Titel:
Erfolgreicher Eilantrag gegen vermeintliche Rücknahme des Asylantrags
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 14 Abs. 1 S. 3, § 17 Abs. 1, § 32
AsylverfahrensRL Art. 12 Abs. 1 lit a S. 2, lit. b
Leitsatz:
Wird die Rücknahme eines Asylantrags zur Niederschrift erklärt, ohne dass der Asylsuchende seinerseits für einen Sprachmittler gesorgt hätte, ist ein solcher in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 1 AsylG von Amts wegen hinzuzuziehen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland Türkei, einstweiliger Rechtsschutz (erfolgreich), unwirksame Rücknahme des Asylantrages, keine Hinzuziehung eines Sprachmittlers, fehlende Belehrung, Antragsrücknahme, Belehrungspflicht, Sprachmittler, Rücknahmeerklärung, Dolmetscher, Belehrungsdokumentation
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15707
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Januar 2024 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
1
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger und reiste nach eigenen Angaben am 19. August 2023 in das Bundesgebiet ein.
2
Am 26. September 2023 stellte er bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) in Manching einen Asylantrag und wurde zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zu seinem Reiseweg befragt. Dem Antragsteller wurde im Anschluss das Formblatt „Wichtige Mitteilung“, welches eine Belehrung des Antragstellers zu seinen Mitwirkungspflichten sowie allgemeine Verfahrenshinweise enthält, ausgehändigt. Das Asylantragsformular, die Empfangsbestätigung für das Belehrungsformblatt, die Einwilligung in die Speicherung der Religionszugehörigkeit sowie die Niederschrift über das Dublin-Gespräch, welches auf Türkisch durchgeführt wurde, wurden jeweils von dem hinzugezogenen Sprachmittler für die Sprache Türkisch unterschrieben.
3
Am 24. Oktober 2023 sprach der Antragsteller erneut bei der Außenstelle des Bundesamtes vor und unterzeichnete eine formularmäßige „Erklärung über die Rücknahme des Asylantrages“. Das Dokument ist ausschließlich in deutscher Sprache verfasst und enthält abgesehen von einer Anhörung zum Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes keine weitergehenden Belehrungen. Das für einen etwaig hinzugezogenen Sprachmittler vorgesehene Unterschriftsfenster blieb leer.
4
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 11. Januar 2024 wurde das Asylverfahren eingestellt (Ziff. 1) und festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen (Ziff. 2). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er in die Türkei oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben (Ziff. 3). In Ziff. 4 des Bescheids wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antragsteller seinen Asylantrag am 24. Oktober 2023 zurückgenommen habe und Gründe für die Feststellung eines Abschiebungsverbots bzw. Gründe, die der Abschiebungsandrohung entgegenstünden, nicht ersichtlich seien. Der Bescheid wurde am 12. Januar 2024 als Einschreiben zur Post gegeben.
5
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 25. Januar 2024 Klage erhoben (M 28 K 24.30244), über die bislang noch nicht entschieden wurde, und zugleich Eilrechtsschutz beantragt.
6
Der Antragsteller habe am 24. Oktober 2023 die Außenstelle des Bundesamtes aufgesucht, um eine Arbeitserlaubnis zu beantragen. Der Antragsteller habe völlig unzureichende Sprachkenntnisse und habe bei seiner Vorsprache mehrfach das ihm bekannte Wort „Arbeitserlaubnis“ verwendet. Daraufhin sei er, ohne dass ein Übersetzer anwesend gewesen sei, zur Unterzeichnung des Rücknahmeformblatts aufgefordert worden. Er sei davon ausgegangen, dass es sich um einen Antrag auf Arbeitserlaubnis handele und auf seine Nachfrage hin sei ihm versichert worden, dass alles in Ordnung sei, wenn er unterschreibe. Hätte er gewusst, dass es sich um die Rücknahme seines Asylantrages handelt, hätte er keinesfalls unterschrieben.
7
Der Antragsteller beantragt,
8
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen.
9
Die Antragsgegnerin beantragt,
10
den Antrag abzulehnen.
11
Es lägen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass der Antragsteller seinen Asylantrag nicht habe zurücknehmen wollen. Weiter wurde eine Stellungnahme der die Rücknahmeerklärung aufnehmenden Sachbearbeiterin vom 5. März 2024 vorgelegt. Darin wird erklärt, dass kein Aktenvermerk angefertigt und auch kein Sprachmittler hinzugezogen worden sei, da dies nach der „DA-AVS“ nicht erforderlich wäre. Es entspreche jedoch dem üblichen Vorgehen, bei Sprachbarrieren einen neuen Termin zur Vorsprache zu vereinbaren und einen Sprachmittler hinzuzuziehen. Antragsteller, die eine Arbeitserlaubnis beantragen, würden an die zuständige Ausländerbehörde verwiesen. Über den genauen Gesprächsverlauf mit dem Antragsteller könne sie sich nicht erinnern.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten des Klage- und Eilverfahrens sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
13
Der zulässige Antrag ist begründet.
14
Der Antrag ist zulässig, insbesondere wurde er fristgerecht innerhalb der Antragsfrist gestellt. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz bezieht sich auf eine Klage, die fristgemäß innerhalb der gemäß § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zweiwochenfrist erhoben wurde. Die auf eine Woche verkürzte Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG gilt im vorliegenden Fall nicht, da §§ 36, 37 AsylG weder ausdrücklich noch entsprechend Anwendung findet (Heusch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2024, § 32 AsylG Rn. 34).
15
Der Antrag ist auch begründet.
