Titel:
Bemessung des Nutzungsersatzes im Dieselskandal ausgehend vom Nettokaufpreis
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
RVG § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 1
Leitsätze:
1. Bei einer vorsteuerabzugsberechtigten Partei ist der Nutzungsersatz ausgehend vom Nettokaufpreis zu berechnen. Denn die Vorteilsausgleichung durch Abzug einer Nutzungsentschädigung dient dazu, einen gerechten Ausgleich zwischen den bei einem Schadensfall widerstreitenden Interessen herbeizuführen. Der Geschädigte darf einerseits im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht besser gestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Andererseits sind nur diejenigen durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, also dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unangemessen entlastet. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ob eine vorprozessuale anwaltliche Zahlungsaufforderung eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG auslöst oder als der Vorbereitung der Klage dienende Tätigkeit nach § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 RVG zum Rechtszug gehört und daher mit der Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG abgegolten ist, stellt eine Frage des Innenverhältnisses dar, nämlich der Art und des Umfangs des im Einzelfall erteilten Mandats. Erteilt der Mandant den unbedingten Auftrag, im gerichtlichen Verfahren tätig zu werden, lösen bereits Vorbereitungshandlungen die Gebühren für das gerichtliche Verfahren aus, und zwar auch dann, wenn der Anwalt zunächst nur außergerichtlich tätig wird. Für das Entstehen der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG ist dann kein Raum mehr. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dieselskandal, Porsche Macan S 3.0 V6 TDI, unzulässige Abschalteinrichtungen, Nutzungsersatz, Zahlungsaufforderung
Vorinstanz:
LG Ingolstadt, Endurteil vom 11.04.2022 – 78 O 1970/21 Die
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15784
Tenor
1. Auf die Anschlussberufung der Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts Ingolstadt vom 11.04.2022, Az. 78 O 1970/21 Die, in Ziffer 1 seines Tenors insoweit abgeändert, als die Beklagte verurteilt wird, an die Klagepartei 36.650,49 € zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 08.09.2021 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Pkw Porsche Macan S Diesel (FIN: …) und die Klage insoweit im Übrigen abgewiesen wird.
2. Auf die Anschlussberufung der Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts Ingolstadt vom 11.04.2022, Az. 78 O 1970/21 Die, des Weiteren in Ziffer 2 seines Tenors aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen.
3. Im Übrigen wird die Anschlussberufung der Beklagten zurückgewiesen.
4. Die Berufung der Klagepartei wird zurückgewiesen.
5. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klagepartei 46%, die Beklagte 54%.
6. Dieses Urteil sowie das in Ziffer 1 bezeichnete Endurteil des Landgerichts Ingolstadt sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
7. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird bis 26.06.2024 auf 20.446,77 € und seither auf 26.931,38 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus dem Kauf eines Pkws im Rahmen des sogenannten Dieselskandals.
2
Die vorsteuerabzugsberechtigte Klagepartei bestellte am 16.04.2014 beim P. Zentrum G. den Neuwagen Porsche Macan S 3.0 V6 TDI, EU 6, 190 kw (258 PS), FIN: …, Erstzulassung 13.01.2015, mit einem Kilometerstand von 0 zum Preis von 84.547,99 € brutto bzw. 71.048,73 € netto. In der Motorsteuerungssoftware kommt ein Thermofenster zur Anwendung. Die Abgasrückführung ist nur bei einer Temperatur zwischen + 17 C und + 30 C uneingeschränkt aktiv.
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Das Fahrzeug ist von einem verpflichtenden Rückruf des KBA wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen, der sich nicht auf das Thermofenster bezieht.
4
Die Beklagte ist die Herstellerin des in dem streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Motors.
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Das Fahrzeug wurde im Januar 2015 an die Klagepartei ausgeliefert.
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Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 18.12.2020 laut Anl. BK 3 leitete die Klagepartei gegen die Beklagte ein Güteverfahren bei einer staatlich anerkannten Gütestelle ein.
