Titel:
Darlegungsanforderungen im Beschwerdeverfahren
Normenketten:
VwGO § 117 Abs. 5 VwGO analog, § 146 Abs. 4 S. 3, S. 4, § 152 Abs. 1, § 154 Abs. 2
StVG § 3 Abs. 4 S. 1, S. 2
Leitsätze:
1. Eine Beschwerde muss die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Ein Beschwerdeführer hat daherkonkret aufzeigen, in welchen Punkten und weshalb die Entscheidung aus seiner Sicht nicht tragfähig und überprüfungsbedürftig ist, was voraussetzt, dass er den Streitstoff prüft, sichtet, rechtlich durchdringt und sich mit den Gründen des angegriffenen Beschlusses befasst. Wird diesen Anforderungen nicht genügt, ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausgehend vom Zweck des Darlegungsgebots, die Oberverwaltungsgerichte durch ein strukturiertes, auf den Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts aufbauendes Beschwerdevorbringen zu entlasten, fehlt es an der nötigen inhaltlichen Auseinandersetzung mit einer angefochtenen Entscheidung insbesondere dann, wenn der Beschwerdeführer lediglich sein Vorbringen aus erster Instanz wiederholt, sich mit pauschalen, formelhaften Rügen begnügt oder eine eigene Würdigung der Sach- und Rechtslage vorträgt, die im Ergebnis von derjenigen des Verwaltungsgerichts abweicht. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist eine gebundene Entscheidung. Die Verwaltungsgerichte haben daher grundsätzlich von Amts wegen umfassend und unabhängig von der gegebenen Begründung zu prüfen, ob das materielle Recht die getroffene Regelung rechtfertigt oder nicht, und dazu gegebenenfalls auch die erforderliche Aufklärung nachzuholen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen charakterlicher Ungeeignetheit, negatives medizinisch-psychologisches Gutachten, Einwände gegen die tatsächlichen Annahmen des Gutachtens, unzureichende Darlegung der Überprüfungsbedürftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung, Vorrang einer Ergänzung des Gutachtens gegenüber der sofortigen Aufhebung des Bescheids bei (etwaigen) Mängeln im Randbereich, Darlegung im Beschwerdeverfahren, Darlegungsanforderungen, unzulässige Beschwerde, Entziehung der Fahrerlaubnis, Unzureichende Darlegung der Überprüfungsbedürftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 29.04.2024 – W 6 S 24.564
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15383
Tenor
I. Die Beschwerde wird verworfen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen AM, B und L.
2
Am 21. September 2020 verursachte der Antragsteller auf der BAB 70 einen Verkehrsunfall, bei dem er und sein Beifahrer leicht verletzt wurden. Der Anzeige des Beifahrers wegen fahrlässiger Körperverletzung gab die Staatsanwaltschaft keine Folge, sondern verwies diesen auf die Privatklage. Die Zentrale Bußgeldstelle im Bayerischen Polizeiverwaltungsamt ahndete die Tat als mit einem Punkt bewertete Ordnungswidrigkeit (Fahren mit nicht angepasster Geschwindigkeit, Tatbestandsnummer 103602 nach dem Bundeseinheitlichen Tatbestandskatalog). Das Landratsamt S. (Fahrerlaubnisbehörde) ordnete deswegen die Teilnahme an einem Aufbauseminar für Fahranfänger an.
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Unter dem 26. Januar 2022 teilte die Polizeiinspektion S. der Fahrerlaubnisbehörde mit, der Antragsteller habe im Oktober 2021 versucht, mit einem verfälschten Führerschein ein Fahrzeug anzumieten, für welches die Fahrerlaubnis der Klasse C erforderlich sei. Der Antragsteller habe den Anschein erwecken wollen, die erforderliche Fahrerlaubnis innezuhaben, und eine Urkundenfälschung begangen. Die Staatsanwaltschaft S. sah gemäß § 45 Abs. 2 JGG gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 250 Euro von der Verfolgung ab.
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Ein Ermittlungsverfahren wegen Nötigung und Freiheitsberaubung, das aufgrund seiner Tätigkeit als Sicherheitskraft bei einer Veranstaltung im März 2023 gegen den Antragsteller eingeleitet worden war, stellte die Staatsanwaltschaft S. nach § 170 Abs. 2 StPO ein.
