Titel:
Kein internationaler Schutz und kein Abschiebungsverbot für homosexuellen jungen Mann aus Sierra Leone
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a, § 3e Abs. 1, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ein homosexueller junger Mann bei einer Rückkehr nach Sierra Leone deshalb dort mit Verfolgungsmaßnahmen iSd § 3a AsylG zu rechnen hätte oder mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einem ernsthaften Schaden iSd § 4 AsylG bedroht wäre. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Jedenfalls ist für eine solche Rückkehrer nach Sierra Leone das Ausweichen auf eine inländische Fluchtalternative grundsätzlich möglich und zumutbar. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein junger, erwerbsfähiger alleinstehender Mann ohne Unterhaltspflichten kann in Sierra Leone ein Existenzminimum für sich als Einzelperson erwirtschaften. (Rn. 35 – 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland: Sierra Leone, Homosexualität, Verfolgung nicht beachtlich wahrscheinlich, Inländische Fluchtalternative, Herkunftsland Sierra Leone, politische Verfolgung, inländische Fluchtalternative, Meldewesen, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15781
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, ein nach eigenen Angaben sierra-leonischer Staatsangehöriger vom Volke der Temne, stellte am 8. … 2021 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt).
2
Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 15. April 2021 gab der Kläger an, bis zu seiner Ausreise mit seinem Vater, seiner Stiefmutter und seiner Stiefschwester in Freetown gelebt zu haben. Er habe sechs Jahre lang die Schule besucht. Einen Beruf habe er nicht erlernt und auch nicht gearbeitet. Sierra Leone habe er im Oktober 2019 verlassen und sei von Italien aus mit dem Zug nach Deutschland eingereist.
3
Befragt zu seinem Verfolgungsschicksal trug der Kläger vor, dass er mit seiner Stiefmutter zusammengelebt, diese ihn jedoch nicht gemocht habe. Nachdem der Kläger die Schule abgebrochen habe, habe er nichts zu tun gehabt. Seine Stiefmutter habe ihm nichts zu essen gegeben. Manchmal habe er draußen auf dem Boden geschlafen. Ein Mann, der halb aus Sierra Leone und halb aus Guinea stamme, habe begonnen, ihm zu helfen und habe ihm Essen gegeben. Schließlich habe der Mann den Kläger zu sich eingeladen. Er habe damit angefangen, dem Kläger Filme zu zeigen, die sexuelle Handlungen zwischen Männern zeigten. Ab diesem Zeitpunkt hätten sie jedes Mal solche Filme angesehen, wenn der Kläger den Mann besucht habe. Der Kläger habe begonnen, Gefühle für den Mann zu entwickeln. Was er für den Mann empfunden habe, habe der Kläger noch nie für jemanden empfunden. Schließlich habe er begonnen, mit dem Mann „Spaß zu haben“ und sei in einer ernsthaften Beziehung mit dem Mann gewesen. Es habe kein konkretes Ereignis gegeben, zu dem er gedacht habe, dass er homosexuell sei, es habe vielmehr ein bisschen gedauert. Sein Partner habe ihn in dieses Leben eingeführt. Er sei sehr süß gewesen. Jedes Mal, wenn der Kläger ihn gesehen habe, habe er sich zu ihm hingezogen gefühlt. Der Kläger