Inhalt

VG München, Urteil v. 20.03.2024 – M 18 K 20.3029
Titel:

Kostenerstattung für selbstbeschaffte Jugendhilfemaßnahme (überwiegende Stattgabe), Privatschule, Systemversagen, Hilfeplanverfahren, Maßstab der sozialpädagogischen Fachlichkeit, Schulmittelfreiheit

Normenketten:
SGB VIII § 35a
SGB VIII § 36
SGB VIII § 36a Abs. 3
Schlagworte:
Kostenerstattung für selbstbeschaffte Jugendhilfemaßnahme (überwiegende Stattgabe), Privatschule, Systemversagen, Hilfeplanverfahren, Maßstab der sozialpädagogischen Fachlichkeit, Schulmittelfreiheit
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15091

Tenor

I.    Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Juni 2020 verurteilt, an den Kläger die Kosten für den Schulbesuch des ... für das Schuljahr 2020/2021 in Höhe von 7.880,00 € nebst Zinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu erstatten.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
 II.    Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Erstattung der Kosten für den Besuch des privaten M.-Gymnasiums für das Schuljahr 2020/2021 als Maßnahme der Jugendhilfe.
2
Der am ... 2010 geborene Kläger wurde durch das staatliche Schulamt am 12. April 2016 ab dem 13. September 2016 in die erste Klasse an der Grundschule M. mit Schulprofil „Inklusion“ überwiesen, die er bis zum Ende der vierten Klasse besuchte. Der Beklagte bewilligte dem Kläger ambulante Eingliederungshilfe in Form von Kostenübernahme für einen Schulbegleiter vom 19. Juni 2017 bis 7. September 2020.
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Beim Kläger wurde seit dem Jahr 2017 durchgehend eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F 90.0) diagnostiziert. Zudem wurden in den Jahren 2017 bis 2019 zumindest zeitweise eine emotionale Störung des Kindesalters (ICD-10 F 93.8), eine Zwangsstörung (ICD-10 F 42.1), ein Asperger-Syndrom (ICD-10 F 84 5 V) bzw. eine phobische Störung des Kindesalters (ICD-10 F 93.1 G) diagnostiziert.
4
Am 13. August 2019 beantragte die Mutter des Klägers beim Beklagten die Übernahme der Kosten für den Besuch des M.-Gymnasiums durch den Kläger ab dem fünften Schuljahr im Rahmen von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII. Zur Begründung führte sie aus, dass für den Kläger der Besuch einer staatlichen Schule unzumutbar sei. Der Besuch des privaten M.-Gymnasiums sei im Umkreis des Wohnorts die einzige geeignete Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung. Am 9. Dezember 2019 ging der Antrag, der nunmehr auch vom Vater des Klägers unterschrieben war, erneut beim Beklagten ein.
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Im Folgenden wurde sowohl in Telefonaten und E-Mails mit der Kindsmutter als auch im Rahmen der Hilfeplangespräche vom 19. November 2019 und 11. Mai 2020 auch der anstehende Schulwechsel thematisiert.
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Mit ärztlich-psychologischem Bericht einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie vom 27. April 2020 wurde beim Kläger erstmalig ein frühkindlicher Autismus (ICD-10 F 84.0) diagnostiziert.
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Mit Datum vom 28. Mai 2020 erfolgte gegenüber dem Beklagten eine schulpsychologische Stellungnahme der staatlichen Schulberatungsstelle für Oberbayern-West, in der ausgeführt wurde, dass beim Kläger ein näher dargestellter besonderer Förderbedarf im Bereich emotional-soziale Entwicklung vorliege. Empfehlenswert seien daher schulische Maßnahmen mit gut strukturierter, reizarmer Lernumgebung, transparenten, verlässlichen Abläufen während des Schulalltags, Rückzugsmöglichkeiten bei Überforderung, individuelle Unterstützungsmöglichkeiten bei Alltagsabläufen sowie bei inneren Blockaden, kleinere Lerngruppen und eine Zusammenarbeit mit schulischen und außerschulischen Unterstützungssystemen. Der Förderbedarf könne an einem Regelgymnasium mit Gewährung einer Schulbegleitung (z.B. Gymnasium G.), an einem privaten Gymnasium, insbesondere mit Schulprofil „Inklusion“ (z.B. M.-Gymnasium) oder – sofern dort die genannten Betreuungsmöglichkeiten bestehen – an einem sonstigen privaten Gymnasium (z.B. M.-Schule), erfüllt werden.
8
Der Beklagte hielt zu einem Telefonat mit der Konrektorin des staatlichen Gymnasiums G. am 15. Juni 2020 insbesondere fest, dass er mit dieser die Punkte der Stellungnahme der Schulberatungsstelle abgesprochen habe. Als eigene Einschätzung hielt der Beklagte fest, dass es möglich erscheine, den Kläger an der Regelschule zu beschulen.
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In einer internen Konferenz des Beklagten am 16. Juni 2020 wurde entschieden, den Antrag auf Übernahme der Kosten des privaten Gymnasiums abzulehnen. Es bestehe die Möglichkeit einer Schulbegleitung auf der Regelschule. Die Rückmeldung der Eltern hinsichtlich der Schule solle hierzu abgewartet werden.
10
Der Beklagte hielt zu einem Telefonat mit der Mutter des Klägers am 16. Juni 2020 insbesondere fest, dass diese über die Ablehnung informiert worden sei. Die Ablehnung sei erfolgt, da das M.-Gymnasium nicht die einzige Option in der schulpsychologischen Stellungnahme vom 28. Mai 2020 gewesen sei und mit Unterstützung in Form der Schulbegleitung eine Beschulung auf der Regelschule für wahrscheinlich gehalten worden sei. Die Mutter des Klägers könne die Argumentation des Beklagten nicht nachvollziehen. Sie habe mitgeteilt, dass für sie die Regelschule eigentlich nicht in Frage komme.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 18. Juni 2020 lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form von Übernahme der Kosten für den Besuch der Privatschule M.-Gymnasium für den Kläger im Schuljahr 2020/2021 ab. Die Ablehnung wurde insbesondere damit begründet, dass grundsätzlich kein Rechtsanspruch gegen den Träger der Kinder- und Jugendhilfe auf Übernahme der Aufwendungen für den Besuch einer Privatschule bestehe. Ausnahmen seien nur für den Fall in Betracht zu ziehen, dass auch unter Einsatz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit bestehe, den Hilfebedarf im öffentlichen Schulsystem zu decken. Grundsätzlich sei für Nachweis einer Nichtbeschulbarkeit eine Stellungnahme der Schulbehörde notwendig, in der diese erkläre, dass eine Beschulung im öffentlichen Schulsystem nicht möglich sei. Die Übernahme von Schulgeld einer Privatschule sei auch erst nach dem Scheitern der Beschulung im öffentlichen Schulsystem mit Einsatz unterstützender Maßnahmen gerechtfertigt. Die schulpsychologische Stellungnahme vom 28. Mai 2020 komme zum Ergebnis, dass der Förderbedarf des Klägers auch an einem Regelgymnasium mit Unterstützung durch Schulbegleitung erfüllt werden könne. Auch sei eine Beschulung des Klägers im öffentlichen Schulsystem bislang nicht gescheitert. Der Bedarf des Klägers könne somit an einer Regelschule mit Unterstützung durch eine Schulbegleitung gedeckt werden.