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Die Klagepartei behauptete, dass in dem streitgegenständlichen Fahrzeug neben dem (unstreitig implementierten) Thermofenster noch eine prüfstandserkennende Aufheizstrategie zur Anwendung komme. Darüber hinaus sei das Getriebe dahingehend manipuliert, dass die Schaltpunkte des Getriebes bei kaltem Motor ohne Lenkwinkeleinschlag höher seien als nach einem Lenkradeinschlag.
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Wenn die Klagepartei vom Vorhandensein unzulässiger Abschalteinrichtungen im Fahrzeug gewusst hätte, hätte sie das Fahrzeug nicht gekauft.
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Die Klagepartei beantragte,
- 1.
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Die Beklagtenpartei wird verurteilt, an die Klagepartei € 63.347,58 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit Rechtshängigkeit zu zahlen, Zug-um-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des PKW Porsche Macan S Diesel (Fahrzeugidentifikationsnummer: …).
- 2.
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Es wird festgestellt, dass die Beklagtenpartei verpflichtet ist, der Klagepartei Schadensersatz zu bezahlen für weitere Schäden, die daraus resultieren, dass die Beklagtenpartei das Fahrzeug Porsche Macan S Diesel (Fahrzeugidentifikationsnummer: …) dahingehend beeinflusst hat, dass dieses hinsichtlich der Abgasstoffmenge im Prüfstandbetrieb einen geringeren Ausstoß aufweist als im regulären Betrieb im Straßenverkehr.
Hilfsweise: Es wird festgestellt, dass die Beklagtenpartei verpflichtet ist, der Klagepartei Schadensersatz zu bezahlen für weitere Schäden, die daraus resultieren, dass die Beklagtenpartei in den Motor, Typ 3.0 l V6 Dieselmotor, des Fahrzeugs Porsche Macan S Diesel (Fahrzeugidentifikationsnummer: …) eine unzulässige Abschalteinrichtung in der Form einer Software eingebaut hat, welche bei Erkennung standardisierter Prüfstandsituationen (NEFZ) die Abgasaufbereitung so optimiert, dass möglichst wenige Stickoxide (NOx) entstehen und Stickoxidemissionsmesswerte reduziert werde, und die im Normalbetrieb Teile der Abgaskontrollanlage außer Betrieb setzt, so dass es zu einem höheren NO-xAusstoß führt.
3. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagtenpartei mit der Rücknahme des im Klageantrag Ziffer 1. genannten PKW im Annahmeverzug befindet.
4. Die Klagepartei wird verurteilt, an die Klagepartei vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 2.194,72 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Die Beklagte beantragte,
11
Sie erwiderte, dass in dem Fahrzeug keine unzulässigen Abschalteinrichtungen verbaut seien. Die Klagepartei habe auch nicht dargetan, dass sie den Klägervertretern zunächst ein auf die außergerichtliche Tätigkeit beschränktes Mandat erteilt habe.
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Mit Endurteil vom 11.04.2022, Az. 78 O 1970/21 Die, verurteilte das Landgericht Ingolstadt nach informatorischer Anhörung der Klagepartei die Beklagte zur Zahlung von 40.617,09 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 08.09.2021, Zug um Zug gegen Übereignung und Rückgabe des streitgegenständlichen Fahrzeugs sowie des Weiteren zur Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.877,11 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 08.09.2021. Im Übrigen wies es die Klage ab.
