Berücksichtigung des erforderlichen Vorbereitungszeitraums und eines zeitlichen Puffers für allfällige Verzögerungen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Entscheidung über die Anordnung des Ausreisegewahrsams kann ergehen, ohne dass der Antrag vor der Anhörung schriftlich in die Muttersprache des Betroffenen übersetzt und ihm zugeleitet wird. Es genügt die Eröffnung des Gewahrsamsantrags zu Beginn der Anhörung, wenn dieser einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu dem der Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne Weiteres auskunftsfähig ist. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausreisepflicht, Ausreisegewahrsam, Anordnung, iranischer Staatsangehöriger, Muttersprache, Übersetzung, sofortige Vollziehbarkeit, Verhältnismäßigkeit, Vollzug
Rechtsmittelinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 05.06.2024 – 18 T 3035/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15999

Tenor

1. Gegen d. Betroffene(n) wird Ausreisegewahrsam angeordnet.
2. Der Vollzug des angeordneten Ausreisegewahrsams beginnt sofort und endet spätestens mit Ablauf des 05.06.2024.
3. Die sofortige Wirksamkeit dieses Beschlusses wird angeordnet.
4. Der Ausreisegewahrsam darf nur im Transitbereich eines Flughafens oder in einer Unterkunft, von der aus die Ausreise d. Betroffenen ohne Zurücklegen einer größeren Entfernung zu einer Grenzübergangsstelle, das heißt in einer üblichen Fahrzeit von etwa einer Stunde von der Unterkunft bis zum Flughafen oder Grenzübergang, möglich ist, vollzogen werden.
D. Betroffene ist getrennt von Strafgefangenen unterzubringen.
5. Von der Erhebung der Kosten wird abgesehen.