und sein Partner hätten ein Jahr so weitergemacht, allerdings heimlich, da Homosexualität in Sierra Leone verboten sei. Der Kläger habe Angst gehabt. Der Partner des Klägers habe dem Kläger einen Freund vorgestellt, der ebenfalls homosexuell gewesen sei. Wenn sein Partner nicht da gewesen sei, habe der Kläger „etwas mit dem Freund seines Partners gehabt“. Die Stiefmutter des Klägers habe begonnen, den Kläger zu beobachten. Manchmal habe sie gesehen, wie der Kläger gutes Essen gegessen habe. Sie habe den Kläger gefragt, woher er das Essen habe. Der Kläger habe Angst gehabt, da weder sein Vater noch seine Mutter Bescheid gewusst hätten. Eines Tages habe der Kläger mit dem Freund seines Partners „Spaß gehabt“, die Tür jedoch nicht abgesperrt und sei von seiner Stiefmutter beim Geschlechtsverkehr erwischt worden. Die Stiefmutter sei geschockt gewesen und habe begonnen, den Kläger anzuschreien, da sie nicht erwartet habe, dass der Kläger ein solches Leben führe. Während seine Stiefmutter geschrien habe, seien Nachbarn und sein Vater, ein Imam, dazugekommen. Als er erfahren habe, welches Leben der Kläger führe, habe er den Kläger vor allen Leuten verstoßen. Der Kläger sei nicht mehr sein Sohn, er könne keinen Sohn haben, der keine Zukunft haben könne, indem er ein solches Leben führe. Die hinzugekommenen Nachbarn hätten den Kläger geschlagen. Das Gemeindeoberhaupt habe gesagt, dass es den Kläger und seinen Sexualpartner festnehme. Der Kläger habe jedoch weglaufen und sich verstecken können. Auf die Bitte des Bundesamts, die Situation, in der das Gemeindeoberhaupt sie habe festnehmen wollen, genauer zu beschreiben, gab der Kläger an, dass das Gemeindeoberhaupt den Befehl gebe, jemanden zu erhängen, wenn sie jemanden erwischten. Danach gefragt, ob der Kläger die Situation genauer beschreiben könne, in der er geschlagen worden sei, gab der Kläger an, dass er gedacht habe, er würde sterben, Gott ihm aber erlaubt habe, wegzurennen. Es seien viele gewesen, die den Kläger geschlagen hätten. Er sei in einer schlechten Situation gewesen. Ab diesem Zeitpunkt habe der Kläger auf der Straße geschlafen. Sein Partner habe von den Geschehnissen erfahren, den Kläger gefunden und ihn in ein Dorf an der Grenze zwischen Sierra Leone und Guinea gebracht. Der Kläger habe dann mit seinem Partner in dessen Zuhause in Guinea gelebt. Der Kläger habe in Guinea bleiben wollen, jedoch sei die Situation für Homosexuelle in Guinea schwieriger gewesen. Der Kläger habe dort Geschlechtsverkehr mit Männern gegen Geld gehabt. Bei einer Rückkehr nach Sierra Leone habe der Kläger Angst, dass ihm erneut passiere, was ihm damals passiert sei. Über seine sexuelle Orientierung habe der Kläger in Sierra Leone nicht gesprochen. Er hätte darüber sprechen können, wenn er gewusst hätte, dass sein Gesprächspartner homosexuell sei. Wenn er mit einer Person, die nicht homosexuell gewesen wäre, gesprochen hätte, wäre das ein Problem gewesen. An die Polizei in Sierra Leone habe sich der Kläger nicht gewandt, da die Polizei wisse, wie Homosexuelle behandelt würden. Der Lebensunterhalt des Klägers sei von dessen Partner finanziert worden.