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Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Landgericht u.a. aus, dass die Feststellungsanträge mangels eines berechtigten Feststellungsinteresses unzulässig seien. Die Klagepartei habe gegen die Beklagte einen Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB, da das Fahrzeug über eine Motorsteuerungssoftware verfüge, die das Emissionsverhalten des Fahrzeugs auf dem Prüfstand im Normzyklus anders steuere als im regulären Fahrbetrieb. Dies erfülle die Voraussetzungen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung, sodass die Klagepartei dem Grunde nach von der Beklagten die Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs verlangen könne. Die vom zurückzuzahlenden Kaufpreis abzuziehende Nutzungsentschädigung belaufe sich bei einem Kilometerstand von 107.980 zum Schluss der mündlichen Verhandlung auf 30.431,6399 €. Auszugehen sei bei der Berechnung der Nutzungsvorteile von einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km sowie trotz der Vorsteuerabzugsberechtigung der Klagepartei vom Bruttokaufpreis. Der Schadensersatzanspruch der Klagepartei belaufe sich daher in der Hauptsache nur auf 40.617,09 € (Nettokaufpreis in Höhe von 71.048,73 € abzüglich Nutzungsentschädigung in Höhe von 30.431,6399 €).
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Dementsprechend berechneten sich die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten aus einem Gegenstandswert von 40.617,09 €, was unter Zugrundelegung einer 1,3 RVG-Gebühr zu vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von insgesamt 1.877,11 € brutto führe.
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Der Annahmeverzug sei nicht festzustellen, da das Fahrzeug der Beklagten nicht in einer den Annahmeverzug begründenden Weise angeboten worden sei. Der von der Klagepartei zu Grunde gelegte Nutzungsentschädigungsbetrag sei zu gering gewesen, da die Klagepartei von einer Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 400.000 km ausgegangen sei.
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Im Übrigen wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen.
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Die Klagepartei verfolgt mit ihrer Berufung unter Wiederholung und Vertiefung ihres diesbezüglichen bisherigen Vortrags ihr erstinstanzliches Klageziel, soweit ihm das Landgericht nicht entsprochen hat, bis auf die Feststellungsanträge vollumfänglich weiter.
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Die Klagepartei rügt, dass bei der Berechnung der Nutzungsvorteile nicht vom Brutto-, sondern vom Nettokaufpreis hätte ausgegangen werden müssen. Darüber hinaus sei eine Gesamtlaufleistung von 350.000 km zu Grunde zu legen (vgl. Berufungsbegründung S. 10 letzter Absatz, Bl. 22 d.A.). Bei richtiger Berechnung lägen die Nutzungsvorteile um 8.512,09 € niedriger.
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Bezüglich der geltend gemachten vorgerichtlichen Kosten sei eine 1,5-RVG-Gebühr zu Grunde zu legen. Dies ergebe einen Nettobetrag von 1.892,00 €.
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Die Klagepartei beantragt daher:
1. Unter Abänderung des am 11.04.2022 verkündeten Urteils des Landgerichts Ingolstadt, Az. 78 O 1970/21 Die, wird die Berufungsbeklagte verurteilt, an die Klagepartei weitere 8.512,09 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 08.09.2021 zu bezahlen.
Hilfsweise für den Fall, dass das Gericht einen Anspruch aus § 826 BGB verneine sollte:
1. Die Beklagtenpartei wird verurteilt, an die Klägerin 12.682,20 EUR (15% vom Kaufpreis) zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Unter Abänderung des am 11.04.2022 verkündeten Urteils des Landgerichts Ingolstadt, Az. 78 O 1970/21 Die, wird die Berufungsbeklagte verurteilt, an die Klagepartei vorgerichtliche Kosten in Höhe von 1.892,00 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 08.09.2021 zu bezahlen.
21
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
22
Im Wege der Anschlussberufung beantragt die Beklagte des Weiteren, das am 11. April 2022 verkündete Urteil des Landgerichts Ingolstadt (Az. 78 O 1970/21) wie folgt teilweise abzuändern und die Klage abzuweisen, soweit der in Abzug gebrachte Nutzungsersatz einen Betrag in Höhe von EUR 48.850,93 unterschreitet; die Klage hinsichtlich der ausgeurteilten außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten abzuweisen.
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Die Beklagte, die ihre Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz nach § 826 BGB durch das Landgericht dem Grunde nach akzeptiert, trägt vor, dass der Berechnung der Nutzungsentschädigung keinesfalls eine Gesamtlaufleistung von mehr als 250.000 km zu Grunde zu legen sei.