16
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des vorliegend aus § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG (hier Fall des § 38 Abs. 2 AsylG – Ausreisefrist eine Woche im Falle der Rücknahme des Asylantrags) folgenden gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
17
Bei der Entscheidung über den vorliegenden Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen. Hierbei ist insbesondere auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen. Erweist sich der angegriffene Verwaltungsakt bei der im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes einzig möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtswidrig, sodass die Klage Erfolg hätte, kann kein überwiegendes öffentliches Interesse am Vollzug des rechtswidrigen Verwaltungsaktes bestehen. Umgekehrt kann der Antragsteller kein schutzwürdiges privates Interesse daran haben, von der Vollziehung eines rechtmäßigen Verwaltungsakts verschont zu bleiben.
18
Bei summarischer Prüfung der Einstellungsentscheidung des Bundesamtes und der darauf beruhenden Abschiebungsandrohung ergibt sich, dass diese im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben werden, da sie rechtswidrig ergangen sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
19
Das Bundesamt hat das Asylverfahren des Antragstellers zu Unrecht nach § 32 AsylG eingestellt, da es an einer wirksamen Antragsrücknahme fehlt.
20
Gemäß § 32 AsylG stellt das Bundesamt im Falle der Antragsrücknahme fest, dass das Asylverfahren eingestellt ist.
21
Für die Antragsrücknahme bestehen keine Formvorschriften. Die überwiegend vertretene Auffassung, der sich der Einzelrichter anschließt, geht jedoch davon aus, dass die Rücknahmeerklärung in der gleichen Form wie ein Antrag im Sinne des § 14 AsylG zu erfolgen hat, die Rücknahme also schriftlich oder zur Niederschrift erfolgen müsse, (Heusch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2024, § 32 AsylG Rn. 34; Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2024, § 32 AsylG Rn. 16 mit Verweis auf § 64 VwVfG).
22
Diese Voraussetzung erfüllt die am 24. Oktober 2023 bei der Außenstelle des Bundesamtes aufgenommene Erklärung dem Grunde nach.
23
Wird die Rücknahme jedoch zur Niederschrift erklärt, ohne dass der Asylbewerber seinerseits für einen Sprachmittler gesorgt hätte, so ist ein solcher in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 1 AsylG von Amts wegen hinzuzuziehen (VG München, B.v. 2.1.2018 – M 9 S 17.46829 – juris Rn. 22; Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2024, § 32 AsylG Rn. 18). Hierfür spricht auch die in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b) RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie) enthaltene allgemeine Verfahrensgarantie, nach der erforderlichenfalls ein Dolmetscher beizuziehen ist.
24
Dies ist ausweislich der vorliegenden Rücknahmeerklärung sowie nach Auskunft der Antragsgegnerin nicht erfolgt, sodass die abgegebene Rücknahmeerklärung unwirksam ist.
25
Angesichts dessen, dass der Antragsteller ausweislich der Behördenakte bei Stellung des Asylantrags nur wenige Wochen zuvor noch auf einen Sprachmittler angewiesen war, das Rücknahmeformblatt keine Übersetzung ins Türkische enthält und der Antragsteller nach Auskunft seines Bevollmächtigten auch zum jetzigen Zeitpunkt nur unzureichende Sprachkenntnisse aufweist, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass dem Antragsteller der Inhalt und die Rechtsfolgen der Rücknahmeerklärung ohne die Hinzuziehung eines Sprachmittlers bewusst waren. Eine formularmäßige Übersetzung der Rücknahmeerklärung ins Türkische lag ebenfalls nicht vor.
26
Hinzu kommt, dass der Antragsteller nicht ausreichend über die Folgen der Rücknahme seines Asylantrages belehrt wurde.
27
Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 AsylG ist der Ausländer vor der Antragstellung schriftlich und gegen Empfangsbestätigung darauf hinzuweisen, dass nach Rücknahme seines Asylantrages die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 10 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes Beschränkungen unterliegt. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a) Satz 2 der Asylverfahrensrichtlinie sieht ebenfalls vor, dass Antragsteller über die Folgen einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Rücknahme des Antrags unterrichtet werden.
28
Insbesondere bei Unterzeichnung eines vom Bundesamt vorformulierten Textes trifft die Behörde eine umfassende Beratungspflicht, § 25 VwVfG (Fränkel in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 32 AsylG Rn. 5). Die Belehrung ist angesichts der gravierenden Konsequenzen eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Rücknahmeerklärung (a.a.O.).
29
Ausweislich der Belehrungsdokumentation des Bundesamtes ist indes lediglich eine Belehrung hinsichtlich der Mitwirkungsobliegenheiten sowie bezüglich der Folgen des Nichtbetreibens des Verfahrens erfolgt. Auf die Folgen der ausdrücklichen Rücknahme des Asylantrages wurde der Antragsteller nicht hingewiesen. Auch wurde der für die Fälle der Antragsrücknahme maßgebliche § 32 AsylG in dem Belehrungsdokument -im Gegensatz etwa zu § 33 AsylG – nicht abgedruckt. Auch auf dem am 24. Oktober 2023 unterschriebenen Formblatt zur Antragsrücknahme befindet sich keine Belehrung über die Rechtsfolgen der Antragsrücknahme. Dort wird lediglich in deutscher Sprache zum Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots angehört.
30
Somit fehlt es nach summarischer Prüfung an einer wirksamen Rücknahme des Asylantrages, sodass die Einstellungsentscheidung rechtswidrig erging und im Hauptsacheverfahren aufzuheben sein wird. Während des dann (weiter) durchzuführenden Asylverfahrens ist der Aufenthalt des Antragstellers gestattet, § 55 Abs. 1 AsylG, sodass sich auch die streitgegenständliche Abschiebungsandrohung als rechtswidrig erweist.
31
Nach alledem war dem Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, deshalb stattzugeben.
32
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).