4
Das Bundesamt lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 29. März 2022 (Gesch.-Z.: …), dem Kläger laut Postzustellungsurkunde am 20. April 2022 zugegangen, ab. Die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und der subsidiäre Schutzstatus wurden nicht zuerkannt (Nr. 3), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Nr. 2). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorlägen (Nr. 4). Die Abschiebung wurde mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen angedroht (Nr. 5) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
5
Zur Begründung führt das Bundesamt insbesondere aus, dass es hinsichtlich einer staatlichen Verfolgung an einem Verfolgungsakteur i.S.v. § 3c AsylG fehle. Der Kläger habe vorgetragen, von nicht-staatlichen Akteuren verfolgt worden zu sein. Eine Verfolgung durch diese könne jedoch nur relevant sein, wenn sich der sierra-leonische Staat gegenüber dem Kläger als nicht schutzwillig und nicht schutzfähig erwiesen habe (§ 3c Nr. 3 AsylG). Der sierra-leonische Staat sei bei etwaigen Verfolgungen Homosexueller schutzwillig und schutzfähig. Der Kläger habe auch nicht vorgebracht, dass und inwiefern sich der Staat in seinem konkreten Fall nicht als schutzwillig und schutzfähig erwiesen habe. Zudem habe der Kläger die geschilderten Verfolgungshandlungen nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere sei der Kläger auf die wiederholten Nachfragen, was die angebliche Verfolgung durch das Gemeindeoberhaupt betreffe und die Aufforderung, diese Geschehnisse zu konkretisieren, wiederholt ausgewichen. Der Kläger sei jung, gesund und arbeitsfähig. Zwar habe er nur eine geringe Schulbildung und sei es fraglich, ob er auf ein tragfähiges familiäres Netzwerk zurückgreifen könne, da offensichtlich Konflikte mit der Stiefmutter bestünden. Gleichwohl bestehe für junge und arbeitsfähige Männer wie den Kläger die Möglichkeit, in Sierra Leone ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, zudem sei dem Kläger zuzumuten, Rückkehrhilfen in Anspruch zu nehmen. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 3 Asylgesetz – AsylG).
6
Der Kläger erhob am 2. Mai 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen diesen Bescheid und beantragt sinngemäß,
- 1.
-
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. März 2022 (Gesch.-Z.: …) wird aufgehoben.
- 2.
-
Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen.
- 3.
-
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
- 4.
-
Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen.
- 5.
-
Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen.
7
Die Beklagte legte die Behördenakten vor und beantragte mit Schriftsatz vom 16. Mai 2022, die Klage abzuweisen.
8
In der mündlichen Verhandlung am 7. März 2024 gab der Kläger insbesondere an, dass viele Leute gekommen seien, die sehr aggressiv sein könnten, nachdem seine Stiefmutter ihn beim Geschlechtsverkehr erwischt und zu schreien begonnen habe. Die Nachbarn, die gekommen seien, hätten angefangen, den Kläger und seinen Sexualpartner zu schlagen. Sie hätten sogar die Polizei rufen wollen und hätten damit gedroht, das Gemeindeoberhaupt zu rufen. Der Kläger habe jedoch glücklicherweise entkommen können. Dies sei ihm gelungen, da die hinzugekommenen Leute noch nicht so viele gewesen seien. In Deutschland habe der Kläger seit seiner Ankunft homosexuelle Kontakte mit mehreren Personen unterhalten. Hier könne der Kläger offen mit seiner Homosexualität umgehen. Er habe momentan einen festen Partner, der in Pasing wohne. Der Kläger habe ihn über soziale Medien kennengelernt, als er noch in Italien gewesen sei. In Deutschland sei der Kläger zunächst auf der Berufsschule gewesen, dies sei dann jedoch unterbunden worden. Der Kläger arbeite als Koch und habe den Beruf auch erlernt. Mit seinen Verwandten in Sierra Leone habe der Kläger keinen Kontakt mehr.
9
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
10
Die zulässige Klage ist unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 VwGO). Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Grundgesetz – GG), die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) oder des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) oder auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Auch die Abschiebungsandrohung (§ 34, § 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG) und die Entscheidung des Bundesamtes über die Anordnung und Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes (§ 11 AufenthG) sind nicht zu beanstanden.
11
Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Es ergänzt lediglich wie folgt:
12
1. Die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter gemäß Art. 16a GG scheitert bereits an der Einreise des Klägers auf dem Landweg (Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a Abs. 1 und 2 AsylG).
13
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 ff. AsylG) oder des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG).