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Zu einem Telefonat mit der Mutter des Klägers am 2. Juli 2020 hielt der Beklagte insbesondere fest, dass diese mitgeteilt habe, dass der Kläger nach wie vor auf das M.-Gymnasium gehen werde. Es gebe keine andere Option.
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Am 8. Juli 2020 erhob der Kläger durch seinen Bevollmächtigten beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid vom 18. Juni 2020.
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In einer sonderpädagogischen Stellungnahme des MSD, datiert auf Juli 2020, beim Beklagten eingegangen am 3. August 2020, wurde insbesondere ausgeführt, dass der Kläger an der Grundschule M. nach Maßgabe des dortigen Inklusionsprofils unterrichtet worden sei und mit Hilfe der Schulbegleitung seinem Begabungspotential entsprechende Leistungen habe erzielen können. Im Hinblick auf die Folgeschule könne eine normale Regelschule im Landkreis dem Förderbedarf des Klägers keinesfalls gerecht werden. Auch eine Begleitung durch eine Inklusionshelferin könne die den eigentlichen Lernprozess behindernden Umstände nicht so ausgleichen, dass die Lernmotivation des Klägers stabil bleibe. Um dessen Entwicklung nicht zu gefährden, solle an ein vorgeordnetes und inklusives schulisches Umfeld gedacht werden. Diesem könne nur das M.-Gymnasium weitestgehend entsprechen.
15
Der Kläger besuchte ab Beginn des Schuljahres 2020/2021 das M.-Gymnasium.
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Mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2020 begründete der Bevollmächtigte des Klägers die Klage insbesondere dahingehend, dass die Voraussetzungen für einen ausnahmsweisen Anspruch auf Übernahme des Schulgelds durch den Beklagten gegeben seien. Denn für eine erfolgreiche Beschulung des Klägers sei erforderlich, dass er eine Schule mit kleinen Klassenstärken bzw. Lerngruppen sowie zusätzlichen Förder- und Unterstützungsmaßnahmen besuche. Diese Anforderungen erfülle ausschließlich das M.-Gymnasium. Der Bevollmächtigte des Klägers verwies zudem auf die Stellungnahme des MSD vom Juli 2020. Außerdem fügte er als Anlage Stellungnahmen eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 3. August 2020 und einer Diplompsychologin vom 5. August 2020 bei. Er führte hierzu aus, dass diese Stellungnahmen sowie der ärztlich-psychologische Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie vom 27. April 2020 die Erforderlichkeit des Besuchs des M.-Gymnasiums bestätigen würden. Das Erfordernis der geringen Klassenstärke werde im Übrigen durch die Zuweisung des Klägers an die Grundschule M. bestätigt. Eine geeignete staatliche Schule sei nicht gegeben. Am Gymnasium G. gebe es eine zu große Klassenstärke in der Inklusionsklasse, keine reizarme Lernumgebung in den fünften Klassen und keine ausreichenden Rückzugsmöglichkeiten bei Überforderung. Auch andere geeignete Gymnasien gebe es nicht. Bei den von der Mutter des Klägers angefragten Gymnasien seien insbesondere die Kriterien „geringe Klassenstärke“ und „zusätzliche Unterstützung und Betreuung des Klägers während des Schulbesuches“ nicht erfüllt. Insoweit wurde auf eine beigefügte tabellarische Übersicht verwiesen.
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Mit Schriftsatz vom 18. März 2021 beantragte der Beklagte,
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die Klage abzuweisen.
19
Zur Begründung seines Antrags verwies er auf den Bescheid vom 18. Juni 2020. Ergänzend führte er aus, dass der Vortrag in der Klageschrift, dass eine geeignete staatliche Schule nicht vorhanden sei, nicht zutreffe. Denn die staatliche Schulberatungsstelle habe festgestellt, dass der Bedarf des Klägers an einer Regelschule mit Unterstützung einer Schulbegleitung gedeckt werden könne.
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Mit Schriftsatz vom 8. März 2024 beantragte der Bevollmächtigte des Klägers,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Juni 2020 zu verpflichten, die Kosten für den Besuch des M.-Gymnasiums im Schuljahr 2020/2021 in Höhe von 8.262,76 € nebst Zinsen zu erstatten.
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Kläger gegen den Beklagten inzwischen einen Anspruch für die Vergangenheit auf Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Maßnahme gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII habe. Die Eltern des Klägers hätten den Beklagten über den Hilfebedarf rechtzeitig in Kenntnis gesetzt und die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe hätten vorgelegen. Darüber hinaus liege auch ein Systemversagen vor und die Deckung des Bedarfs des Klägers habe keinen zeitlichen Aufschub geduldet. Zudem sei die Schulauswahl der Klagepartei fachlich vertretbar und angemessen. Daher sei der Beklagte verpflichtet, die von der Klagepartei verauslagten Kosten zu erstatten. Hierzu legte die Klagepartei Rechnungen des M.-Gymnasiums vom 20. August 2020 und 29. November 2021 für das Schuljahr 2020/2021 vor.
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Die Klagepartei stellte in der mündlichen Verhandlung vom 20. März 2024 zuletzt den Antrag aus dem Schriftsatz vom 8. März 2024 mit der Maßgabe, dass
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der geforderte Betrag auf 8.130,00 Euro reduziert wird.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 20. März 2024 sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
27
Der Kläger hat einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Besuch des M.-Gymnasiums für das Schuljahr 2020/2021 in Höhe von 7.880,00 € nebst Zinsen als selbstbeschaffte Eingliederungshilfe gemäß § 36a SGB VIII i.V.m. § 35a SGB VIII. Der ablehnende Bescheid vom 18. Juni 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit er darüber hinaus die Erstattung weiterer Kosten in Höhe von 250,00 € begehrt, ist die Klage hingegen unbegründet.
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Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist im vorliegendem Verfahren auf das gesamte Schuljahr 2020/2021 abzustellen. Zwar ist bei Leistungen der Jugendhilfe regelmäßig der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich (OVG Lüneburg, B.v. 31.3.2020 – 10 PA 68/20 – juris Rn. 6 f.). Wurden jedoch Leistungen für einen in die Zukunft hineinreichenden Zeitraum abgelehnt, so ist die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme nicht auf die Beurteilung der Sach- und Rechtslage beschränkt, wie sie bis zum Erlass des Bescheids bestand. Es ist vielmehr die weitere Entwicklung in die Prüfung einzubeziehen. Denn für die gerichtliche Verpflichtung zur Hilfegewährung kann die Sach- und Rechtslage im gesamten Regelungszeitraum maßgeblich sein (vgl. SächsOVG, B.v. 26.4.2022 – 3 A 77/21 – juris Rn. 15 f.; OVG NW, B.v. 23.8.2022 – 12 B 819/22 – juris Rn. 7 ff.). Vorliegend hat der Beklagte im Bescheid vom 18. Juni 2020 den Antrag des Klägers auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form von Übernahme der Kosten für den Besuch des M.-Gymnasiums für das damals noch in der Zukunft liegende Schuljahr 2020/2021 abgelehnt.