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Das Landgericht habe die Beklagte auch zu Unrecht zur Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt. Solche seien nämlich nur erstattungsfähig, wenn sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich seien. Daran fehle es aber streitgegenständlich, da den Prozessbevollmächtigten der Klagepartei aus einer Vielzahl von ihnen betriebener Verfahren bekannt gewesen sei, dass die Beklagte außergerichtlich nicht zur Zahlung bereit gewesen sei. Die Klagepartei habe auch weiterhin nicht dazu vorgetragen, ob sie den Klägervertretern nur einen unbedingten Klageauftrag erteilt habe. Darüber hinaus habe die Klagepartei eine außergerichtliche Tätigkeit nicht hinreichend dargelegt. Kosten des Güteverfahrens seien keine Gebühren iSd. § 91 Abs. 3 ZPO und daher nicht erstattungsfähig.
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Jedenfalls seien auch höchstens vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.314,50 € berechtigt. Für den Gegenstandswert sei der Nutzungsersatz zu niedrig angesetzt. Darüber hinaus sei das GKG in der bis zum 31.12.2020 geltenden Version anzuwenden.
26
Die Klagepartei beantragt,
die Anschlussberufung zurückzuweisen.
27
Der Senat hat am 26.06.2024 mündlich verhandelt. Er hat Hinweise erteilt und die Klagepartei informatorisch angehört. Auf die Hinweise vom 29.07.2022, Bl. 28/30 d.A. und vom 08.01.2024, Bl. 82/85 d.A., das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.06.2024, die zwischen den Prozessbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze und den übrigen Akteninhalt wird Bezug genommen.
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I. Sowohl bezüglich der Höhe des Schadensersatzanspruchs in der Hauptsache als auch im Hinblick auf die von der Klagepartei verlangten höheren vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren ist die Berufung der Klagepartei unbegründet.
29
1. Die Klagepartei hat – wie das Landgericht feststellte und wogegen die Beklagte sich mit ihrer Abschlussberufung auch nicht wendet – gegen die Beklagte dem Grunde nach einen Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB, der auf die Rückabwicklung des von der Klagepartei bezüglich des streitgegenständlichen Fahrzeugs geschlossenen Kaufvertrags geht.
30
Die Klagepartei hat daher gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises für das Fahrzeug reduziert um die von der Klagepartei aus der Nutzung des Fahrzeugs gezogenen Vorteile Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs an die Beklagte.
31
Der Schätzung der Nutzungsvorteile legt der Senat dabei folgende Berechnung zu Grunde von der Klagepartei bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung mit dem Fahrzeug zurückgelegte Kilometer geteilt durch die Restlaufleistung des Fahrzeugs bei Kauf multipliziert mit dem Nettokaufpreis.
32
Da die Klagepartei trotz des diesbezüglichen Hinweises des Senats vom 08.01.2024, dort Seite 2 unter Punkt I 2.1.d, Bl. 83 d.A. zur mündlichen Verhandlung am 26.06.2024 den aktuellen Kilometerstand nicht mitgeteilt hat, schätzt der Senat diesen zum Schluss der mündlichen Verhandlung am 26.06.2024 auf 145.245 km. Er legt dieser Schätzung die unstreitigen Kilometerstände bei Auslieferung des Fahrzeugs im Januar 2015 von 0 und zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 27.01.2022 von 107.908 zu Grunde. Dies ergibt bei einer Zeitspanne von 84 Monaten eine gerundete monatliche Fahrleistung von 1.285 km. Für den Zeitraum seit dem 27.01.2022 bis zum 26.06.2024 errechnet sich damit eine Fahrleistung von 37.265 km (29 x 1.285 km), die zur Fahrleistung bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht von 107.980 km zu addieren war, sodass von einer Gesamtfahrleistung von 145.245 km auszugehen ist.