14
a. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG Münster, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris Rn. 21 f. m.w.N.). Eine Verfolgung kann dabei gemäß § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen (§ 3e AsylG), deren Inanspruchnahme zumutbar ist. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
15
Subsidiärer Schutz ist einem Ausländer zuzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG).
16
Für die Prognose, die bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft sowie bei der Prüfung des subsidiären Schutzes anzustellen ist, ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
17
Das Gericht muss hinsichtlich einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und der Prognose, dass dieses die Gefahr (politischer) Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Herkunftsstaat befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu. Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumen von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist dabei gesteigerte Bedeutung beizumessen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (st.Rspr., vgl. nur BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – NVwZ 1990, 171).
18
b. Es ist zur Überzeugung des Gerichts trotz der Erkenntnislage in Bezug auf die Ablehnung von Homosexualität durch Teile der Bevölkerung nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger aufgrund seiner Homosexualität in Sierra Leone mit Verfolgungsmaßnahmen i.S.d. § 3a AsylG zu rechnen hätte bzw. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einem ernsthaften Schaden i.S.d. § 4 AsylG bedroht wäre (vgl. st.Rspr, z.B. VG Augsburg, U.v. 23.2.2021 – Au 4 K 20.3005 – juris; U.v. 10.1.2018 – Au 4 K 17.32392 – juris, VG Regensburg, U.v. 9.11.2020 – RN 14 K 18.31212 – juris; U.v. 15.5.2019 – RO 14 K 19.30269 – juris; VG München, U.v. 7.9.2020 – M 30 K 17.47275 – juris; U.v. 28.10.2018 – M 30 K 17.40322 – juris; U.v. 9.11.2018 – M 30 K 17.43175 – juris). Der Begriff der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ ist ein Akt der wertenden tatrichterlichen Erkenntnis auf möglichst gesicherter Tatsachengrundlage (Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 17. Edition Stand 15.10.2023, § 3 Rn. 27 m.w.N.). Es gilt das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung mit der Folge, dass es einer im besonderen Maße umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland bedarf, wobei das Gericht hierauf aufbauend bei einer unübersichtlichen Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen muss (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 37.18 – BeckRS 2019, 19682 Rn. 19).
19
Zwar weisen die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel darauf hin, dass es ein formal nicht außer Kraft gesetztes Gesetz aus der britischen Kolonialzeit aus dem Jahr 1861 gibt, demzufolge Homosexualität zwischen Männern in Sierra Leone untersagt und mit Freiheitsstrafe bedroht ist (vgl. u.a. Ministerie van Justitie en Veiligheid, Immigratieen Naturalisatiedienst (fortan JenV), Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 11, 13; Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes zu Sierra Leone v. 11.8.2021; USDOS – U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2016 v. 3.3.2017, 2017 v. 20.4.2018, 2018 v. 13.3.2019, 2019 v. 11.3.2020 sowie 2020 v. 30.3.2021; BFA Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, 21.10.2022, S. 23). Diese Quellen gehen jedoch davon aus, dass das Gesetz in der Praxis gerade nicht angewendet wird. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, allein nicht als Verfolgungsmaßnahme qualifiziert werden (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12, C-200/12, C-201/12 – NVwZ 2014, 312). Aus dem bloßen Bestehen eines entsprechenden Gesetzes in Sierra Leone, das aber in der Praxis nicht angewandt wird, kann sich demnach keine relevante Bedrohung für Homosexuelle ergeben. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Dokumentation von Verhaftungen von LGBTIQ-Personen (vgl. hierzu und nachfolgend JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 13.). Zwar gab es in dem Zeitraum von Dezember 2015 bis Frühjahr 2018 insgesamt fünf Verhaftungen. Dies allein führt aber nicht dazu, dass die geforderte Intensität einer Verfolgungshandlung vorläge, zumal die Polizei fast alle Personen nach spätestens einem Tag – wenngleich in einigen Fällen gegen Kaution – wieder freigelassen hat.