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Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe grundsätzlich nur dann zu übernehmen, wenn sie auf Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Eine solche positive Entscheidung des Beklagten liegt nicht vor.
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Für den Fall, dass Hilfen abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn (1.) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, (2.) die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und (3.) die Deckung des Bedarfs (a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder (b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
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§ 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sichert mit diesen Tatbestandsvoraussetzungen die Steuerungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; dieser soll die Leistungsvoraussetzungen sowie mögliche Hilfemaßnahmen unter Zubilligung eines angemessenen Prüfungs- und Entscheidungszeitraums jeweils pflichtgemäß prüfen können und nicht nachträglich als bloße Zahlstelle für selbstbeschaffte Maßnahmen fungieren (BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1920 – juris Rn. 35). Liegt hingegen ein Systemversagen in dem Sinne vor, dass das Jugendamt gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise über eine begehrte Hilfeleistung entschieden hat, darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. In dieser Situation ist er – obgleich ihm der Sachverstand des Jugendamts fehlt – dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen mit der Folge, dass sich die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung des Leistungsberechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht etwa mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet oder notwendig gehalten (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 33 f.; U.v. 9.12.2014 – 5 C 32/13 – juris m.w.N.).
I.
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Die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sind hier gegeben, so dass der Kläger dem Grunde nach einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Besuch des M.-Gymnasiums im Schuljahr 2020/2021 hat.
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1. Die Klagepartei hat den Beklagten unstreitig rechtzeitig vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt (§ 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII).
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2. Auch die Voraussetzungen der Hilfegewährung in Form der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII lagen für das Schuljahr 2020/2021 vor (§ 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII). Der Beurteilungsspielraum hinsichtlich der geeigneten Maßnahme ist insoweit auf Grund von Systemversagen beim Beklagten auf den Kläger übergegangen.
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2.1. Der grundsätzliche Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im Schuljahr 2020/2021 ist zwischen den Parteien unstreitig. Nach dieser Norm besteht dann ein Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Das Abweichen der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII ist gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII durch die Stellungnahme eines Facharztes festzustellen. Welche Hilfeform im Rahmen des Anspruchs aus § 35a Abs. 1 SGB VIII geleistet wird, richtet sich nach dem jeweiligen Bedarf im Einzelfall (vgl. § 35a Abs. 2 und 3 SGB VIII).
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Beim Kläger wurden seit dem Jahr 2017 durchgehend eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowie zeitweise auch eine emotionale Störung des Kindesalters, eine Zwangsstörung, ein Asperger-Syndrom bzw. eine phobische Störung des Kindesalters diagnostiziert. Mit ärztlich-psychologischem Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie vom 27. April 2020 wurde erstmalig ein frühkindlicher Autismus diagnostiziert. In diesem Bericht wurde auch festgestellt, dass die Befunde eine deutliche Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit des Klägers zeigen würden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweiche. Die Eingliederung und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sei somit beeinträchtigt. Auch die Parteien gingen übereinstimmend – sachgerecht – davon aus, dass beim Kläger im Schuljahr 2020/2021 ein Abweichen der seelischen Gesundheit im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII und eine darauf beruhende Teilhabebeeinträchtigung vorlagen.
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2.2. Konträre Vorstellungen bestehen zwischen den Parteien jedoch hinsichtlich der geeigneten und erforderlichen Hilfe für den Kläger.
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Grundsätzlich kommt dem Jugendhilfeträger bei der Entscheidung, welche Hilfeform im Einzelfall geeignet und erforderlich ist, ein rechtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Denn nach ständiger Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Maßnahme einem kooperativen sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung der Fachkräfte des Jugendamts und des betroffenen Hilfeempfängers, der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern vielmehr eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation beinhaltet, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und der oder die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.; OVG SH, B.v. 3.2.2021 – 3 MB 50/20 – juris Rn. 11).
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Liegt jedoch ein Systemversagen vor, so darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. Die selbstbeschaffte Hilfe ist sodann im Hinblick auf ihre Geeignetheit und Erforderlichkeit lediglich einer fachlichen Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu unterziehen (s.o.).
40
Ein solches Systemversagen ist vorliegend für das gesamte Schuljahr 2020/2021 zu bejahen, so dass der Beurteilungsspielraum insgesamt auf den Kläger bzw. seine Eltern übergegangen ist.
41
Die Gewährung von Jugendhilfeleistungen erfolgt regelmäßig zeitabschnittsweise (OVG NW, B.v. 23.8.2022 – 12 B 819/22 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 24.11.2016 – 12 C 16.1571 – juris). Dementsprechend sind auch im Hinblick auf die Beurteilung des Systemversagens, welches die Selbstbeschaffung zulässig werden lässt, Zeitabschnitte zu bilden (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1920 – juris Rn. 36 m.w.N.; OVG NW, U.v. 16.11.2015 – 12 A 1639/14 – juris Rn. 84 ff. m.w.N.; VG Bremen, U.v. 17.5.2021 – 3 K 2333/18 – juris Rn. 42). Bei schulnahen Leistungen und somit auch im Fall der Selbstbeschaffung einer Privatschule ist regelmäßiger Bewilligungszeitraum für die Beurteilung des Systemversagens das Schuljahr (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 12 ZB 13.2025 – juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 23.8.2022 – 12 B 819/22 – juris Rn. 13 f.; VG Ansbach, U. v. 22.9.2021 – AN 6 K 18.01194 – juris Rn. 34). Daher begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass der Beklagte im Bescheid vom 18. Juni 2020 den Antrag des Klägers für das gesamte Schuljahr 2020/2021 abgelehnt hat.
42
Vorliegend fehlte es aufgrund erheblicher Mängel im Hilfeplanverfahren bis zum Ablauf des Schuljahres 2020/2021 an einer rechtmäßigen Entscheidung des Beklagten, so dass der Beurteilungsspielraum auf den Kläger bzw. dessen Eltern überging.
43
a) Der Beklagte hat es versäumt, im Vorfeld des Erlasses des Bescheids vom 18. Juni 2020 ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren durchzuführen; insbesondere hat er es fehlerhaft unterlassen, die sorgeberechtigten Eltern des Klägers in ausreichendem Umfang zu beteiligen.
44
Gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung) sind die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. § 36 Abs. 2 SGB VIII regelt, dass die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden soll. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen die Fachkräfte zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist.
