Titel:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Kroatien, Herkunftsland Türkei), Abschiebungsanordnung, EURODAC-Treffer der Kategorie 1, Erlass eines 7-Tage-Papiers nach Asylantragstellung in Kroatien
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1
AsylG § 77 Abs. 2 S. 1
VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2
RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 1
RL 2013/32/EU Art. 9 Abs. 1 S. 1
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Kroatien, Herkunftsland Türkei), Abschiebungsanordnung, EURODAC-Treffer der Kategorie 1, Erlass eines 7-Tage-Papiers nach Asylantragstellung in Kroatien
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15089
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. August 2023 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die angeordnete Überstellung nach Kroatien im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
2
Der Kläger ist nach eigenen Angaben türkischer Staatsangehöriger und reiste am 4. Juni 2023 in das Bundesgebiet ein. Er äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom gleichen Tag schriftlich Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom 19. Juni 2023.
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Nach der EURODAC-Ergebnismitteilung vom 4. Juni 2023, die (ausschließlich) eine Treffermeldung der Kategorie 1 hinsichtlich Kroatien aufweist („HR1[…]“ vom 28.5.2023 in …), ergaben sich für die Beklagte Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO). Am 27. Juni 2023 richtete die Beklagte ein auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmegesuch an Kroatien. Hierauf antworteten die kroatischen Behörden mit Schreiben vom 11. Juli 2023, dass das Übernahmeersuchen gemäß Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO akzeptiert werde.
4
Der Kläger hat im Rahmen seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags unter anderem angegeben, dass ihm ein Dokument ausgehändigt worden sei, nach welchem er Kroatien binnen sieben Tagen verlassen müsse. Von der Polizei sei er geschlagen und unmenschlich behandelt worden. Kroatien sei ein EU-Staat, aber mit den EU-Werten und Normen habe das Land nichts zu tun.
5
Mit Bescheid der Beklagten vom 29. August 2023, zugestellt am 1. September 2023, wurde der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nrn. 1 und 2). Die Abschiebung nach Kroatien wurde angeordnet (Nr. 3). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 19 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
6
Der Kläger hat am 6. September 2023 gegen den Bescheid vom 29. August 2023 Klage erhoben und beantragt (sinngemäß),
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29. August 2023 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Auf die Begründung der Klage im Schriftsatz vom 6. September 2023 wird Bezug genommen.
9
Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 13. September 2023,
11
Zur Begründung wird auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen.
12
Auf Antrag des Klägers hat das Gericht mit Beschluss vom 25. September 2023 gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung seiner Klage angeordnet (M 10 S 23.50953). Auf die Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.
13
Mit Beschluss vom 30. April 2024 wurde der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
14
Mit Anschreiben vom 14. Mai 2024, den Beteiligten zugestellt am 15. Mai 2024, hat das Gericht zu der beabsichtigten Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG angehört. Die Beklagte hat bereits mit Schreiben vom 13. September 2023 auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 S 23.50953, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Verfahren war fortzusetzen, nachdem die Kammer das Verfahren M 10 K 22.50479 durch (zwischenzeitlich rechtskräftig gewordenes) Urteil vom 22. Februar 2024 abgeschlossen hat. Einer förmlichen Aufhebung des nach § 94 VwGO ergangenen Aussetzungsbeschlusses vom 11. Dezember 2023 (vgl. allg. dazu Garloff in BeckOK VwGO, Stand 1.7.2023, § 94 Rn. 10) bedurfte es insoweit nicht.
17
Über die Klage kann gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Das Gericht hat den Beteiligten mit Schreiben vom 14. Mai 2024 mitgeteilt, dass gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren beabsichtigt sei. Die Beteiligten wurden gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 AsylG darauf hingewiesen, dass auf Antrag mündlich verhandelt werden muss (§ 77 Abs. 2 Satz 2 AsylG). Weder bis zum Ablauf der gesetzten zweiwöchigen Frist, sich gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 AsylG zu erklären, noch bis zum Zeitpunkt des Auslaufens dieser Entscheidung hat einer der Beteiligten eine mündliche Verhandlung beantragt (vgl. auch VG Bayreuth, U.v. 30.11.2023 – B 3 K 23.30659 – juris Rn. 17). Im Übrigen sind auch die weiteren Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegeben, da es sich vorliegend um keinen Fall des § 38 Abs. 1 bzw. des § 73b Abs. 7 AsylG handelt und der Kläger anwaltlich vertreten ist.
18
1. Die Klage des Klägers hat, soweit sie zulässig ist, in der Sache Erfolg.
19
Die Klage ist nur als Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom 29. August 2023 zulässig (vgl. BVerwG, U.v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – juris Rn. 13). Die weitergehenden Verpflichtungsanträge sind nach der genannten Rechtsprechung allesamt unstatthaft, weil im vorliegenden Verfahrensstadium ein „Durchentscheiden“ des Gerichts zur Begründetheit des Asylantrags (§ 13 Abs. 1 AsylG) asylverfahrensrechtlich nicht vorgesehen ist. Hierauf hat das Gericht die Klagepartei im Beschluss vom 26. September 2023 auch ausdrücklich hingewiesen (M 10 S 23.50953, Rn. 15, n.v.), sodass die Klageabweisung im Übrigen für die Klagepartei auch nicht überraschend kommen kann.