33
Der Senat konnte die von der Klagepartei in den Schriftsätzen ihrer Prozessbevollmächtigten vom 20.09.2022, Bl. 41 d.A. (117.603 km), und vom 22.03.2024, S. 11, Bl. 96 d.A. (125.000 km) angegebenen Kilometerstände nicht berücksichtigen, da ihm diese Werte nicht plausibel erscheinen. Denn demnach wäre die durchschnittliche monatliche Fahrleistung seit dem Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht erheblich geringer gewesen als im Zeitraum von der Auslieferung des Fahrzeugs bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht. Eine Erklärung hierfür ist nicht ersichtlich.
34
Die von der Klägervertreterin beantragte Schriftsatzfrist zur Vorlage des aktuellen Kilometerstands war nicht zu gewähren. Die Klagepartei war auf die Notwendigkeit dieses Vortrags mit Hinweis des Senats vom 08.01.2024, Bl. 83 d.A., hingewiesen worden. Es wurde auch kein Grund angegeben, warum der Vortrag in der mündlichen Verhandlung nicht erbracht werden konnte.
35
Die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs bemisst der Senat mit 300.000 km. Der Wert von 300.000 km bewegt sich innerhalb der Bandbreite der von anderen Gerichten jeweils vorgenommenen Schätzung der gesamten Laufleistung (u.a. BGH, Urteil vom 27.07.2021 – VI ZR 480/19, Rn. 26), und zwar nicht an der unteren Grenze. Weitere aussagekräftige Umstände, welche die zu erwartende Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs beeinflussen (vgl. BGH, Urteil vom 29.09.2021 – VIII ZR 111/20, Rn. 52 ff. m.w.N.) und im Hinblick auf die es hier geboten erscheinen würde, von einer von der Klagepartei zugrunde gelegten Laufleistung von 350.000 km auszugehen, sind weder dargetan noch ersichtlich. Gleiches gilt für die von der Beklagten (in ihrer Anschlussberufung) behauptete Gesamtlaufleistung von nur 250.000 km.
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Da es sich bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug bei Kauf durch die Klagepartei um einen Neuwagen mit einem Kilometerstand von 0 km handelte, betrug die Restlaufleistung bei Kauf damit 300.000 km.
37
Der Senat bleibt bei seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 23.02.2022 – 7 U 5748/21, Rdnrn 39 f), wonach bei einer vorsteuerabzugsberechtigten Partei – wie vorliegend der Klagepartei – der Nutzungsersatz ausgehend vom Nettokaufpreis zu berechnen ist. Denn die Vorteilsausgleichung durch Abzug einer Nutzungsentschädigung dient dazu, einen gerechten Ausgleich zwischen den bei einem Schadensfall widerstreitenden Interessen herbeizuführen. Der Geschädigte darf einerseits im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht besser gestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Andererseits sind nur diejenigen durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, also dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unangemessen entlastet (BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, Rdnr. 65). Im Rahmen der Vorteilsausgleichung kommt es auf die aus dem erworbenen Fahrzeug (tatsächlich) gezogenen Vorteile an. Die vom Bundesgerichtshof gebilligte Schätzung im Wege der zeitanteiligen linearen Wertminderung basiert auf dem Kauf des tatsächlich erworbenen Fahrzeugs und stellt mithin unmittelbar auf das schädigende Ereignis ab. Dabei berücksichtigt sie einerseits die dem jeweiligen Käufer zugeflossenen Nutzungsvorteile und andererseits über den wertbildenden Faktor der Laufleistung auch den Wertverlust des Fahrzeugs (BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, Rdnrn. 