20
Den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist weiter zu entnehmen, dass Homosexualität von vielen Teilen der Bevölkerung abgelehnt und als Verstoß gegen traditionelle Normen und Werte betrachtet wird (vgl. Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes zu Sierra Leone vom v. 11.8.2021; USDOS – U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2016 v. 3.3.2017, 2017 v. 20.4.2018, 2018 v. 13.3.2019, 2019 v. 11.3.2020 sowie 2020 v. 30.3.2021; BFA Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, 21.10.2022, S. 23). Es wird berichtet, dass LGBTIQ-Personen neben der Ablehnung und Leugnung durch die eigene Familie auch Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Jobsuche hätten, Privathotels doppelte Preise für gleichgeschlechtliche Bewohner verlangten und Ladenbesitzer bei Verdacht auf einen Umgang mit LGBTIQ-Kunden die Annahme von Geld ablehnten (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 18f., 22f.). Auch bei der Suche nach medizinischer Hilfe komme es zu Diskriminierungen (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 23). Sierra Leone belegte auf dem Global LGBT Acceptance Index (GAI) im Zeitraum 2000 bis 2004 mit 4,2 Punkten Rang 119 und sank im Zeitraum 2012 bis 2017 auf 3,1 Punkte und Rang 134 ab (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 18).
21
Es liegen jedoch keine Erkenntnisse vor, dass eine Ausgrenzung von LGBTIQ-Personen und deren Unterstützer durch Teile der Gesellschaft im Allgemeinen die Intensität einer schutzrelevanten Bedrohung i.S.d. § 3a AsylG oder § 4 AsylG erreichen würde (so auch VG Augsburg, U.v. 10.1.2018 – Au 4 K 17.32392 – beck-online Rn 17).
22
Auch liegen keine Erkenntnisse dahingehend vor, dass staatliche Stellen in Sierra Leone Personen mit homosexueller Orientierung selbst und deren Unterstützer grundsätzlich keinen Schutz gewähren würden (so auch BayVGH, B.v. 23.11.2017 – 9 ZB 17.30302 – juris Rn 4; B.v. 27.3.2018 – 9 ZB 18.30439 – juris Rn 6). Zwar weisen die Erkenntnismittel darauf hin, dass es vereinzelt zu Übergriffen gekommen sein soll und staatliche Behörden nicht streng genug hiergegen vorgingen (vgl. USDOS – U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2016 v. 3.3.2017, 2017 v. 20.4.2018, 2018 v. 13.3.2019, 2019 v. 11.3.2020 sowie 2022 v. 30.03.2023; Amnesty International, Länderreport 2014/15 zu Sierra Leone v. 25.2.2015; Länderreport 2019 zu Sierra Leone v. 8.4.2020). Vereinzelt geschilderte Übergriffe belegen jedoch nicht die grundsätzliche Schutzunwilligkeit oder Schutzunfähigkeit des Staates (vgl. BayVGH, B.v. 23.11.2017 – 9 ZB 17.30302 – juris Rn 4; B.v. 27.3.2018 – 9 ZB 18.30439 – juris Rn 6). Es ergeben sich aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln Anzeichen für eine langsame Annäherung zwischen der Regierung und Polizei und der LGBTIQ-Minderheit. So hat die Regierung Sierra Leones im Jahr 2018 eine Organisation für Transsexuelle registriert (USDOS – U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2019, 11.3.2020 und 2020 v. 30.3.2021) und die Human Rights Commission Sierra Leone (HRCSL) ermutigt, weiterhin das Bewusstsein für LGBTIQ in der Gesellschaft Sierra Leones zu verbessern (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 17). Auch berichten LGBTIQ-Organisationen, dass die Polizei LGBTIQ-Personen trotz vorhandener Vorurteile mit deutlich vermehrtem Verständnis behandelt (USDOS – U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2020 v. 30.3.2021, S. 22). Dies zeigt, dass in den letzten ein Umdenkungsprozess in Sierra Leone in Gang gekommen ist. Überdies ergibt sich aus den Angaben des Klägers nicht, dass ihm von staatlicher Seite Schutz verwehrt worden wäre. Vielmehr hat sich der Kläger gar nicht an die Polizei gewandt.
