Titel:
Asylrecht, Staatenloser Palästinenser, UNRWA-Registrierung, Letzter gewöhnlicher Aufenthalt in Syrien, Wegfall von Schutz und Beistand durch das Hilfswerk UNRWA (verneint), räumliche Maßstab, ipso-facto Anerkennung als Flüchtling (verneint), subsidiärer Schutzstatus (bejaht)
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1
AsylG § 3 Abs. 3
AsylG § 3 Abs. 4
AsylG § 4
Schlagworte:
Asylrecht, Staatenloser Palästinenser, UNRWA-Registrierung, Letzter gewöhnlicher Aufenthalt in Syrien, Wegfall von Schutz und Beistand durch das Hilfswerk UNRWA (verneint), räumliche Maßstab, ipso-facto Anerkennung als Flüchtling (verneint), subsidiärer Schutzstatus (bejaht)
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15095
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nummern 2 bis 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. April 2018 verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Schuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes sowie die Feststellung von Abschiebungsverboten beanspruchen kann.
2
Der Kläger – staatenloser Palästinenser arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens mit letztem gewöhnlichem Aufenthalt in Syrien (Flüchtlingslager J. … und Dorf S. … bei Damaskus) – reiste eigenen Angaben zufolge Ende April 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 15. Juli 2016 förmlich Asylantrag.
3
In seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 27. Juli 2017 trug der Kläger unter anderem vor, er habe den Libanon zusammen mit seiner Familie wegen des Krieges im Jahr 2006 verlassen, sich anschließend im Flüchtlingslager J. … bei Damaskus aufgehalten und dort die Schule besucht. Als die Bombardierungen des Flüchtlingslagers begonnen hätten, sei die Familie nach S. … (Dorf bei Damaskus) gezogen. Die Lage in Syrien sei aber schlecht gewesen, deshalb seien die Eltern des Klägers im Herbst 2015 in den Libanon zurückgekehrt. Der Kläger hingegen habe Syrien zusammen mit seinem Bruder, der bereits seit 2012 wieder im Libanon gewesen sei, 2015 verlassen.
4
Ferner legte der Kläger Unterlagen vor (Family Registration Card, Family Report), denen die Registrierung seiner Familie beim Hilfswerk UNRWA im Libanon zu entnehmen ist.
5
Mit Bescheid vom 13. April 2018, dem Kläger zugestellt am 18. April 2018, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab (Nummern 1 bis 3 des Bescheids), drohte ihm die Abschiebung nach Libanon an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nummern 4 und 5 des Bescheids). Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
6
Am … April 2024 ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben. Er beantragt,
unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 13. April 2018 die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, den subsidiären Schutz zu gewähren und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
7
Zur Begründung wurde unter Bezugnahme auf den Beschluss des hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. Juli 2018 (3 A 582/17.A) ausgeführt, dem Kläger, einem beim Hilfswerk UNRWA registrierten staatenlosen Palästinenser mit letztem gewöhnlichem Aufenthalt in Syrien, sei der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, da das Hilfswerk bürgerkriegsbedingt nicht in der Lage sei, unter Berücksichtigung seines Auftrags palästinensischen Flüchtlingen in Syrien ausreichenden Schutz und Beistand zu gewähren.
8
Die Beklagte legte die Akte des Verfahrens am 8. Februar 2021 vor. Sie beantragt,
9
Zur Begründung wird unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Januar 2021 (C-507/19) und das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2021 (1 C 2.21) ausgeführt, der Kläger habe den Schutz des Hilfswerks UNRWA freiwillig verlassen und könne daher die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht beanspruchen.
10
Mit Beschluss vom 23. März 2022 wurde die Streitigkeit auf die Einzelrichterin übertragen.
11
In der mündlichen Verhandlung vom 23. Februar 2024 wurde der Kläger informatorisch gehört.
12
Mit Beschluss vom 27. Februar 2024 wurde das Verfahren fortgesetzt.