81 f.). Da der Schaden der Klagepartei hier nicht durch die Höhe des zwischen den Kaufvertragsparteien vereinbarten Bruttopreises bestimmt wird, sondern nur in Höhe des Nettokaufpreises besteht, hält der Senat es für sachgerecht, dass sich auch der für die Berechnung des Nutzungsvorteils maßgebliche Gebrauchswert an dem Kaufpreis ohne Umsatzsteuer orientiert. Eine andere Betrachtungsweise würde zu einer nicht gerechtfertigten Entlastung der Beklagten führen (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 05.07.2021 – I-8 U 201/20, Rdnr. 57; ebenso OLG Brandenburg, Urteil vom 14.07.2021 – 4 U 157/20, Rdnrn 64 f., OLG Celle, Urteil vom 17.08.2022 – 16 U 8/22, Rdnrn 25 f., OLG Hamburg, Urteil vom 24.06.2021 – 15 U 204/20, Rdnrn 14, OLG Köln, Urteil vom 08.12.2021 – 11 U 73/21, Rdnr. 7, OLG München, Urteil vom 20.06.2022 – 21 U 560/20, Rdnrn 42 f., Urteil vom 18.04.2023 – 5 U 6046/22, Rdnr. 34, OLG Naumburg, Urteil vom 28.10.2022 – 7 U 47/22, Rdnrn. 85, 88, OLG Oldenburg, Urteil vom 14.01.2021 – 1 U 160/20, Rdnr. 76; OLG Stuttgart, Urteil vom 19.02.2020 – 4 U 149/19, Rdnrn 43, 87, Urteil vom 13.04.2021 – 16a U 718/20, Rdnrn 83, 90). Dass ein Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung der Berechnung der Nutzungsvorteile auch bei vorsteuerabzugsberechtigten Geschädigten den Bruttokaufpreis zu Grunde legt (OLG Dresden, Urteil vom 11.07.2022 – 5a U 57/22, Rdnr. 60, OLG Karlsruhe, Urteil vom 13.12.2022 – 8 U 282/21, Rdnrn 29 ff., OLG München, Beschluss vom 11.05.2023 – 35 U 7434/22, Rdnr. 17, OLG Oldenburg, Urteil vom 04.03.2021 – 14 U 185/20, Rdnr. 52) steht dem nicht entgegen. Denn die Entscheidung, ob im Rahmen der Schätzung der Nutzungsvorteile auf den Netto- oder aber den Bruttokaufpreis abzustellen ist, steht im tatrichterlichen Ermessen, wobei sich insoweit weder aus dem Gesetz noch aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung verbindliche Vorgaben ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 24.07.2023 – VIa ZR 752/22, Rdnr. 20).
38
Unter Zugrundelegung der oben genannten Parameter errechnen sich demnach Nutzungsvorteile in Höhe von 34.398,24 €, womit sich ein von der Beklagten an die Klagepartei zurückzuzahlender Kaufpreisrest von 36.650,49 € (71.048,73 € – 34.398,24 €) ergibt.
39
Da das Landgericht einen höheren Zahlbetrag errechnete, als der Klagepartei tatsächlich zustand, ist die Berufung der Klagepartei bezüglich der Schadensersatzzahlung in der Hauptsache unbegründet.
40
2. Im Hinblick auf die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ist die Berufung der Klagepartei ebenfalls unbegründet, da sie schon dem Grunde nach keinen Anspruch auf Erstattung der ihr entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nach Nr. 2303 VV RVG aufgrund des von ihr ausweislich der Antragsschrift laut Anl. K 2 eingeleiteten Güteverfahrens hat.