Gründe

I.
1
Der Betroffene ist iranischer Staatsangehörige(r).
2
Der Betroffene ist aufgrund des Bescheids d. Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Az. 6395631 – 439 vom 05.01.2017 vollziehbar ausreisepflichtig. Der Bescheid gilt seit dem 07.01.2017 als zugestellt.
3
In dem Bescheid wurde d. Betroffene aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde die Abschiebung angedroht.
4
Eine Klage hiergegen wies das Verwaltungsgericht Ansbach mit Urteil vom 15.11.2017, Az. AN 1 K 17.30238 ab.
5
Der Betroffene hätte freiwillig ausreisen können. Der Betroffene erklärte in einem Gespräch gegenüber der Zentralen Ausländerbehörde Mittelfranken am 27.07.2022 nicht freiwillig ausreisen zu wollen.
6
Die Abschiebung d. Betroffenen ist bereits organisiert.
7
Am 24.04.2024 beantragte die Antragstellerin, gegen d. Betroffene(n) durch einstweilige Anordnung den Ausreisegewahrsam anzuordnen. Das Gericht erließ am 24.05.2024 per einstweiliger Anordnung einen Ausreisegewahrsam. Der Betroffene wurde am 28.05.2024 festgenommen.
8
Das Gericht hat d. Betroffene(n) nach mündlicher Übersetzung des Antrags vor Erlass dieses Beschlusses am 28.05.2024 persönlich angehört.
II.
9
Das Amtsgericht Erlangen ist sachlich zuständig (§ 23a Absatz 1 Nummer 2, Absatz 2 Nummer 6 GVG, § 106 Absatz 2 Satz 1 AufenthG, § 415 FamFG).
10
Das Amtsgericht Erlangen ist örtlich zuständig (§ 106 Absatz 2 Satz 1 AufenthG, § 416 FamFG).
III.
11
Der Ausreisegewahrsam konnte angeordnet werden, da der Antrag zulässig und begründet ist.
12
1. Der Antrag ist zulässig. Die Antragstellerin ist zuständig.
13
Sie ist sachlich zuständig (§ 71 Absatz 1 AufenthG, Artikel 1 Nummer 1 AGAufenthG, §§ 1 ff. ZustVAuslR). Sie ist auch örtlich zuständig (Artikel 1 Nummer 2 AGAufenthG, § 7 ZustVAuslR).
14
Der Antrag enthält die gemäß § 106 Absatz 2 Satz 1 AufenthG, § 417 Absatz 2 Satz 2 FamFG erforderliche Begründung, insbesondere zur erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung.
15
2. Der Antrag ist begründet.
16
Der Betroffene ist zur Ausreise verpflichtet, da er/sie den nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel nicht (mehr) besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht (mehr) besteht (§ 50 Absatz 1 AufenthG).
17
Die Ausreisepflicht d. Betroffenen ist vollziehbar (§ 58 Absatz 1 und 2 AufenthG).
18
Die Überwachung der Ausreise d. Betroffenen ist erforderlich (§ 58 Absatz 1 und 3 AufenthG).
19
Die Abschiebungsandrohung wurde d. Betroffenen vor der persönlichen Anhörung schriftlich bekannt gegeben (§ 59 AufenthG). Die Ausreisefrist ist abgelaufen.
20
Der Ausreisegewahrsam konnte nach § 62b Absatz 1 AufenthG angeordnet werden.
21
Die Ausreisefrist ist abgelaufen. D. Betroffene ist nicht unverschuldet, etwa durch Krankheit oder Fehler der Behörden, an der Ausreise gehindert gewesen und die Überschreitung der Ausreisefrist ist erheblich. Es steht fest, dass die Abschiebung innerhalb der in der Entscheidungsformel genannten Frist durchgeführt werden kann. D. Betroffene hat ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er/sie die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird. Das wird vermutet, da d. Betroffene die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage überschritten hat. Im Rahmen des dem Gericht eingeräumten Ermessens war insbesondere zu berücksichtigen, dass die Ausreisefrist ganz erheblich überschritten wurde, vorliegend um mehr als 6 Jahre. Der Betroffene hat zudem ausdrücklich zu erkennen gegeben, dass er nicht freiwillig ausreisen werde.
22
Die Dauer des Ausreisegewahrsams begründet sich unter Berücksichtigung des erforderlichen Vorbereitungszeitraums und eines zeitlichen Puffers für allfällige Verzögerungen (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.01.2017, Aktenzeichen: V ZB 144/15) wie folgt:
„Nach allgemeinen Erkenntnissen führt das Bekanntwerden einer Ausreisegewahrsams zum Untertauchen der Betroffenen. Die Abschiebung ist bereits für den 05.06.2024 ab Frankfurt Main geplant. Vorliegend ist dabei zu berücksichtigen, dass der Betroffene seit geraumer Zeit ausreisepflichtig ist. Das Gesetz sieht seit der Novelle eine Höchstdauer des Ausreisegewahrsams von 28 Tagen vor. Daher ist zur Vorbereitung und Sicherstellung der Ausreise eine Ausreisegewahrsam von hier vorliegend 8 Tagen angemessen.“
23
Es steht zudem nicht fest, dass eine Abschiebung nicht erfolgen kann. Seit Januar 2024 besteht kein Abschiebestopp in den Iran. Dieser wurde von der Innenministerkonferenz nicht verlängert. Nach telefonisch vor der Anhörung erfolgten Auskunft der Zentralen Ausländerbehörde sind Abschiebungen in den Iran möglich, auch ohne dass es sich um einen Gefährder handeln müsse. Solche seien im Jahr 2024 bereits ohne Sicherheitsbegleitung und ohne Freiwilligkeit des jeweiligen Betroffenen erfolgt.
24
Bei der Bestimmung der Dauer des Ausreisegewahrsams ist auf die voraussichtliche Dauer des Abschiebungsverfahrens abzustellen. Sollte dieses Verfahren bereits vor Ablauf der Frist abgeschlossen sein, so ist die Antragstellerin gehalten, d. Betroffene(n) unverzüglich abzuschieben.
25
Die sofortige Wirksamkeit der Anordnung konnte angeordnet werden (§ 106 Absatz 2 Satz 1 AufenthG, § 422 Absatz 2 Satz 1 FamFG). Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist davon auszugehen, dass d. Betroffene sich der Abschiebung entziehen wird, wenn er/sie bis zur Rechtskraft dieses Beschlusses auf freiem Fuß bleibt.
26
Von der Anordnung des Ausreisegewahrsams war auch nicht abzusehen, da d. Betroffene nicht glaubhaft gemacht hat und nicht offensichtlich ist, dass er/sie sich der Abschiebung nicht entziehen will.
27
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gewahrt.
IV.
28
Die Entscheidung konnte ergehen, ohne dass der Antrag vor der Anhörung schriftlich in die Muttersprache d. Betroffenen übersetzt und ihm/ihr zugeleitet wurde. Es genügt die Eröffnung des Gewahrsamsantrags zu Beginn der Anhörung, wenn dieser – wie im vorliegenden Fall – einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu dem d. Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne Weiteres auskunftsfähig ist (ebenso zur Sicherungshaft:
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.03.2010, Aktenzeichen: V ZB 222/09).
V.
29
Dieser Beschluss ist von der Antragstellerin als der zuständigen Verwaltungsbehörde zu vollziehen (§ 106 Absatz 2 Satz 1 AufenthG, § 422 Absatz 3 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit). Die Antragstellerin ist im Rahmen des Vollzugs dieses Beschlusses insbesondere auch für die Herstellung und Gewährleistung der jederzeitigen Gewahrsamsfähigkeit d. Betroffenen verantwortlich.
VI.
30
Die Anordnung über den Vollzug des Ausreisegewahrsams beruht auf § 62a Absatz 1 Satz 1, § 62b Absatz 2 und 3 AufenthG.
31
Eine Übernachtung im Polizeigewahrsam bis zum Transport am nächsten Tag ist nicht zulässig (Landgericht Wuppertal, Beschluss vom 05.01.2015, Aktenzeichen: 9 T 2/15).
VII.
32
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Absatz 1 Satz 2 FamFG.