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Am 19. April 2023 kam es auf der Bundesstraße 303 zu einem Verkehrsunfall unter Beteiligung eines vom Antragsteller geführten Fahrzeugs mit Anhänger. Mit im Schuldspruch rechtskräftigem Strafbefehl vom 12. Juni 2023 verurteilte das Amtsgericht Haßfurt den Antragsteller aufgrund dieses Vorfalls wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Tateinheit mit fahrlässigem Fahren ohne Fahrerlaubnis. Auf den in der Hauptverhandlung auf die Rechtsfolgen beschränkten Einspruch des Antragstellers hin verhängte das Amtsgericht Haßfurt mit rechtskräftigem Urteil vom 27. September 2023 eine Geldstrafe und sprach ein Fahrverbot für die Dauer von sechs Monaten aus.
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Auf Anordnung des Landratsamts legte der Antragsteller ein medizinisch-psychologisches Gutachten des TÜV ... vom 5. Februar 2024 vor. Dieses kommt zu dem Ergebnis, aufgrund der aktenkundigen erheblichen Straftat/en im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr bzw. mit der Kraftfahreignung sei zu erwarten, dass der Antragsteller zukünftig erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Der Antragsteller habe aufgrund einer verminderten Kontroll- und Anpassungsfähigkeit vermehrt oder erheblich gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen. Er sei u.a. nach einem schweren, selbst verursachten Verkehrsunfall und einer qualifizierten fahreignungsfördernden Maßnahme (Aufbauseminar) erneut mit risikobereitem Verhalten im Straßenverkehr auffällig geworden. Ein ausreichendes Problembewusstsein und eine Motivation zur Einstellungsänderung seien insgesamt nicht erkennbar. Insbesondere bestünden hinsichtlich des früheren Fehlverhaltens noch Bagatellisierungstendenzen.
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Mit Bescheid vom 19. März 2024 entzog das Landratsamt dem Antragsteller nach Anhörung unter Bezugnahme auf dieses Gutachten die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, den Führerschein spätestens sieben Tage nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner ordnete es die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an.
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Am 5. April 2024 erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg (W 6 K 24.563) und stellte gleichzeitig einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 29. April 2024 ablehnte. Das vorgelegte Gutachten stelle eine neue Tatsache mit selbständiger Bedeutung dar, deren Verwertbarkeit nicht von der Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung abhänge. Nach dem tragfähigen Fahreignungsgutachten vom 5. Februar 2024 sei der Antragsteller als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Anders als der Antragsteller meine, gehe dieses von einem zutreffenden Sachverhalt aus und lege seine Schlussfolgerungen anhand der Beurteilungskriterien nachvollziehbar sowie schlüssig dar.
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Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde lässt der Antragsteller erneut ausführen, das Gutachten gehe von einem unzutreffenden Sachverhalt aus und beruhe daher auf einer mangelhaften tatsächlichen Grundlage.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
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Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO als unzulässig zu verwerfen.
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1. Nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO muss eine Beschwerde die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen (§ 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO). „Darlegen“ bedeutet dabei schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als lediglich ein allgemeiner Hinweis; „etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (vgl. BVerwG, B.v. 9.3.1993 – 3 B 105.92 – NJW 1993, 2825 = juris Rn. 3; Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 73). Der Beschwerdeführer muss daher ausgehend von der Entscheidung konkret aufzeigen, in welchen Punkten und weshalb sie aus seiner Sicht nicht tragfähig und überprüfungsbedürftig ist, was voraussetzt, dass er den Streitstoff prüft, sichtet, rechtlich durchdringt und sich mit den Gründen des angegriffenen Beschlusses befasst (Guckelberger, a.a.O. Rn. 76).