41
Hinsichtlich der Frage, ob eine vorprozessuale anwaltliche Zahlungsaufforderung eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG auslöst oder als der Vorbereitung der Klage dienende Tätigkeit nach § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVG zum Rechtszug gehört und daher mit der Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG abgegolten ist, hat der BGH entschieden, dass dies eine Frage des Innenverhältnisses, nämlich der Art und des Umfangs des im Einzelfall erteilten Mandats sei. Erteilt der Mandant den unbedingten Auftrag, im gerichtlichen Verfahren tätig zu werden (vgl. Vorbemerkung 3 Abs. 1 Satz 1 VV RVG), lösen bereits Vorbereitungshandlungen die Gebühren für das gerichtliche Verfahren aus, und zwar auch dann, wenn der Anwalt zunächst nur außergerichtlich tätig wird. Für das Entstehen der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG ist dann kein Raum mehr. Anders liegt es, wenn sich der Auftrag nur auf die außergerichtliche Tätigkeit des Anwalts beschränkt oder der Prozessauftrag jedenfalls unter der aufschiebenden Bedingung erteilt wird, dass zunächst vorzunehmende außergerichtliche Einigungsversuche erfolglos bleiben. Ein lediglich (aufschiebend) bedingt für den Fall des Scheiterns des vorgerichtlichen Mandats erteilter Prozessauftrag steht der Gebühr aus Nr. 2300 VV RVG nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 22.06.2021 – VI ZR 353/20, Rdnr. 7).
42
Auf diese BGH-Rechtsprechung Bezug nehmend hat die Beklagte gleichlautend sowohl bereits in der Klageerwiderung (dort S. 33, Bl. 105 d.A.) als auch in ihrer Anschlussberufungsbegründung (dort S. 9, Bl. 75 d.A.) ausgeführt, dass die Klagepartei nicht dargetan habe, dass sie ihren Prozessbevollmächtigten ein auf die außergerichtliche Tätigkeit zunächst beschränktes Mandat erteilt habe und dies vorsorglich mit Nichtwissen bestritten. Die insoweit darlegungsbelastete Klagepartei (vgl. zur Darlegungs- und Beweislast BGH, Urteil vom 22.06.2021 – VI ZR 353/20, Rdnr. 8 aE) hat dazu weder in erster noch in zweiter Instanz vorgetragen, sodass davon auszugehen ist, dass nur ein unbedingter Klageauftrag erteilt wurde.
43
Demnach hätte die Klagepartei nach der Rechtsprechung des BGH jedenfalls keinen Anspruch auf Erstattung einer Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG. Für die Geschäftsgebühr nach Nr. 2303 VV RVG, die ausweislich der Überschrift des Teils 2 der VV RVG ebenfalls eine außergerichtliche Tätigkeit betrifft, gilt aufgrund der insoweit gleichen Interessenlage nichts anderes. Denn bei einem von der Klagepartei nach dem vom Senat zu Grunde zu legenden Parteivortrag unbedingt erteilten Klageauftrag, war die Durchführung eines Güteverfahrens jedenfalls nicht erforderlich.
44
3. Da der Senat vom Bestehen eines Schadensersatzanspruchs der Klagepartei gegen die Beklagte nach § 826 BGB ausgeht (vgl. oben unter 1), ist die Bedingung, unter der der Hilfsantrag gestellt wurde, nicht erfüllt, und war deshalb über den Hilfsantrag der Klagepartei nicht zu entscheiden.
45
1. Zur Höhe des Nutzungsvorteils und damit des von der Beklagten an die Klagepartei zu zahlenden Schadensersatzbetrages gelten die Ausführungen unter I 1. Die Klagepartei hat demnach nur Anspruch auf Zahlung von 36.650,49. Da das Landgericht einen höheren Zahlbetrag ausurteilte (40.617,09 €), hat die Anschlussberufung der Klagepartei in der Hauptsache im Umfang der Differenz von 3.966,60 € Erfolg.
46
2. Soweit sich die Beklagte mit ihrer Anschlussberufung gegen die Verurteilung zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten wendet, ist sie vollumfänglich begründet, da – wie oben unter I 2 dargelegt – ein solcher Erstattungsanspruch der Beklagtenpartei nicht besteht.
47
I. Der Ausspruch zu den Kosten folgt aus § 92 Abs. 2 ZPO und entspricht dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen der Parteien.
48
II. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
49
III. Die Revision gegen dieses Urteil war nicht zuzulassen, da ein Revisionsgrund nicht vorliegt.
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Die Streitwertfestsetzung erfolgte gemäß § 47 GKG.