23
b. Der Vortrag des Klägers ist aus Sicht des Gerichts überdies nicht geeignet, das auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutzes gerichtete Begehren des Klägers zu tragen.
24
Das Gericht erachtet es bei Würdigung der Angaben des Klägers und des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks für glaubhaft, dass der Kläger homosexuell ist, von seiner Stiefmutter beim Geschlechtsverkehr ertappt und deswegen von seiner Familie, insbesondere seinem Vater, abgelehnt wird und sogar verstoßen wurde. Dies allein erreicht jedoch – ebenso wie die Ablehnung von Homosexuellen durch Teile der Bevölkerung Sierra Leones – nicht die Intensität einer schutzrelevanten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG) bzw. eines ernsthaften Schadens (§ 4 AsylG).
25
Die Angaben des Klägers zu dem tätlichen Angriff durch die Nachbarn und zu dem Versuch des Gemeindeoberhaupts, den Kläger festzunehmen, erachtet das Gericht dagegen bereits nicht für glaubhaft. Der Kläger konnte durch seinen insoweit äußerst detailarmen Vortrag nicht überzeugend erklären, wie es ihm gelungen sein soll, den körperlichen Übergriffen zu entkommen. Gegenüber dem Bundesamt hat der Kläger angegeben, geschlagen worden zu sein und von dem Angriff eine blutende Wunde davon getragen zu haben. Nach den Details dieser Situation gefragt, hat der Kläger gegenüber dem Bundesamt lediglich ausgeführt, dass viele Menschen ihn geschlagen hätten, er in einer schlechten Situation gewesen sei und gedacht habe, er würde sterben, Gott ihm jedoch erlaubt habe, wegzurennen. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger auf die Frage, wie er es geschafft habe, zu entkommen, lediglich angegeben, dass die Leute, die gekommen waren, noch nicht so viele gewesen seien und er habe entkommen können, bevor noch mehr gekommen seien. Das Gericht erachtet es für unrealistisch, dass sich der Angriff durch die Nachbarn so wie vom Kläger geschildert zugetragen hat. Gleiches gilt für die vom Kläger angeführte Bedrohung durch das Gemeindeoberhaupt, da die Angaben des Klägers hierzu widersprüchlich sind. Gegenüber dem Bundesamt hat der Kläger angegeben, dass das Gemeindeoberhaupt gesagt habe, dass es den Kläger und seinen Sexualpartner festnehme. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger dagegen an, dass die Nachbarn damit gedroht hätten, die Polizei und das Gemeindeoberhaupt zu rufen. Es drängt sich daher der Eindruck auf, dass es sich hierbei ebenso wie bei dem vermeintlichen Angriff durch die Nachbarn um eine vom Kläger erdachte Steigerung der tatsächlichen Geschehensabläufe handelt. Die Zweifel an der Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags erhärten sich dabei dadurch, dass der Kläger auch auf Bitte des Bundesamts, Details zu der beabsichtigten Festnahme zu schildern, lediglich pauschal ausgeführt hat, dass das Gemeindeoberhaupt den Befehl gebe, Personen zu erhängen, wenn diese erwischt würden und er weggerannt sei, als die Nachbarn dabei gewesen seien, ihn und seinen Sexualpartner zu verprügeln.
26
c. Aus den vom Kläger vorgetragenen, seine Flucht auslösenden Geschehnissen folgt unabhängig von der Glaubhaftmachung des Vortrags (siehe hierzu soeben) selbst bei Wahrunterstellung weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) noch ein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG), da dem Kläger jedenfalls das Ausweichen auf eine inländische Fluchtalternative i.S.v. § 3e AsylG möglich und zumutbar ist.