45
Aus dieser Regelung folgen ein subjektiv-rechtlicher Anspruch des Leistungsberechtigten auf qualifizierte Beteiligung im Hilfeplanverfahren und dem korrespondierend eine Pflicht zur Beteiligung auf Seiten des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Ein zentrales Leitbild der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ist es, junge Menschen und ihre Eltern nicht als Objekte fürsorgender Maßnahmen oder intervenierender Eingriffe zu betrachten, sondern sie stets als Expertinnen und Experten in eigener Sache auf Augenhöhe aktiv und mitgestaltend in die Hilfe- und Schutzprozesse einzubeziehen (vgl. Gesetzesbegründung zum KJSG, BT-Drs. 19/26107, S. 1). Jugendhilfemaßnahmen sind Leistungen bzw. Angebote an die Betroffenen, bei deren Art, konkreter Ausgestaltung und Inanspruchnahme sie mitgestalten und mitentscheiden sollen. Beteiligung meint dabei nicht nur die Mitwirkung bei der Feststellung bzw. Ermittlung von etwaigen Tatbestandsvoraussetzungen, sondern setzt eine aktive Mitwirkung, eine Partizipation der Betroffenen im Rahmen eines interaktiv gestalteten kooperativen Prozesses voraus, in den die Leistungsadressaten und die Fachkraft ihre Sichtweise zur Lebens- und Erziehungssituation des Kindes oder Jugendlichen einbringen. Gemeinsam stellen sie Überlegungen zur Situationsveränderung an, klären die Bedingungen und verständigen sich auf anzustrebende Ziele und die dazu notwendigen Schritte. Die Hilfeplanung dient der Offenlegung der Gründe für die Auswahl einer Hilfeform. Die Information bzw. Beratung muss so umfassend sein, dass die Leistungsberechtigten verstehen und nachvollziehen können, dass, warum und welche Maßnahme gerade in ihrem Bedarfsfall geeignet und notwendig ist (vgl. VG München, U.v. 7.7.2021 – M 18 K 18.2218 – juris Rn. 98; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 36 SGB VIII, Rn. 11 ff.; Wiesner/Wapler, 6. Aufl. 2022, SGB VIII, § 36 Rn. 1, 9 ff; LPK-SGB VIII/ Kunkel/Kepert/Pattar, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 36 Rn. 8 f.).
46
Dementsprechend ist auch bei der Selbstbeschaffung einer aus fachlichen Gründen abgelehnten bzw. vom Hilfeplan ausgeschlossenen Leistung im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu prüfen, ob der vom Jugendamt aufgestellte Hilfeplan (bzw. das Hilfekonzept) verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist. Diese Prüfung erstreckt sich dabei nicht auf eine reine Ergebniskontrolle, sondern erfasst auch die von der Behörde gegebene Begründung. Denn diese muss für den Betroffenen nachvollziehbar sein, um ihn in die Lage zu versetzen, mittels einer Prognose selbst darüber zu entscheiden, ob eine Selbstbeschaffung (dennoch) gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – juris Rn. 32 f.; VG München, U.v. 7.7.2021 – M 18 K 18.2218 – juris Rn. 99; VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4953 – juris Rn. 120).
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Vorliegend führte der Beklagte vor Erlass des Bescheids vom 18. Juni 2020 zwar ein Hilfeplanverfahren auch unter sachgerechter Beteiligung insbesondere der Mitarbeiterin des MSD und der Schulbegleiterin durch. Gegenstand dieses Hilfeplanverfahrens war jedoch im Schwerpunkt die vom Beklagten seit dem Jahr 2017 gewährte Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine Schulbegleitung. Auch der anstehende Schulwechsel des Klägers auf das Gymnasium wurde laut den Hilfeplanprotokollen des Beklagten vom 19. November 2019 und vom 27. Mai 2020 in den Hilfeplangesprächen thematisiert. Jedoch hat der Beklagte im Vorfeld des Bescheids vom 18. Juni 2020 entscheidungserhebliche Unterlagen und Informationen nicht ordnungsgemäß in das Hilfeplanverfahren eingeführt und weder die Eltern des Klägers noch die weiteren Beteiligten des Hilfeplanverfahrens über diese informiert. Insbesondere die schulpsychologische Stellungnahme vom 28. Mai 2020 und die Informationen aus dem Telefonat einer Mitarbeiterin des Beklagten mit der Konrektorin des Gymnasiums G. am 15. Juni 2020 erlangte der Beklagte erst zwischen dem Hilfeplangespräch am 11. Mai 2020 und dem Erlass des Bescheids am 18. Juni 2020. Diese Unterlagen und Informationen wurden beim Beklagten jedoch lediglich intern bewertet und der Entscheidung maßgeblich zu Grunde gelegt. Hingegen hat es der Beklagte in rechtwidriger Weise unterlassen, diese neuen entscheidungserheblichen Unterlagen und Informationen im Vorfeld der Entscheidungsfindung in das Hilfeplanverfahren einzuführen und gemeinsam mit den Beteiligten des Hilfeplanverfahrens zu erörtern.
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Eine solche erforderliche in Kenntnissetzung und Erörterung der entscheidungserheblichen Sachverhalte lässt sich weder der vorgelegten Behördenakte entnehmen, noch ergaben sich insoweit Anhaltspunkte in der mündlichen Verhandlung. Vielmehr führte die Mutter des Klägers nachvollziehbar aus, dass sie zwischen dem Hilfeplangespräch am 11. Mai 2020 und dem Telefonat vom 16. Juni 2020 keinerlei weitere Informationen des Jugendamtes mehr erhalten habe; insbesondere die Stellungnahme des staatlichen Schulamtes vom 28. Mai 2020 sei ihr nicht bekanntgegeben worden. Dementsprechend ist auch davon auszugehen, dass der Beklagte auch mit den weiteren am Hilfeplanverfahren Beteiligten diese weder erörterte noch deren Sachverstand in seine Entscheidung miteinbezog.
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b) Auch im Folgenden hat es der Beklagte für den vorliegend ausschließlich entscheidungserheblichen Zeitraum des Schuljahres 2020/2021 fehlerhaft unterlassen, sachgerecht den umfassenden Bedarf des Klägers zu ermitteln, ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren durchzuführen und darauf beruhend eine Entscheidung zu treffen.
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Zwar kann ein Jugendamt ein Systemversagen jederzeit beenden und die Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Hilfe wieder an sich ziehen, sofern es zu einem späteren Zeitpunkt sachgerecht eine neuerliche Entscheidung trifft. Eine solche ist vorliegend jedoch unterblieben.
51
Der Beklagte hat insoweit bereits verkannt, dass er aufgrund seiner Kenntnis vom weiterhin bestehenden Hilfebedarf und -wunsch des Klägers auch für Zeitabschnitte nach Erlass des ablehnenden Bescheids ein den Anforderungen entsprechendes Hilfeplanverfahren durchzuführen hatte. Denn unabhängig von der Frage der Zulässigkeit der Selbstbeschaffung führt eine solche nicht zum Ausschluss einer Hilfeleistung für die Zukunft. Allein die Tatsache, dass ein Kläger bereits die von ihm priorisierte Hilfe selbst beschafft hatte, entbindet den Beklagten nicht von der Verpflichtung, den Kläger für die Zukunft zu beraten und ggf. andere, für geeignet gehaltenen Hilfeformen an diesen zumindest heranzutragen. Vielmehr ist für folgende Zeitabschnitte, auch unter Berücksichtigung der tatsächlichen Situation durch die selbstbeschaffte Maßnahme, die weitere Hilfe im Rahmen eines angemessenen Hilfeplanverfahrens zu entwickeln (vgl. VG München, U.v. 7.7.2021 – M 18 K 18.2218 – juris Rn. 101; VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4963 – juris Rn. 123 ff. m.w.N.).
52
Der Beklagte hat jedoch weder die Telefonate mit der Kindsmutter, in welchen wohl eine intensive Diskussion stattfand, noch die Stellungnahme des MSD, welche am 3. August 2020 bei ihm einging, zum Anlass genommen, ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren durchzuführen und darauf beruhend eine erneute Entscheidung zu treffen. Vielmehr erklärte der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung hierzu, dass die fallzuständige Sachbearbeiterin die von dem internen Gremium des Beklagten getroffene Entscheidung vom 16. Juni 2020 nicht habe ändern können und keine weitere Entscheidung des Gremiums erfolgt sei.
53
Der Beklagte hätte sich jedoch mindestens die sonderpädagogische Stellungnahme des MSD, datiert auf Juli 2020 und dem Beklagten persönlich am 3. August 2020 mit der Bitte um ein Gespräch übergeben, auseinandersetzen müssen. Er hätte erkennen müssen, dass dieser Stellungnahme für die Entscheidung über die Kostenübernahme für den Besuch des M.-Gymnasiums im Schuljahr 2020/2021 besonderes Gewicht zukam.
54
Der MSD bietet individuelle Unterstützung bei der Erziehung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den unterschiedlichen Förderschwerpunkten an den wohnortnahen Grund- und Mittelschulen sowie gegebenenfalls an Realschulen, Gymnasien und beruflichen Schulen. Er unterstützt je nach Anlass und Bedarf Lehrkräfte, Sorge- und Erziehungsberechtigte sowie Schülerinnen und Schüler durch ein Angebot an Beratung zu Fragen der Unterstützungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten bei sonderpädagogischem Förderbedarf während der Schullaufbahn, die Durchführung sonderpädagogischer Diagnostik zur Klärung der Lernvoraussetzungen und des Entwicklungsstandes, das Umsetzen sonderpädagogischer Förderung auf der Grundlage der diagnostischen Ergebnisse, um individuelle Kompetenzen oder die Lernziele der allgemeinen Schule zu erreichen und die Koordinierung schulischer und außerschulischer Ansprechpartner und Angebote für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (abrufbar unter: https://www.isb.bayern.de/schularten/foerderschulen/msd/msd-konkret/). Der Beurteilung durch den MSD kommt damit bei der Beurteilung des Förderbedarfs eine besondere fachliche Bedeutung zu. Dementsprechend wurde auch in der schulpsychologischen Stellungnahme vom 28. Mai 2020 explizit eine Zusammenarbeit mit Unterstützungssystemen wie dem MSD empfohlen.
55
Vorliegend stellte die zuständige Mitarbeiterin in der o.g. Stellungnahme des MSD ausführlich dar, aufgrund welcher Besonderheiten in der inklusiven Lernumgebung und im Bedingungsgefüge vor Ort es dem Kläger mit Schulbegleitung gelingen konnte, die staatliche Grundschule M. erfolgreich zu absolvieren. Sie führte im Folgenden nachvollziehbar und detailliert aus, welche Rahmenbedingungen aufgrund dieser Erfahrungen in der Grundschulzeit für eine erfolgreiche Beschulung des Klägers an einer Folgeschule erforderlich seien. Angesichts dessen zeugt auch ihre abschließende Einschätzung, dass aus sonderpädagogischer Sicht eine normale Regelschule im Landkreis dem Förderbedarf des Klägers auch bei Begleitung durch eine Inklusionshelferin keinesfalls gerecht werden könne, von besonderer Sachkunde und Fachkompetenz. Dies gilt umso mehr, als der Kläger ihr schon seit längerer Zeit aus eigener Anschauung bekannt war. Aus den vorgelegten Behördenakten ist insbesondere ersichtlich, dass diese Mitarbeiterin des MSD bereits seit dem Jahr 2017 sonderpädagogische Stellungnahmen mit detaillierten Ausführungen zum schulischen Verhalten des Klägers abgegeben hatte, zunächst bezüglich der Schulbegleitung und später auch im Hinblick auf den anstehenden Schulwechsel. Der Beklagte hätte der Stellungnahme des MSD somit eine hohe Relevanz zumessen müssen.
56
Er durfte eine zeitnahe vertiefte Befassung mit dieser Stellungnahme des MSD auch nicht deswegen unterlassen, weil sich deren Verfasserin im Vorfeld des Erlasses des Bescheids vom 18. Juni 2020 noch deutlich zurückhaltender geäußert hatte. Denn zwar enthielt deren Einschätzung, die dem Beklagten im Schreiben der Grundschule M. vom 11. Mai 2020 mitgeteilt wurde, noch keine explizite Aussage zum anstehenden Schulwechsel. Auch in der Telefonkonferenz am 11. Mai 2020 äußerte sie sich laut dem Hilfeplanprotokoll vom 27. Mai 2020 eher vorsichtig dahingehend, dass sie das Gymnasium als große Herausforderung für den Kläger ansehe, da dort die Lehrer weniger Rücksicht auf seine Stimmung nehmen könnten. Sie bewerte die reduzierte Klassengröße am M.-Gymnasiums positiv. Dennoch durfte der Beklagte die Stellungnahme des MSD aus dem Juli 2020 nicht unberücksichtigt lassen. Denn dort legte sich die Verfasserin erstmalig explizit dahingehend fest, dass eine normale Regelschule im Landkreis dem Förderbedarf des Klägers selbst bei Begleitung durch eine Inklusionshelferin keinesfalls gerecht werden könne. Um die Entwicklung des Klägers nicht zu gefährden, solle an ein vorgeordnetes und inklusives schulisches Umfeld gedacht werden, dem nur das M.-Gymnasium weitestgehend entsprechen könne. Auch die Tatsache, dass die Mitarbeiterin des MSD hierzu persönlich bei dem Beklagten vorsprechen wollte und damit einen für sie dringenden Handlungsbedarf aufzeigte, hätte dem Beklagten die Dringlichkeit einer erneuten Befassung mit dem Hilfebedarf des Klägers bewusstmachen müssen. Dies ist jedoch, wie sich auch aus der knappen internen E-Mail-Kommunikation des Beklagten ergibt, nicht in Ansätzen erfolgt.