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An der nötigen inhaltlichen Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung fehlt es, wenn der Beschwerdeführer lediglich sein Vorbringen aus erster Instanz wiederholt oder sich mit pauschalen, formelhaften Rügen begnügt. Ferner reicht es grundsätzlich nicht aus, wenn er lediglich eine eigene Würdigung der Sach- und Rechtslage vorträgt, die im Ergebnis von derjenigen des Verwaltungsgerichts abweicht. Vielmehr müssen die die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragenden Rechtssätze oder die dafür erheblichen Tatsachenfeststellungen mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt werden. Das Darlegungsgebot des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO dient dem Zweck, die Oberverwaltungsgerichte durch ein strukturiertes, auf den Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts aufbauendes Beschwerdevorbringen zu entlasten und so eine beschleunigte Abwicklung einstweiliger Rechtsschutzverfahren zu ermöglichen. Diese Intention des Gesetzgebers liefe leer, würde es zur Wahrung des Begründungserfordernisses ausreichen, Vorbringen aus dem ersten Rechtszug oder aus dem verwaltungsbehördlichen Verfahren schlicht zu wiederholen oder hierauf sogar nur zu verweisen (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 146 Rn. 22a ff.; Guckelberger, a.a.O. Rn. 75 ff.; BayVGH, B.v. 23.11.2010 – 11 CS 10.2550 – NVwZ-RR 2011, 422 = juris Rn. 7; B.v. 16.7.2015 – 11 CS 15.1195 – juris Rn. 2 f.; NdsOVG, B.v. 30.4.2024 – 12 ME 19/24 – juris Rn. 25).
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2. Hiervon ausgehend wird die Beschwerdebegründung trotz ihres Umfangs den Darlegungsanforderungen nicht gerecht.
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a) Soweit der Antragsteller erneut vorträgt, die Beibringungsanordnung sei rechtswidrig gewesen, setzt er sich nicht mit den auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowie des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (u.a. BVerwG, U.v. 28.4.2010 – 3 C 2.10 – BVerwGE 137, 10 Rn. 19; BayVGH, B.v. 18.1.2022 – 11 CS 21.1767 – juris Rn. 12) gestützten Ausführungen des Verwaltungsgerichts auseinander. Danach darf ein vorgelegtes Gutachten als neue Tatsache unabhängig davon verwertet werden, ob die Anordnung gerechtfertigt war.
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b) Hinsichtlich der Verwertbarkeit des Gutachtens beschränkt sich die Beschwerde auf den Einwand, dieses gehe von einem unzutreffenden Sachverhalt aus. Dazu hat das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss Folgendes ausgeführt:
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„Soweit moniert wird, der Vorfall aus dem Jahr 2021 (Urkundenfälschung) habe aufgrund des Absehens von der Verfolgung nicht bei der Bewertung der Fahreignung berücksichtigt werden dürfen und sei im Übrigen vom Antragsteller bestritten worden, greift dies nicht durch. Der zugrundeliegende Sachverhalt weist ungeachtet der genauen strafrechtlichen Einordnung/Sanktionierung ohne Weiteres straßenverkehrsrechtlichen Bezug auf und konnte zur Klärung der Fahreignung herangezogen werden. Wie oben bereits dargestellt, kommt es maßgeblich auf die Bewertung der im Rahmen des Untersuchungsgesprächs vom Antragsteller gemachten Angaben an. Die Begutachtung geht insoweit auch nicht von einem unzutreffenden Sachverhalt aus, wenn die Rede davon ist, der Antragsteller habe eine Geldstrafe zahlen müssen, was tatsächlich nicht zutrifft. Die Falschbezeichnung der entrichteten Geldauflage als Geldstrafe durch eine juristische Laiin schadet insoweit nicht. Es ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass im Rahmen der medizinisch-psychologischen Begutachtung nicht allein eine Bewertung des vergangenen Verhaltens des jeweiligen Betroffenen stattfindet, sondern eine Prognose im Hinblick auf ein zukünftig zu erwartendes verkehrsgerechtes Verhalten vorgenommen wird.
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Auch, dass die Gutachterin den Antragsteller auf die Anzeige wegen Nötigung und Freiheitsberaubung am 19. März 2023 angesprochen hat, führt zu keinem anderen Ergebnis. Es ist aus dem Gutachten erkennbar, dass dieses nicht davon ausgeht, der Antragsteller habe insoweit eine Straftat begangen oder sei deshalb gar verurteilt worden, da lediglich davon die Rede ist, ob er Parallelen zwischen den Verkehrsauffälligkeiten und seinem früheren Verhalten sehe. Diese Verknüpfung ist bei der erforderlichen Aufklärung der persönlichen Umstände des Antragstellers zulässig, jedenfalls stützt sich aber ungeachtet dessen das gefundene Ergebnis in keiner Weise auf diesen Vorfall.
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Zuletzt hatte der Antragsteller auch hinsichtlich des Unfalls am 27. September 2020 die Möglichkeit, seine Sicht unter Vorhalt des insoweit verfügbaren Akteninhalts zu schildern. Dies ist ebenfalls nicht zu beanstanden.“
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Das erstinstanzliche Vorbringen, der Antragsteller sei nach dem Unfall vom 19. April 2023 von seinem damaligen Arbeitgeber zur Weiterfahrt angewiesen worden und dem aus Verunsicherung und ohne weiteres Nachdenken gefolgt, hat das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss verarbeitet, indem es insoweit auf den Bescheid verwiesen hat (§ 117 Abs. 5 VwGO analog). Dort ist ausgeführt, das Fehlverhalten liege in der Person des Antragstellers und könne nicht auf den früheren Chef abgewälzt werden (S. 8 des Bescheids). Zudem folgt das Verwaltungsgericht insoweit dem Gutachten, das aus dieser Verteidigung auf das Fehlen einer selbstkritischen Einschätzung des früheren Verhaltens und deutliche Bagatellisierungstendenzen schließt (Beschlussabdruck S. 19 f.).
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Dieser eingehenden Würdigung des Gutachtens, die zwischen den verschiedenen dort als diagnostisch relevant zu Grunde gelegten Vorfällen unterscheidet, setzt die Beschwerde nichts Substanzielles entgegen. Sie wiederholt nahezu wörtlich den Vortrag aus der ersten Instanz, mit Blick auf die Vorfälle vom September 2020, Oktober 2021 und März 2023 werde dem Antragsteller zu Unrecht strafbares Verhalten vorgeworfen und mit Blick auf die Tat vom 19. April 2023 die Anweisung seines Arbeitgebers zum Weiterfahren nicht berücksichtigt. Der Bezug zur angegriffenen Entscheidung erschöpft sich hingegen in dem Einwurf, das Verwaltungsgericht habe sich mit den Einwendungen gegen das Gutachten sowie die dem Antragsteller vorgeworfenen Verfehlungen nicht ausreichend auseinandergesetzt (Beschwerdebegründung S. 8). Zudem verweist der Antragsteller (Beschwerdebegründung S. 2) auf den Vorrang des Fahreignungsbewertungssystems gegenüber den allgemeinen Vorschriften zur Überprüfung der Fahreignung (vgl. dazu Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 11 FeV Rn. 21), auf den das Verwaltungsgericht zu Recht nicht näher eingegangen ist, nachdem das Gutachten vorgelegt wurde. Das wird den vorgenannten Anforderungen an die Darlegung nicht ansatzweise gerecht.
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3. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die tatsächlichen Annahmen des Gutachtens aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen voraussichtlich auch in der Sache nicht zu beanstanden wären (vgl. allgemein zur Verwertbarkeit von Gutachten BayVGH, B.v. 21.3.2023 – 11 CS 23.273 – Blutalkohol 60, 427 = juris Rn. 25). Eine Annahme des Gutachtens, der Antragsteller habe im März 2023 eine Nötigung und Freiheitsberaubung begangen, lässt sich diesem, wie vom Verwaltungsgericht ausgeführt, nicht entnehmen. Ebenso wenig ist erkennbar, dass die Gutachter entgegen dem insoweit gemäß § 3 Abs. 4 Sätze 1 und 2 StVG Bindungswirkung entfaltenden Strafbefehl davon ausgegangen wären, der Antragsteller sei am 19. April 2023 vorsätzlich und nicht lediglich fahrlässig ohne die erforderliche Fahrerlaubnis gefahren. Vielmehr wird in dem Gutachten (S. 3, 6) an mehreren Stellen die Verurteilung wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zitiert. Soweit sich dem Gutachten die Überzeugung entnehmen lässt, der Antragsteller habe im Oktober 2021 eine Urkundenfälschung begangen und bagatellisiere sein eigenes Fehlverhalten bei dem Unfall am 21. September 2020, ist dagegen nach Aktenlage, u.a. mit Blick auf das im Gutachten wiedergegebene Ergebnis des psychologischen Untersuchungsgesprächs, nichts zu erinnern.
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Doch selbst wenn das Gutachten in Randbereichen auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen beruhen sollte bzw. insoweit im Hauptsachverfahren Zweifel verblieben, ist für den Senat nicht erkennbar, dass dies zur Aufhebung des angegriffenen Bescheids führen könnte. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist eine gebundene Entscheidung. Daher haben die Verwaltungsgerichte grundsätzlich von Amts wegen umfassend und unabhängig von der gegebenen Begründung zu prüfen, ob das materielle Recht die getroffene Regelung rechtfertigt oder nicht, und dazu ggf. auch die erforderliche Aufklärung nachzuholen (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, § 113 Rn. 29). In diesem Sinn hat das Bundesverwaltungsgericht geäußert, das Tatsachengericht habe dann, wenn ein Fahreignungsgutachten dem Betroffenen die Eignung abspreche, aber in seiner Begründung nicht ohne Weiteres überzeuge, sondern ergänzungs- oder erläuterungsbedürftig scheine, die Eignungsfrage abschließend zu klären (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.1996 – 11 B 14.96 – DAR 1996, 332 = juris Rn. 3). Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen kann zwar in Betracht kommen, weil das Fahrerlaubnisrecht für die Sachaufklärung ein spezielles Verfahren vorsieht und diese danach im Behördenverfahren durch ein vom Betroffenen vorzulegendes Fahreignungsgutachten zu leisten ist (vgl. BayVGH, B.v. 14.9.2022 – 11 CS 22.876 – juris Rn. 33; B.v. 23.8.2023 – 11 CS 23.980 – 11 CS 23.980 – DAR 2024, 43 = juris Rn. 19; in diese Richtung auch VG Köln, U.v. 6.9.2022 – 6 K 5903/19 – juris Rn. 72 ff. sowie VGH BW, VBlBW 2013, 19 = juris Rn. 66 für eine Verpflichtungs- und Sondersituation). Aufgrund dieser Konzeption erscheint es vertretbar, wenn sich das Verwaltungsgericht bei Mängeln des Gutachtens ggf. auf eine Aufhebung des angegriffenen Bescheids beschränkt und die weitere Aufklärung damit einem etwaigen erneuten Behördenverfahren vorbehalten bleibt. Ein solches Vorgehen dürfte jedoch schon aus Gründen der Verfahrensökonomie voraussetzen, dass sich das Gericht zunächst gemäß § 98 VwGO i.V.m. § 411 Abs. 3 ZPO erfolglos bemüht hat, Zweifel an der Tragfähigkeit des vorliegenden Gutachtens durch Fragen an den Gutachter zu klären und diesem die Ergänzung oder Nachbesserung des Gutachtens zu ermöglichen (vgl. dazu BayVGH, B.v. 22.11.2022 – 11 C 22.2282 – juris Rn. 19; B.v. 23.8.2023 a.a.O. Rn. 18 f.; B.v. 15.1.2024 – 11 CS 23.1639 – juris Rn. 26; Dauer in Hentschel/König/Dauer, § 11 Rn. 49b; Geiger, NZV 2002, 20/22; Cramer, Blutalkohol 2024, 125/129 f.; Derpa, Blutalkohol 2023, 465/472 f.).
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Hier ist aus Sicht des Senats nicht greifbar, dass eine etwaige Ergänzung oder Nachbesserung des Gutachtens über die im Gutachten angesprochene Empfehlung der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Intervention mit anschließender Neubegutachtung hinaus zu einem positiven Ergebnis für den Antragsteller führen könnte. Wie das Verwaltungsgericht im Einzelnen herausgearbeitet hat, haben die Gutachter dessen Fahreignung anhand der Hypothese V2 der Beurteilungskriterien (Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung, Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie [DGVP]/Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin [DGVM], 4. Aufl. 2022) überprüft. Im Vordergrund stand für sie mit Blick auf das Vorliegen einer verminderten Kontroll- und Anpassungsfähigkeit ersichtlich, dass der Antragsteller nach dem schweren, selbst verursachten Verkehrsunfall im September 2020, der zu einer qualifizierten fahreignungsfördernden Intervention (Aufbauseminar) geführt hat, erneut mit risikobereitem Verhalten im Straßenverkehr aufgefallen ist. Mit Blick auf die nach der Hypothese V2 für eine Bejahung der Fahreignung vorausgesetzte Problembewältigung stellt das Gutachten tragend darauf ab, dass es nicht nur an einem ausreichenden Problembewusstsein fehlt, sondern auch an angemessenen Verhaltensstrategien und konkreten Vorsätzen. Dass diese Einschätzung sowie deren Nachvollziehbarkeit in Frage gestellt wäre, wenn einzelne Elemente der jeweils auf eine Vielzahl von Gesichtspunkten gestützten Begründung wegfielen, liegt fern.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).