27
(1) Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG, der für den subsidiären Schutz entsprechend gilt (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG), wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
28
(2) Angesichts der in Sierra Leone bestehenden infrastrukturellen Mängel – insbesondere besteht kein funktionsfähiges Meldewesen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Freiburg vom 17.10.2017) – ist nicht ersichtlich, wie Personen nach einer Rückkehr nach Sierra Leone und einem Umzug in eine größere Stadt des Landes bemerkt bzw. gesucht und aufgefunden werden könnten. Nach der Auskunftslage können nicht einmal die staatlichen Behörden solche überörtlichen Fahndungen effektiv durchführen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Regensburg vom 4.11.2019). Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger in einer größeren Stadt wie Makeni, Bo oder Kenema vor einer etwaigen Verfolgung durch seine Familie, insbesondere durch seinen Vater, sowie durch das Gemeindeoberhaupt geschützt ist, selbst falls diese noch ein Interesse an dem Kläger haben sollten.
29
(3) Vom dem Kläger kann nach seinen persönlichen Verhältnissen auch erwartet werden, sich am Ort des internen Schutzes niederzulassen.
30
Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums auf einem Niveau, welches eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüberhinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzungen der Zumutbarkeit der Niederlassung. Der Kläger soll wegen der allgemeinen Verhältnisse nicht gezwungen sein, die Verfolgungssicherheit aufzugeben und in das ursprüngliche Verfolgungsgebiet zurückzukehren oder sich in andere Landesteile zu begeben, in welchen ihm möglicherweise Verfolgung oder andere Formen von schwerem Schaden drohen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 27 ff.). Maßstab für die Zumutbarkeit sind weder eine „(hypothetische) vernünftige Person“ noch eine von individuellen Besonderheiten abstrahierende Betrachtungsweise; vielmehr sind – im Rahmen einer konkret-individuellen Betrachtungsweise – der Kläger und seine konkreten Möglichkeiten, am Ort des internen Schutzes zu (über) leben, in den Blick zu nehmen (BVerfG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 31). Ferner schließen auch materielle Existenzbedingungen am Ort des internen Schutzes, welche die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausfüllen, die Zumutbarkeit aus (BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 67). Dies bedeutet, dass die Zumutbarkeit der Niederlassung im Rahmen des § 3e AsylG stets zu verneinen ist, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen wäre (Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 17. Edition Stand 15.10.2023, § 3e Rn. 40). Dies ist jedoch nicht der Fall.
31
(a) Dem Kläger kann zugemutet werden, sich in Sierra Leone erforderlichenfalls außerhalb seiner Heimatregion an einem neuen Wohnort niederzulassen und sich sein Existenzminimum dort selbst zu verdienen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Das Gericht berücksichtigt dabei, dass es angesichts der Wirtschaftslage und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen nicht leicht sein dürfte, in Sierra Leone an einem neuen Wohnort ohne soziales Netzwerk erfolgreich Fuß zu fassen. Hieraus folgt jedoch nur in Ausnahmefällen die Unzumutbarkeit des internen Schutzes, wenn zu erwarten ist, dass dem Betroffenen am Zielort das durch Art. 3 EMRK gewährleistete elementare wirtschaftliche Existenzminimum nicht zur Verfügung stehen würde oder eine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Rechte oder eine sonstige unerträgliche Härte droht (vgl. BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – NVwZ 2021, 878 Leitsatz 1).
32
Einen solchen, eng zu handhabenden Ausnahmefall kann der Kläger nicht in Anspruch nehmen.