57
Auch im Folgenden hat der Beklagte weder die Klageerhebung noch die mit der Klagebegründung eingereichten weiteren Unterlagen zum Anlass genommen, nochmals seine Entscheidung zu überdenken. Vielmehr hat er sich auch noch im Rahmen seiner Klagerwiderung vom 18. März 2021 ausschließlich auf die Gründe des Bescheides vom 18. Juni 2020 bezogen.
58
c) Die Eltern des Klägers haben mit ihrer Entscheidung für den Wechsel auf das M.-Gymnasium zum Schuljahr 2020/2021 den auf den Kläger bzw. sie als Sorgeberechtigte übergegangenen Beurteilungsspielraum auch sachgerecht und vertretbar ausgefüllt.
59
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung ist der Zeitpunkt der Selbstbeschaffung (vgl. VGH BW, B.v. 26.2.2020 – 12 S 3015/18 – juris Rn. 21; OVG SH, U.v. 15.8.2019 – 3 LB 7/18 – juris Rn. 56), vorliegend also der Zeitpunkt des Wechsels des Klägers auf das M.-Gymnasium im September 2020.
60
Der Besuch des M.-Gymnasiums durfte in diesem Zeitpunkt aus ex-ante-Laiensicht auch unter Berücksichtigung der den Sorgeberechtigten zum damaligen Zeitpunkt bereits bekannten, hier insbesondere auch die im Bescheid vom 18. Juni 2020 mitgeteilten, Ablehnungsgründe, noch als geeignet und erforderlich angesehen werden.
61
Im Rahmen der fachlichen Vertretbarkeitskontrolle darf der Vorrang des öffentlichen Schulsystems nicht unberücksichtigt bleiben. Dementsprechend kann die Selbstbeschaffung eines Privatschulplatzes nur dann zulässig sein, wenn aus der ex-ante-Sicht des Hilfesuchenden trotz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf im öffentlichen Schulsystem zu decken, und es fachlich vertretbar erscheint, dass der Betroffene den Besuch einer öffentlichen Schule für unmöglich bzw. unzumutbar hält (OVG NW, B.v. 9.10.2020 – 12 A 195/18 – juris Rn. 23m.w.N.; VG München, U.v. 7.7.2021 – M 18 K 18.2218 – juris Rn. 109 f.).
62
Die Bereitstellung der räumlichen, sächlichen, personellen und finanziellen Mittel für die Erlangung einer angemessenen, den Besuch weiterführender Schulen einschließenden Schulbildung auch solcher Kinder, deren seelische Behinderung festgestellt ist oder die von einer solchen bedroht sind, obliegt zwar grundsätzlich nicht dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe, sondern dem Träger der Schulverwaltung. Da die Schulgeldfreiheit in Verbindung mit der Schulpflicht eine Leistung der staatlichen Daseinsvorsorge darstellt und aus übergreifenden bildungs- und sozialpolitischen Gründen eine eigenständige (landesrechtliche) Regelung außerhalb des Sozialgesetzbuches gefunden hat, ist grundsätzlich für einen gegen den Träger der Kinder- und Jugendhilfe gerichteten Rechtsanspruch auf Übernahme der für den Besuch einer Privatschule anfallenden Aufwendungen (Aufnahmebeitrag, Schulgeld, etc.) kein Raum. Ausnahmen von diesem durch das Verhältnis der Spezialität geprägten Grundsatz sind aber für den Fall in Betracht zu nehmen, dass auch unter Einsatz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf im Rahmen des öffentlichen Schulsystems zu decken, mithin diesem der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven oder aus schwerwiegenden subjektiven (persönlichen) Gründen unmöglich bzw. unzumutbar ist (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.2015 – 5 B 61.14 – juris Rn. 4).
63
aa) Der Kläger bzw. seine Eltern durften trotz der Feststellung in der schulpsychologischen Stellungnahme vom 28. Mai 2020, dass der Förderbedarf auch an einem Regelgymnasium mit Gewährung einer Schulbegleitung erfüllt werden könne, eine fehlende Bedarfsdeckung durch das öffentliche Schulsystem annehmen.
64
Unstreitig waren für den Kläger – nach sämtlichen Unterlagen als auch der schulpsychologischen Stellungnahme vom 28. Mai 2020 – eine gut strukturierte, reizarme Lernumgebung, transparente, verlässliche Abläufe während des Schultages, Rückzugsmöglichkeiten bei Überforderung, individuelle Unterstützungsmöglichkeiten bei Alltagsabläufen sowie bei inneren Blockaden, kleinere Lerngruppen mit klarem Regelwerk sowie die Zusammenarbeit mit schulischen und außerschulischen Unterstützungssystemen erforderlich. Auch der Beklagte klärte explizit diese Bedingungen in dem Telefonat mit der Konrektorin des G.-Gymnasiums am 15. Juni 2020 ab.
65
Während der Beklagte jedoch – im Anschluss an die staatliche Schulberatungsstelle – zu dem Ergebnis gelangte, dass das staatliche G.-Gymnasium diese Bedingungen erfüllen könne, durften die Eltern des Klägers eine hiervon abweichende Beurteilung treffen.
66
Zwar hatte die Konrektorin des G.-Gymnasiums gegenüber dem Beklagten bei dem Telefonat am 15. Juni 2020 ausgeführt, dass die fünften Klassen dort in selbstorganisierten Lernlandschaften (SOL) arbeiten würden, zu denen es klare Regelungen gäbe. Alle Klassen eines Jahrgangs hätten Zugang zu einem gemeinsamen Forum; dieses werde für Stillarbeiten, Gruppenarbeiten etc. genutzt. Die Schüler würden im SOL lernen, sich Inhalt selbst zu erarbeiten, es werde die Eigenständigkeit und auch das Zusammenarbeiten gefördert. Vorteil dabei sei auch, dass die Schüler überwiegend im gleichen Klassenzimmer blieben und nicht für jedes Fach in ein anderes Zimmer wechseln müssten. Teilweise hätten die Klassen neben dem gemeinsamen Forum noch ein zweites Klassenzimmer als Rückzugsort zur Verfügung. Mit Schulbegleitung sei es kein Problem, mit einem begleiteten Kind auf den Gang oder den Pausenhof zu gehen. Zudem gäbe es ein „Lernatelier“, in dem Kinder oder Kleingruppen mit mehreren Lehrern individuell, teilweise sogar 1:1 während des regulären Unterrichts unterstützt werden könnten. Auf Grund dieser Informationen ging die zuständige Fachkraft des Beklagten davon aus, dass eine Beschulung auf dem G.-Gymnasium mit Schulbegleitung möglich erscheine und kein Systemversagen des öffentlichen Schulsystems vorliege.
67
Hingegen kam die – den Eltern im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung bekannte – Stellungnahme des MSD zu dem Ergebnis, dass eine normale Regelschule im Landkreis dem Förderbedarf des Klägers auch bei Begleitung durch eine Inklusionshelferin keinesfalls gerecht werden könne. Wie bereits ausgeführt, kommt dieser Stellungnahme hinsichtlich der Beurteilung des individuellen Bedarfes des Klägers und der Möglichkeiten seiner angemessenen Beschulung auf Grund ihrer besonderen Fachkenntnis und der langjährigen intensiven Erfahrung mit dem Kläger eine besondere Bedeutung zu.
68
In der Stellungnahme wird umfangreich ausgeführt, dass der Kläger an der Grundschule nach Maßgabe des dortigen Inklusionsprofils unterrichtet worden sei und mit Hilfe der Schulbegleitung seinem Begabungspotential entsprechende Leistungen habe erzielen können. Die inklusive Beschulung habe weitestgehend seinen noch immer als hoch einzuschätzenden Förderbedarf im Bereich emotional-soziale Entwicklung berücksichtigt. Die Lehrkräfte hätten in steter Auseinandersetzung mit sonderpädagogischem Handeln unterrichtet, in kritischen Situationen fördernd reagieren können und seien zur Zusammenarbeit mit Fachdiensten oder verstärkter Elternarbeit bereit gewesen. Zudem habe es einen überschaubaren räumlichen, zeitlichen und personellen Rahmen sowie eine Klassenstärke um die 20 Kinder, also unter den gegebenen inklusiven Bedingungen eine noch erträgliche Gruppenstärke, gegeben. Der bisherige Lernerfolg sei eng verbunden mit dem beschriebenen Bedingungsgefüge vor Ort sowie der verlässlichen Begleitung durch die Inklusionshelferin. Im Hinblick auf die Folgeschule erscheine das sukzessive Herunterfahren der Schulbegleitung möglich, sofern es sich um eine Schule mit ähnlicher Lernumgebung wie bisher handele. Dabei seien eine sonderpädagogische, auf Kinder mit Schwierigkeiten im emotionalen Erleben ausgerichtete Haltung der Lehrkräfte, die Möglichkeit individueller Zuwendung aufgrund erhöhtem Personalschlüssel, nach Möglichkeit kleinere Lerngruppen (höchstens 12 bis 16 Schüler) sowie ein klar strukturierter, voraussehbarer Unterrichtsalltag von besonderem Gewicht. Eine normale Regelschule im Landkreis könne dem Förderbedarf des Klägers daher keinesfalls gerecht werden. Auch eine Begleitung durch eine Inklusionshelferin könne die den eigentlichen Lernprozess behindernden Umstände nicht so ausgleichen, dass die Lernmotivation des Klägers stabil bleibe. Um dessen Entwicklung nicht zu gefährden, solle an ein vorgeordnetes und inklusives schulisches Umfeld gedacht werden. Diesem könne nur das M.-Gymnasium weitestgehend entsprechen.
69
Nachdem der MSD auch individuelle Unterstützung bei der Erziehung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Realschulen, Gymnasien und beruflichen Schulen anbietet, ist davon auszugehen, dass die zuständige Fachkraft des MSD auch hinsichtlich der tatsächlich vorhandenen Schulbedingungen am G.-Gymnasium Kenntnis hatte und dieses hinsichtlich seiner Geeignetheit beurteilen konnte.
70
Zudem kannte die Mutter des Klägers entsprechend ihrer Aussage in der mündlichen Verhandlung das G.-Gymnasium bereits von früher, als ihr älterer Sohn dort zur Schule ging und wusste daher, dass es sich hierbei um eine große Schule handelt, die Teil eines noch größeren Schulzentrums ist. Auch hatte sie laut ihrer Aussage im Rahmen ihrer telefonischen Recherche die Mitteilung erhalten, dass dort keine reizarme Arbeitsgestaltung oder Arbeitsplatzumgebung gewährleistet sei, eine betreute Lernzeit von eigenen Lehrern nicht möglich sei und auch ein Lerncoaching nicht stattfinde. Zudem würden bei voraussichtlich fünf Eingangsklassen knapp 150 Schüler Zugang zu dem gemeinsamen Forum haben.
71
Vor diesem Hintergrund durften die Eltern des Klägers davon ausgehen, dass das – einzig als Alternative vom Beklagten benannte – staatliche Gymnasium G. dem Förderbedarf des Klägers auch bei Begleitung durch eine Inklusionshelferin nicht gerecht werden könne. Insbesondere auf Grund der Klassengröße auch der Inklusionsklasse im fünften Jahrgang mit ca. 25 Schülern im Schuljahr 2020/21 sowie einer Schülerzahl von ca. 125 Schülern in den 5. Klassen, welche alle in dem sog. SOL arbeiten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in seinem Schulalltag eine gut strukturierte, reizarme Lernumgebung vorgefunden hätte. Hierzu kann auch eine Schulbegleitung keinen ausreichenden Ausgleich schaffen, worauf auch die Fachkraft des MSD in ihrer Stellungnahme hinwies.
72
bb) Auch durften die Eltern des Klägers aus ihrer Laien-Sicht annehmen, dass die Beschulung am M.-Gymnasium eine geeignete und erforderliche Hilfe darstellte.
73
Unstreitig – auch nach der Stellungnahme der staatlichen Schulberatungsstelle vom 28. Mai 2020 – erfüllt auch das M.-Gymnasium den Förderbedarf des Klägers.
74
Zudem durften die Eltern des Klägers von der Geeignetheit des M.-Gymnasiums für die Beschulung des Klägers auch trotz dessen – zumindest damaliger – Ausgestaltung als „Ganztagesschule mit Tagesheim und Internat“ ausgehen. Zwar lag beim Kläger eine Begrenzung in der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit vor, wodurch die Ausdauer im Tagesverlauf abnahm, was grundsätzlich gegen eine Beschulung in einer Ganztagesschule spricht (was auch der Beklagte bei seiner Entscheidung berücksichtigte). Zudem hat sich auch aus keiner der zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Stellungnahmen und Gutachten ergeben, dass bei dem Kläger ein Bedarf an einer Förderung im Rahmen einer Ganztagesbetreuung erforderlich war. Ein zusätzlicher zwingender Hilfebedarf des Klägers hinsichtlich einer Nachmittagsbetreuung bzw. eines Tagesheims neben der Beschulung durfte daher auch von den Eltern des Klägers nicht als erforderlich angesehen werden. Allerdings geht das Gericht – auch nach der Erörterung in der mündlichen Verhandlung – davon aus, dass es sich bei dem Schulangebot des M.-Gymnasiums (außerhalb des Internatsbetriebs, welcher vorliegend nicht streitgegenständlich ist) tatsächlich ausschließlich um eine Ganztagesschule handelt und nicht zusätzlich zur Beschulung ein Tagesheim angeboten wird. Hierfür spricht auch, dass die von der Klageseite vorgelegten Rechnungen der Schule lediglich eine monatliche Gebühr aufführen, welche tatsächlich das Schulgeld darstellt, auch wenn diese Gebühr – zumindest irreführend – als „Gebühr Tagesheim“ bezeichnet wird.