13
Mit Schreiben vom 4.und 5. März 2024 erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichts- sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
15
Über die Klage kann ohne (weitere) mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
16
Die zulässige Klage hat im tenorierten Umfang Erfolg.
17
Der angefochtene Bescheid vom 13. April 2018 ist hinsichtlich seiner Nummer 1 nicht zu beanstanden, da der Kläger in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Asylgesetz – AsylG) die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft weder nach § 3 Abs. 1 AsylG noch nach § 3 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 AsylG beanspruchen kann (dazu unter 1.).
18
Der Bescheid erweist sich allerdings in seiner Nummer 2 als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), da diesem der subsidiäre Schutzstatus nach § 4 AsylG zu gewähren ist (dazu unter 2.).
19
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
20
1.1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), wenn sich dieser aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
21
Der Flüchtlingsschutz ist allerdings nach § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG – welcher Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) umsetzt – ausgeschlossen, wenn der Ausländer den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) nach Art. 1 Abschnitt D GFK genießt und tatsächlich in Anspruch nimmt.
22
Die zum jetzigen Zeitpunkt einzige Organisation in diesem Sinne stellt das durch Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 302/IV vom 8. Dezember 1949 errichtete Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten dar (United Nations Relief and Work Agency for Palestine Refugees – UNRWA). Seine Aufgabe besteht in der Hilfeleistung für palästinensische Flüchtlinge unter anderem in Syrien. Das entsprechende UN-Mandat wurde zuletzt bis zum 30. Juni 2026 verlängert (vgl. Resolution Nr. 77/123 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12.12.2022). (Registrierte) Palästina-Flüchtlinge, denen das UNRWA Schutz bzw. Beistand gewährt, genießen demnach speziellen, vorrangig zu beanspruchenden Flüchtlingsschutz. Deshalb sind sie von der Anerkennung als Flüchtlinge in der Europäischen Union grundsätzlich ausgeschlossen (BVerwG, U.v. 4.6.1991 – 1 C 42.88 – juris Rn. 16; U.v. 21.1.1992 – 1 C 21.87 – juris Rn. 19 m.w.N.; vgl. zum Ausschluss zuletzt auch EuGH, U.v. 13.1.2021 – XT, C-507/19 – juris Rn. 51).
23
Die eng auszulegende Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG (bzw. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 RL 2011/95/EU) greift jedoch nur, solange die von ihr erfassten Personen den Schutz bzw. Beistand des UNRWA genießen. Ist dieser Schutz weggefallen, ohne dass die Lage der Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, findet die Genfer Konvention – in richtlinienkonformer Auslegung der sog. Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG als Rechtsfolgenverweisung – ipso facto Anwendung, ohne dass es einer Einzelfallprüfung der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG bedarf (BayVGH, B.v. 7.11.2017 – 15 ZB 17.31475 – juris Rn. 28; BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 28.18 – juris Rn. 25 unter Verweis auf EuGH, U.v. 19.12.2012 – El Kott, C-364/11 – juris Rn. 67, 70 ff.; BVerwG, B.v. 14.5.2019 – 1 C 5.18 – Rn. 26 mit Verweis auf EuGH, U.v. 25.7.2018 – Alheto, C-585/16 – juris Rn. 86; BVerwG, U.v. 27.5.2021 – 1 C 2.21 – juris Rn. 12 mit Verweis auf EuGH, U.v. 13.1.2021 – XT, C-507/19 – juris Rn. 51).
24
Aus dem Zusammenspiel von § 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 AsylG ergibt sich, dass eine ipso facto-Anerkennung als Flüchtling die Erfüllung beider Vorschriften voraussetzt, nämlich erstens, dass die oder der Betroffene den Schutz oder Beistand des UNRWA genießt (weil sie/er zum durch Schutz und Beistand des Hilfswerks unterstützen Personenkreis gehört) und zweitens, dass dieser Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird (vgl. OVG NRW, U.v. 26.11.2020 – 14 A 2258/18.A – juris Rn. 23 f. unter Verweis auf BVerwG, U.v. 14.5.2019 – 1 C 5.18 – juris Rn. 14 f.).
25
1.2. Nach diesen Maßstäben ist davon auszugehen, dass der Kläger kein ipso facto Flüchtling nach § 3 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG ist (dazu unter a) und ihm die Flüchtlingseigenschaft auch nicht nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen ist (dazu unter b).
26
a) Zwar hat der Kläger die Hilfeleistungen des Hilfswerks UNRWA im Libanon und Syrien in Anspruch genommen (§ 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG), die Voraussetzungen der Einschlussklausel sind allerdings zur Überzeugung des Gerichts nicht erfüllt (§ 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG), weil für den Kläger im Zeitpunkt seines Verlassens des Einsatzgebiets im Jahr 2015 eine zumutbare Möglichkeit offenstand, im Einsatzgebiet des UNRWA (im Libanon) Schutz oder Beistand zu finden.
27
Aus dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a RL 2011/95/EU („aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt“) ergibt sich, dass nicht erst bei Auflösung des UNRWA oder bei Einstellung dessen Tätigkeit vom Wegfall dessen Schutzes bzw. Beistands im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG auszugehen ist. Vielmehr genügt es, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass sich der Betroffene in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es für das Hilfswerk, um dessen Beistand er ersucht hat, unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, sodass er sich aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, dazu gezwungen sieht, das (gesamte) Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen (EuGH, U.v. 13.1.2021 – XT, C-507/19 – juris Rn. 51; BVerwG, U.v. 27.4.2021 – 1 C 2.21 – juris Rn. 17 f.). Die bloße Abwesenheit aus dem UNRWA-Einsatzgebiet oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führt nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes (EuGH, U.v. 19.12.2012 – El Kott, C-364/11 – juris Rn. 49 ff., 65; BVerwG, U.v. 27.4.2021 – 1 C 2/21 – juris Rn. 25).
28
Die erforderlichen mandatskonformen Lebensverhältnisse umfassen dabei – unabhängig von dem auf soziale und wirtschaftliche Aufgaben beschränkten Mandat von UNRWA – auch die Sicherheit vor Verfolgung und ernsthaftem Schaden (BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 28.18 – juris Rn. 28 m.w.N.). Denn die Bereitstellung von Lebensmitteln, Schulunterricht und Gesundheitsfürsorge hat keinen praktischen Wert, wenn es den Begünstigten infolge einer Bürgerkriegssituation nicht zumutbar ist, diese in Anspruch zu nehmen, und deshalb ihre Ausreise aus objektiven Gründen gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 28.18 – juris Rn. 28, unter Verweis auf Generalanwalt Mengozzi, Schlussanträge v. 17.5.2018 – C-585/16 – juris Rn. 45). Dem entspricht der Hinweis des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dass der Schutz bzw. Beistand durch das UNRWA voraussetzt, dass sich die Person „in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen“ in dem Einsatzgebiet aufhalten kann (vgl. EuGH, U.v. 13.1.2021 – XT, C-507/19 – juris Rn. 54 und U.v. 25.7.2018 – Alheto, C-585/16 – juris Rn. 134, 140).
29
In räumlicher Hinsicht kann der Betroffene innerhalb eines konkreten UNRWA-Operationsgebiets unter den entsprechend heranzuziehenden Voraussetzungen des internen Schutzes auf andere Orte als seinen Herkunftsort verwiesen werden (BVerwG, U.v. 25.04.2019 – 1 C 28.18 – juris Rn. 26). Der räumliche Maßstab kann darüber hinaus im Einzelfall nochmals weiter gefasst sein. Im Rahmen einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände des fraglichen Sachverhalts sind alle Operationsgebiete des Einsatzgebiets von UNRWA zu berücksichtigen, in deren Gebiete der konkret Betroffene, der dieses Einsatzgebiet verlassen hat, eine konkrete Möglichkeit hat, einzureisen und sich dort in Sicherheit aufzuhalten (EuGH, U.v. 13.1.2021 – XT, C-507/19 – juris Rn. 51). Das ist im Falle vom Kläger hinsichtlich des Libanons zu bejahen. Es ist für das Gericht nicht ersichtlich, warum es ihm im Jahr 2015 nicht zumutbar gewesen ist, zusammen mit seiner Familie in den Libanon zurückzukehren.
30
Es ist daher vorliegend nicht davon auszugehen, dass sich der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise im Jahr 2015 in einer von seinem Willen unabhängigen, sehr unsicheren persönlichen Lage aufgrund von Verfolgung, der Gefahr eines ernsthaften Schadens oder menschenunwürdiger Lebensbedingungen befand und den Schutz und Beistand des UNRWA im Sinne der Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht mehr in Anspruch nehmen konnte, u.a. weil er sich dort in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Situation befand. Es kann insofern nicht von einem „Wegfall“ des Schutzes durch das Hilfswerk ausgegangen werden; der Kläger hat vielmehr auf diesen Schutz aus freien Stücken verzichtet, als er nicht mit seiner Familie zurück in den Libanon gekehrt ist (zumal er über libanesische Aufenthaltspapiere verfügte). Mithin besteht kein Anspruch auf Zuerkennung einer ipso facto Flüchtlingseigenschaft.
31
Damit kommt es auf die Frage, ob es dem Kläger auch noch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) noch möglich und zumutbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.12.2012 – El Kott, C-364/11 – juris Rn. 77; BVerwG, U.v. 27.4.2021 – 1 C 2/21 – juris Rn. 24), sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA durch Rückkehr in eines der fünf Operationsgebiete des Einsatzgebiets des Hilfswerks erneut zu unterstellen, nicht an.
32
b) Der Kläger ist auch kein Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.
33
aa) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge – Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wenn sich dieser aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (zu Sonderkonstellationen, bei denen ungeachtet einer etwaigen Verfolgungsgefahr eine Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben ist bzw. kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht, vgl. § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG).
34
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
35
Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG u.a. vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sowie von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, soweit die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. dazu § 3 d AsylG).
36
Zwischen den Verfolgungsgründen (vgl. die Aufzählung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sowie die näheren Erläuterungen in § 3 b Abs. 1 AsylG) und den Verfolgungshandlungen (§ 3 a Abs. 1 und 2 AsylG) bzw. dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3 a Abs. 3 AsylG). Dafür reicht grundsätzlich ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus (vgl. BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11.18 – juris Rn. 16). Gerade mit Blick auf komplexe und multikausale Sachverhalte ist nicht zu verlangen, dass ein bestimmter Verfolgungsgrund die zentrale Motivation oder die alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme ist. Indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG nicht (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 13).
37
Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Betreffende sein Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Im Gegensatz zu Vorfluchtgründen, die lediglich glaubhaft zu machen sind, bedürfen Nachfluchtgründe, die auf Ereignissen innerhalb des Gastlandes beruhen, des vollen Nachweises, wobei insoweit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besonders strenge Anforderungen zu stellen sind. Insofern ist den Versuchen einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylrechtsschutzes im Bereich der Sachverhaltsermittlung zu begegnen (BVerwG, U.v. 21.10.1986 – 9 C 28.85; U.v. 8.11.1983 – 9 C 93.83 – alle juris).
38
Unerheblich ist dabei, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3 b Abs. 2 AsylG). Bei einer politischen Verfolgung ist für die Bejahung der Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund bereits ausreichend, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist, ist dabei irrelevant (BVerfG, B.v. 22.11.1996 – 2 BvR 1753/96 – juris Rn. 5; VGH BW, U.v. 18.8.2021 – A 3 S 271/19 – juris Rn. 22).
39
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG (vgl. dazu Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU) besteht, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Bei der Verfolgungsprognose ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen, der sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientiert, der bei der Prüfung von Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK auf eine tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt (vgl. EGMR (GK), U.v. 28.2.2008 – Saadi/Italien, Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.; BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 18 ff.; U.v. 5.7.2019 – 1 C 37/18 – juris Rn. 13).
40
Demnach bedingt der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme eines reellen Verfolgungsrisikos sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Gemeint ist damit keine quantifizierende, sondern eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und deren Bedeutung. Entscheidend ist, ob bei einer Bewertung des aus den gegebenen Umständen ableitbaren Verfolgungsrisikos bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und ihm wegen dieses Risikos eine Rückkehr nicht zumutbar erscheint (stRspr, vgl. zu Art. 16a GG BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17; zu § 3 AsylG vgl. BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11/18 – juris Rn. 25 sowie BayVGH, U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 34).
41
Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist (ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht), ist es Aufgabe des erkennenden Gerichts, die Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Schutzsuchenden behaupteten individuellen Schicksals (soweit es nach den Umständen des Falles hierauf ankommt) als auch von der Richtigkeit der Prognose einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr die volle Überzeugung gewinnen. Es darf jedoch insbesondere hinsichtlich relevanter Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (stRspr, BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – BVerwGE 71, 180; U.v. 4.7.2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 20).
42
Besonderes Gewicht ist den Berichten des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) beizumessen, der gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 die Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention überwacht (vgl. dazu EuGH, U.v. 30.5.2013 – Halaf, C-528/11 – juris Rn. 44). Im Übrigen sind das persönliche Vorbringen des Rechtsuchenden und dessen Würdigung, namentlich wenn eine relevante Vorverfolgung behauptet wird, von zentraler Bedeutung. Für den Fall, dass keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, kann ggf. allein dessen Tatsachenvortrag zum Erfolg der Klage führen, sofern sich das Gericht von der Richtigkeit der entsprechenden Einlassungen überzeugen kann (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27/85 – juris Rn. 15 f. m.w.N.).
43
In diesem Zusammenhang ist weiter darauf hinzuweisen, dass für die Verfolgungsprognose beim Flüchtlingsschutz ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt, d.h. es ist irrelevant, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt nicht (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern durch die Beweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU. Nach dieser Vorschrift wird für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür begründet, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Heimatland erneut von Verfolgung bedroht sind (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris Rn. 21 f.; U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 15).
44
bb) Als allein flüchtlingsrechtlich relevantes Herkunftsland des staatenlosen Klägers ist Syrien anzusehen (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG), wo er seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Einreise in die Europäische Union hatte. Nach Überzeugung des Gerichts hatte er in Syrien fast zehn Jahr seinen Lebensmittelpunkt. Dass er bis zu seinem 6. Lebensjahr im Libanon war, ist dabei unerheblich.
45
Dem Kläger droht in Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. Das gilt ohne weiteres für die Zeit vor seiner Ausreise aus Syrien, da die allgemeinen Kriegshandlungen (Bombardierungen) keine individuelle Verfolgung darstellen. Für das Gericht sind jedoch auch keine Nachfluchtgründe ersichtlich, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers führen. Solche folgen weder aus seiner illegalen Ausreise noch aus der Entziehung vom Wehrdienst (wenn man überhaupt von Wehrpflicht ausgehen würde). An dieser Stelle wird auf die einschlägige, mittlerweile überwiegend einheitliche Rechtsprechung verwiesen (vgl. BayVGH, U.v. 6.4.2022 – 21 B 19.34287 – juris Rn. 22).
46
2. Dem Kläger ist allerdings der subsidiäre Schutzstatus gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen.
47
Ein Ausländer erhält subsidiären Schutz, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
48
Dem Kläger droht in Syrien, im Land seines letzten gewöhnlichen Aufenthalts (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG), aufgrund des Bürgerkrieges ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, daher ist ihm der subsidiäre Schutz zu gewähren. Die Entscheidungen in Nummern 3 bis 5 sind entsprechend aufzuheben.
49
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
50
4. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.