33
Sierra Leone gehört zu den an wenigsten entwickelten Ländern Welt und ist von harten wirtschaftlichen Lebensumständen geprägt (vgl. FCDO, Foreign, Commonwealth & Development Office, Economic Factsheet, Stand Oktober 2021; Bertelsmann Stiftung, Transformation Index (BTI) 2020 – Sierra Leone Country Report; Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), LIPortal, Sierra Leone, Stand Dezember 2020). Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,2 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 539,1 US-Dollar (FCDO, Foreign, Commonwealth & Development Office, Economic Factsheet, Stand Oktober 2020) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 181 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 70%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 1,25 bis 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung; die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch, wobei die Jugendarbeitslosigkeit ein besonderes Problem darstellt (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2020 – Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2020; Westphal in LIPortal, Sierra Leone, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Stand Dezember 2020). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 57,4% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert; der Dienstleistungssektor trägt mit 32,8% und der Industriesektor mit 5,6% zum Bruttoinlandsprodukt bei (FCDO ebd.). Die Mehrheit versucht, mit Gelegenheitsjobs oder als Händler ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnliche Tätigkeiten, etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 – 11 A 633/05.A – juris Rn 28).
34
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Ls. 1) ist Maßstab für die nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
35
Trotz der dargestellte, als äußerst schwierig zu bezeichnenden Lebensumstände in Sierra Leone ist davon auszugehen, dass der Kläger als junger, erwerbsfähiger, alleinstehender Mann ohne Unterhaltspflichten ein Existenzminimum für sich als Einzelperson – wenn auch womöglich nur durch Gelegenheitsjobs – erwirtschaften kann (vgl. die st.Rspr. des Gerichts; vgl. auch VG Regensburg, U.v. 11.02.2019 – RN 14 K 17.3514 – juris). Der Kläger verfügt über Schulbildung und ist mit den Gepflogenheiten und der Sprache des Landes vertraut. Zudem konnte der Kläger durch seine Ausbildung und seine Berufstätigkeit als Koch in Deutschland Berufserfahrung sammeln. Hinzu kommt, dass es dem Kläger zumutbar ist, Leistungen aus den – überwiegend an die freiwillige Ausreise anknüpfenden – Rückkehrprogrammen wie dem REAG/GARP-Programm in Anspruch zu nehmen (vgl. hierzu https://www.returningfromgermany.de/de/countries/sierra-leone/). Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris Rn. 27). Derzeit sehen die Rückkehrprogramme für Sierra Leone als finanzielle Unterstützungsleistungen die Zahlung von Flug- oder Bustickets, Reisebeihilfen i.H.v. 200,00 EUR pro volljähriger Person, medizinische Unterstützungen während der Reise sowie im Zielland (maximal 2.000,00 EUR für bis zur drei Monate nach Ankunft) und eine einmalige Förderung i.H.v. 1000,00 EUR pro Person vor (vgl. hierzu https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp/). Hinzu kommt als ergänzende Reintegrationsunterstützung für Sierra Leone die sog. „StarthilfePlus“-Maßnahme in einem Zeitraum von sechs bis acht Monaten nach der Ausreise i.H.v. 1.000,00 EUR für Einzelpersonen (vgl. hierzu https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/ergaenzende-reintegrations-unterstuetzung-im-zielland-bei-einer-freiwilligen-rueckkehr-mit-reag-garp).
36
Obwohl der Kläger bereits im Alter von etwa 15 bis 16 Jahren aus Sierra Leone ausgereist ist und seine Existenzgrundlage dort zunächst durch seine Familie und schließlich durch seinen späteren Partner gesichert wurde, ist das Gericht angesichts der Gewährung von Rückkehrhilfen und der vom Kläger seit seiner Ausreise hinzugewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen der Auffassung, dass der Kläger in der Lage sein wird, durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ein hinreichendes – wenn auch kleines – Einkommen zu erzielen.
37
(b) Die im Rahmen von § 3e AsylG (i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG) ebenfalls zu prüfenden Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Anhaltspunkte hierfür wurden vom Kläger weder vorgetragen noch sind sie für das Gericht ersichtlich.
38
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
39
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung.