Inhalt

VG München, Beschluss v. 23.04.2024 – M 22 E 24.1991
Titel:

Erfolgreicher einstweiliger Rechtsschutz auf Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft

Normenketten:
BayVwVfG Art. 3 Abs. 1 Nr. 4
LStVG Art. 6, Art. 7 Abs. 2 Nr. 3
Leitsätze:
1. Unfreiwillige Obdachlosigkeit zieht konkrete Gefahren für Leib und Leben nach sich und stellt deshalb eine Gefahr und eine Störung der öffentlichen Ordnung dar. In der Folge ist die zuständige Gemeinde als untere Sicherheitsbehörde zu entsprechendem sicherheitsbehördlichem Einschreiten regelmäßig verpflichtet. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das gilt auch für den Fall, wenn eine andere staatliche Ebene eine Ursache dafür gesetzt hat, dass die schutzbedürftigen Personen ins Bundesgebiet einreisen und daher hier obdachlos werden konnten. Die kommunale Aufgabe besteht damit auch gegenüber zugezogenen Ausländern, die bisher noch niemals über eine eigene Wohnung im Gemeindegebiet verfügt haben. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auf die Frage, ob das Fehlen einer Unterkunft auf einem individuell vorwerfbaren Verhalten beruht, kann es nach den allgemeinen Grundsätzen des Sicherheitsrechts nicht ankommen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Obdachlosenunterbringung, Örtliche Zuständigkeit, Mit Visum eingereiste ausländische Staatsangehörige, einstweilige Anordnung, Obdachlosigkeit, zugezogene ausländische Staatsangehörige, jemenitische Staatsangehörige, Kindernachzug, örtliche Zuständigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15093

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern zur Behebung der Obdachlosigkeit eine Notunterkunft zuzuweisen und vorläufig bis zum … … 2024 zur Verfügung zu stellen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wird bewilligt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin, eine am … … 1997 geborene jemenitische Staatsangehörige und ihre beiden Kinder im Alter von … und … Jahren, begehren von der Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft, außerdem Prozesskostenhilfe für das vorliegende Verfahren.
2
Der Ehemann der Antragstellerin zu 1) und Vater der Antragsteller zu 2) und 3) wurde am … … 2023 als Flüchtling nach § 3 Asylgesetz (AsylG) anerkannt. Er wohnt in einer Unterkunft im Stadtgebiet der Antragsgegnerin. Die Antragsteller erhielten nach eigenen Angaben am … … 2024 von der Bundesrepublik Deutschland Visa zum Ehegatten- bzw. Kindernachzug, mit denen sie am … … 2024 in das Bundesgebiet einreisten.
3
In der Unterkunft des Ehemanns bzw. Vaters konnten die Antragsteller jedoch nicht untergebracht werden. Sie erhielten vom Asylmanagement … einen Abdruck der Pressemitteilung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 29. Februar 2024 über den Beschluss vom 15. Februar 2024 (4 CE 24.60), wonach die beklagte Gemeinde auch den später nachgezogenen Familienangehörigen eines Flüchtlings eine Obdachlosenunterkunft zuweisen muss.
4
Die Antragsgegnerin lehnte die Unterbringung der Antragsteller per E-Mail ab. Eine Unterbringungspflicht bestehe nicht, da es den Antragstellern bereits vor deren Einreise in die Bundesrepublik bekannt gewesen sei, dass sie hier obdachlos würden. Sie seien mit Besuchervisa eingereist. Der Inhalt der Pressemitteilung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sei auf sie nicht zutreffend.
5
Am … … 2024 stellten die Antragsteller beim Verwaltungsgericht München den Antrag,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie zur Behebung der Obdachlosigkeit in eine Notunterkunft zuzuweisen.
6
Darüber hinaus beantragten sie,
ihnen Prozesskostenhilfe zu gewähren.
7
Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Februar 2024 (4 CE 24.60) und den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 2. Januar 2024 (M 22 E 23.6173) verwiesen.
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Die Antragsgegnerin hat sich in der Sache – trotz Aufforderung zur sofortigen Stellungnahme – nicht geäußert.
9
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte verwiesen
II.
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Die Anträge auf vorübergehende Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft (dazu unter 1.) und auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das vorliegende Verfahren (dazu unter 2.) haben Erfolg.
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1. Die Antragsteller können die vorübergehende Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft beanspruchen.
12
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der jeweilige Antragsteller sowohl den aus dem streitigen Rechtsverhältnis abgeleiteten Anspruch, bezüglich dessen die vorläufige Regelung getroffen werden soll (Anordnungsanspruch) als auch die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung – ZPO). Maßgeblich für die Beurteilung sind dabei die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
13
Der Antrag ist begründet, weil die Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch (1.1.) als auch einen Anordnungsgrund (1.2.) glaubhaft gemacht haben. Die beantragte Anordnung führt nicht zu einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache (1.3.).
14
1.1. Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
15
Nach Art. 6 Landesstraf- und Verordnungsgesetz (LStVG) haben die Sicherheitsbehörden, darunter die Gemeinden, die Aufgabe, die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch die Abwehr von Gefahren und durch Unterbindung und Beseitigung von Störungen aufrechtzuerhalten. Nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG können die Sicherheitsbehörden zur Erfüllung dieser Aufgaben für den Einzelfall Anordnungen treffen, um Gefahren abzuwehren oder Störungen zu beseitigen, die Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen oder Sachwerte, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint, bedrohen oder verletzen. Unfreiwillige Obdachlosigkeit zieht konkrete Gefahren für Leib und Leben nach sich und stellt deshalb eine Gefahr und eine Störung der öffentlichen Ordnung dar. In der Folge ist die zuständige Gemeinde als untere Sicherheitsbehörde zu entsprechendem sicherheitsbehördlichem Einschreiten regelmäßig verpflichtet (BayVGH, B.v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – juris Rn. 4). Das gilt auch für den Fall, wenn eine andere staatliche Ebene eine Ursache dafür gesetzt hat, dass die schutzbedürftigen Personen ins Bundesgebiet einreisen und daher hier obdachlos werden konnten. Die kommunale Aufgabe besteht damit – entgegen der Annahme der Antragsgegnerin – auch gegenüber zugezogenen Ausländern, die bisher noch niemals über eine eigene Wohnung im Gemeindegebiet verfügt haben (vgl. dazu jüngst m.w.N. BayVGH, B.v. 15.2.2024 – 4 CE 24.60 – juris Rn. 10 f.).
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a) Vorliegend haben die Antragsteller zur Überzeugung des Gerichts eine Situation unfreiwilliger Obdachlosigkeit glaubhaft gemacht. Dieser steht nicht entgegen, dass sie sich ohne vorangehende Klärung der Frage der Unterbringung in die Bundesrepublik begeben haben. Die Antragsteller verfügen rein faktisch über keine Unterkunft und es ist nicht ersichtlich, dass sie ihre Obdachlosigkeit durch Selbsthilfebemühungen abwenden könnten.
17
Dass die (offenbar weitgehend mittellosen) Antragsteller in das Bundesgebiet eingereist sind, ohne zuvor ihre Unterbringung sicherzustellen, lässt die nunmehr entstandene Obdachlosigkeit zwar als möglicherweise vorhersehbar, nicht jedoch als freiwillig erscheinen. Auf die Frage, ob das Fehlen einer Unterkunft auf einem individuell vorwerfbaren Verhalten beruht, kann es im Übrigen nach den allgemeinen Grundsätzen des Sicherheitsrechts nicht ankommen (BayVGH, B.v. 9.10.2015 – 4 CE 15.2102 – juris Rn. 2; Ehmann, Obdachlosigkeit in Kommunen, 4. Aufl. 2020, S. 40; Ruder, KommJur 2020, 401/404).
18
b) Die Antragsgegnerin ist für die Unterbringung der Antragsteller sachlich und örtlich zuständig, weil die Obdachlosigkeit der Antragsteller in ihrem Gemeindegebiet eingetreten ist.
19
Dem steht nicht entgegen, dass es sich bei den Antragstellern um ausländische Staatsangehörige handelt, die mit einem Visum zur Familienzusammenführung in die Bundesrepublik eingereist sind. Bei der Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit der Gemeinden macht es keinen Unterschied, ob die Störung der öffentlichen Sicherheit von einem deutschen Staatsangehörigen oder von einem Ausländer ausgeht. Bei der Beurteilung der Obdachlosigkeit kommt es regelmäßig nicht auf den ausländerrechtlichen Status an; es ist insbesondere auch ohne Bedeutung, ob ein Aufenthaltstitel nach § 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegt. Der Vollzug des Ausländerrechts obliegt den Ausländerbehörden und nicht den zur Unterbringung zuständigen Sicherheitsbehörden. Das gilt im Übrigen auch im Falle von mit Touristenvisum eingereisten ausländischen Staatsangehörigen (BayVGH, B.v. 7.5.2018 – 4 CE 18.965 – juris Rn. 10), sollten die Antragsteller – wie von der Antragsgegnerin angenommen – doch mit einem Besuchervisum eingereist sein.
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Die Antragsteller sind im Übrigen auch nicht nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) leistungsberechtigt und haben daher keinen Anspruch auf Unterbringung nach dem Aufnahmegesetz (Art. 1 Abs. 1 Aufnahmegesetz – AufnG), so dass auch keine andere Stelle als die Antragsgegnerin für ihre Unterbringung zuständig ist. Auch eine Verpflichtung zur Wohnsitznahme, etwa nach § 47 AsylG oder § 12a AufenthG, besteht nicht. Damit besteht kein Unterschied zu sonstigen obdachlosen Personen, die sich in einer Gemeinde aufhalten (vgl. BayVGH, B.v. 15.2.2024 – 4 CE 24.60 – juris Rn. 9).
21
Die örtliche Zuständigkeit für die Obdachlosenunterbringung ergibt sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. B.v. 14.8.2019 – 4 CE 19.1546 – juris Rn. 11 f.) aus Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG). Danach ist diejenige Behörde zuständig, in deren Bezirk der Anlass für die Amtshandlung hervortritt. Im Fall eingetretener oder drohender Obdachlosigkeit bilden die bestehenden Gefahren für Leib und Leben im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG den Anlass für das sicherheitsrechtliche Eingreifen. Entsprechend ist die Gemeinde zuständig, in deren Bezirk die Obdachlosigkeit eingetreten ist; auf den früheren oder aktuellen Ort des gewöhnlichen Aufenthalts kommt es nicht an (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 4 CE 17.615 – juris Rn. 5). Daraus folgt die Zuständigkeit der Antragsgegnerin. Denn die Antragsteller haben sich nach ihrer Einreise in deren Gemeindegebiet begeben und dort um eine Unterbringung nachgesucht, weil sie nicht in der dortigen Flüchtlingsunterkunft bleiben durften.
22
1.2. Im Hinblick auf die Obdachlosigkeit der Antragsteller ist auch ein Anordnungsgrund gegeben. Eine Eilbedürftigkeit als Voraussetzung für eine gerichtliche Anordnung ist im Fall der Obdachlosigkeit mit Kleinkindern, zumal zur kalten Jahreszeit, stets zu bejahen (BayVGH, B.v. 5.12.2016 – 4 CE 16.2297 – juris Rn. 9).
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1.3. Dem Zweck einer einstweiligen Anordnung entsprechend wurde die Verpflichtung zur Unterbringung der Antragsteller befristet. Innerhalb des vorgegebenen gut zweimonatigen Zeitraums dürfte eine Abklärung noch klärungsbedürftiger Fragen möglich sein (aufenthaltsrechtlicher Status, Anspruch auf Sozialleistungen, Auffinden einer anderweitigen Wohnmöglichkeit). Die Antragsgegnerin kann dann über einen Antrag auf Verlängerung der Unterbringung rechtzeitig und auf der Grundlage belastbarer Feststellungen entscheiden.
24
1.4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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1.5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nrn. 35.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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2. Den Antragstellern war für das vorliegende Verfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Vorliegend sind diese Voraussetzungen gegeben.