75
Von einer Ungeeignetheit einer solchen Ganztagesbeschulung mussten die Eltern hingegen nicht ausgehen. Vielmehr gingen auch die damals vorliegenden Stellungnahmen allesamt von einer Geeignetheit auch dieses Ganztagesschulbetriebs für den Kläger aus.
76
3. Die Deckung des Bedarfs des Klägers hat auch keinen zeitlichen Aufschub geduldet (§ 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII).
77
Dem Kläger war nach Erlass des Bescheids vom 18. Juni 2020 ein Abwarten der Entscheidung über die hiergegen gerichtete Klage bzw. ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren nicht zumutbar (vgl. LPK-SGB VIII/Kunkel/Kepert/Pattar, 8. Aufl. 2022, SGB VIII, § 36a Rn. 19 f.; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 36a SGB VIII, Stand: 1.8.2022, Rn. 63). Der Hilfedarf des Klägers war dringlich. Der Kläger schloss die Grundschule mit der Eignung für das Gymnasium ab und benötigte zum folgenden Schuljahr eine adäquate und zumutbare Beschulung. Es war ihm nicht zumutbar, zum Beginn des neuen Schuljahres vorerst auf den Besuch des M.-Gymnasiums zu verzichten und zunächst ein staatliches Gymnasium, ggf. auch mit Schulbegleitung, zu besuchen und ggf. erst im folgenden Zeitraum auf das M.-Gymnasium zu wechseln.
78
Ein solcher – dann ggf. erforderlicher mehrfacher – Schulwechsel hätte für den Kläger eine unzumutbare Belastung dargestellt. Denn der Kläger reagiert sehr sensibel auf Veränderungen. So wurde in der Stellungnahme der Diplompsychologin vom 5. August 2020, bei der er seit Herbst 2016 in verhaltenstherapeutischer Einzelbehandlung war, betont, dass für ihn kleinste Veränderungen zu Überforderungssituationen mit Totalblockaden führen könnten. Größere Veränderungen, z.B. der Lehrerwechsel in der dritten Klasse, seien Stressfaktoren, für die der Kläger Monate brauche, um sich darauf einstellen zu können. Auch im Bericht der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie vom 27. April 2020 wurde festgehalten, dass der Kläger besondere Schwierigkeiten beim Umgang mit Veränderungen habe. Schließlich wurde auch in der schulpsychologischen Stellungnahme vom 28. Mai 2020 ausgeführt, dass Veränderungen und Abweichungen zum gewohnten Tagesablauf von ihm als Stresssituationen erlebt würden und zu Blockaden führen könnten. Zudem wurde die Dringlichkeit auch nicht durch die Eltern herbeigeführt, vielmehr haben diese langfristig vor dem Schulbeginn die Hilfe bei dem Beklagten beantragt.
II.
79
Der Höhe nach hat der Kläger für das Schuljahr 2020/2021 jedoch lediglich einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Besuch des M.-Gymnasiums in Höhe von 7.880,00 € nebst Zinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz. Soweit der Kläger darüber hinaus zuletzt die Erstattung weiterer Kosten in Höhe von 250,00 € begehrte, war die Klage hingegen abzuweisen.
80
Gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist der Träger der Jugendhilfe bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen verpflichtet.
81
Die Klagepartei hat in der mündlichen Verhandlung zuletzt eine Kostenerstattung in Höhe von 8.130,00 € beantragt. Dieser Betrag setzt sich aus einer „Gebühr Tagesheim“ in Höhe von 7.680,00 €, einer „Anmeldegebühr Tagesheim“ in Höhe von 200,00 € und einer „iPad Lizenz und Administration – Gebühr“ in Höhe von 250,00 € zusammen.
82
Die „Anmeldegebühr Tagesheim“ in Höhe von 200,00 € sowie die „Gebühr Tagesheim“ für den Zeitraum vom 1. September 2020 bis 31. August 2021 in Höhe von 7.680,00 € stellen erstattungsfähige Kosten dar, da sie zwingend zum Besuch der Ganztagesschule erforderlich waren (s.o.) Auch die Höhe der Gebühren erscheint angemessen; insoweit erfolgten auch keine Einwände durch den Beklagten.
83
Hingegen ist die ebenfalls geltend gemachte Gebühr für „iPad Lizenz und Administration“ in Höhe von 250,00 €, die in der Rechnung des M.-Gymnasiums vom 29. November 2021 ausgewiesen ist, nicht erstattungsfähig.
84
Denn die Kosten für eine iPad-Nutzung sind grundsätzlich auch von den Erziehungsberechtigten von Schülern ohne jugendhilferechtlichen Bedarf, die öffentliche Regelschulen besuchen, zu tragen. Gemäß Art. 21 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BaySchFG besteht an den öffentlichen Schulen in Bayern Lernmittelfreiheit nur bezüglich Schulbüchern. Gemäß Art. 21 Abs. 3 Satz 1 BaySchFG sind die übrigen Lernmittel hingegen grundsätzlich von den Unterhaltspflichtigen zu beschaffen. Gemäß Nr. 2.3. Satz 1 der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus über den Vollzug der Vorschriften des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen und des Bayerischen Schulfinanzierungsgesetzes über die Lernmittelfreiheit vom 1. September 2009 (KWMBl. S. 301), zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 13. März 2018 (KWMBl. S. 145) sind solche „übrigen Lernmittel“ z.B. Arbeitshefte, Lektüren, Arbeitsblätter, Schreib- und Zeichengeräte und Taschenrechner. Auch Tablets fallen hierunter. So wird beispielsweise in Nr. 6 Sätze 1 und 2 der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus über den Pilotversuch „Digitale Schule der Zukunft“ vom 25. Mai 2023 (BayMBl. Nr. 282, 492), geändert durch Bekanntmachung vom 17. November 2023 (BayMBl. Nr. 583), ausgeführt, dass mobile Endgeräte keine lernmittelfreien Lernmittel im Sinne des BaySchFG darstellen. Da somit die Beschaffung eines iPads in Bayern nicht von der Lernmittelfreiheit erfasst ist, kann für die von der Klagepartei geltend gemachte Gebühr für „iPad Lizenz und Administration“ nichts Anderes gelten.
85
Der Anspruch auf Prozesszinsen ergibt sich in entsprechender Anwendung von §§ 291 Satz 1 HS 1 und Satz 2, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
86
Nach alledem war der Klage im oben dargestellten Umfang stattzugeben.
87
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Dem Beklagten wurden die Kosten des Verfahrens ganz auferlegt. Denn die Klagepartei ist hinsichtlich des von ihr zuletzt begehrten Kostenerstattungsbetrags in Höhe von 8.130,00 € nur bezüglich 250,00 € und somit nur zu einem geringen Teil unterlegen.
88
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 188 Satz 2 VwGO).
89
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.