20
Soweit die Klage zulässig ist, ist sie auch begründet.
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a) Der Bescheid der Beklagten vom 29. August 2023 erweist sich in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG und die hierauf gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG erlassene Abschiebungsanordnung sind rechtswidrig, da im kroatischen Asylsystem in mehrfacher Hinsicht systemische Mängel vorliegen, die sich auch in überstellungsrelevanter Weise auf den Kläger konkret auswirken.
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Die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützte Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sowie die gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG angeordnete Abschiebung des Klägers nach Kroatien sind rechtswidrig, weil eine Überstellung an Kroatien als den an sich zuständigen Mitgliedstaat (nach der Annahme des Bundesamts gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO, bzw. nach Meinung Kroatiens nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO) an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO wegen systemischer Mängel im dortigen Asylsystem, aus denen sich die ernsthafte Gefahr einer Verletzung des Rechts des Klägers aus Art. 4 GRCh ergibt, scheitert. Ergänzend steht zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 VwGO) aufgrund der vom Kläger geschilderten individuellen Umstände auch losgelöst von der Prüfung systemischer Mängel selbstständig tragend die ernsthafte Gefahr einer Verletzung der Rechte des Klägers aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK nach einer Überstellung nach Kroatien fest. Demnach ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen.
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Der Begriff des Vertrauens meint im konkreten Rechtskontext in einer Situation des Nichtwissens das Bestehen von Normkonformitätserwartungen des überstellenden Staates an den Zielstaat, was im Grundsatz mit Kontrollverzichten und Unbeachtlichkeitsregeln einhergeht (vgl. Lübbe, NVwZ 2017, 674/676). In diesem Sinn reicht Vertrauen so weit, bis es von entgegenstehenden Realitäten erschüttert wird (vgl. Lübbe, a.a.O.). Den nationalen Gerichten obliegt insoweit die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Kläger führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. Regelverstöße, die Betroffene schicksalhaft treffen, sind nicht vorhersehbar und lassen sich – anders als bei regelhaft vorkommenden Rechtsverstößen – nicht verlässlich prognostizieren (vgl. Lübbe, ʹ‘Systemic Flaws’ and Dublin Transfers: Incompatible Tests before the CJEU and the ECtHR?ʹ in International Journal of Refugee Law [27] 2015, 135/137 f.). An die Feststellung systemischer Mängel sind daher hohe Anforderungen zu stellen. Systemische Schwachstellen bzw. Mängel, die eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, liegen nur dann vor, wenn Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhafte Defizite aufweisen und als Folge davon im konkreten Fall dem Asylbewerber im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss daraus die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Auf der anderen Seite machen selbst schwerwiegende Schwachstellen oder Mängel im Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen, die nicht nur vereinzelt vorkommen (und damit „systemisch“ sind), eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht unmöglich, wenn sich daraus im konkret zu entscheidenden Einzelfall keine Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung entgegen Art. 4 GRCh ableiten lässt (vgl. NdsOVG, U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris Rn. 28; vgl. für den Fall des Vorliegens einer konkreten Garantieerklärung durch den Dublin-Zielstaat bei ansonsten vorliegenden systemischem Mangel: BayVGH, B.v. 27.2.2023 – 24 ZB 22.50056 – juris Rn. 13). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die lediglich bestimmte Personengruppen betreffen (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff. m. Anm. Hruschka; BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Andererseits kann auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh eine Überstellung im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im Überstellungsstaat ist (vgl. EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91-95 = NVwZ 2017, 691/695 m. Anm. Hruschka). Der rechtliche Bezug zu Art. 4 GRCh setzt dabei in jedem Fall das Erreichen einer besonders hohen Erheblichkeitsschwelle voraus. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass es ungeachtet des europarechtlichen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein kann, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen müssen (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16 m.w.N.). Insoweit kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Dublin-Rechtskontext zu berücksichtigen ist, der Grundsatz des „mutual trust“ nicht im Sinn eines „blinden Vertrauens“ zur Rechtfertigung von Überstellungen zwischen EU-Mitgliedstaaten verstanden und auch nicht „schematisch“ bzw. „mechanisch“ angewandt werden (stRspr, vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 141 m.w.N. = NVwZ 2020, 937/940; U.v. 23.5.2016 – Avotiņš/Litauen, Nr. 17502/07 = HUDOC Rn. 114-116 = NJOZ 2018, 1515/1519; U.v. 3.7.2014 – Mohammadi/Österreich, Nr. 71932/12 – HUDOC Rn. 60 = BeckRS 2014, 127908; U.v. 21.1.2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – HUDOC Rn. 342 ff. = NVwZ 2011, 413 ff.). Dass gegenseitiges Vertrauen nicht mit „blindem Vertrauen“ verwechselt werden darf, hat zuletzt auch die Generalanwältin im Verfahren …22 vor dem Gerichtshof der Europäischen Union dargelegt (vgl. Schlussanträge vom 25.1.2024 – C-753/22 – BeckRS 2024, 688, Rn. 41). In der zitierten Entscheidung Ilias und Ahmed/Ungarn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter Verweis auf das M.S.S.-Urteil nachdrücklich bekräftigt, dass der abschiebende Staat nicht einfach unterstellen könne, der Asylbewerber werde im Drittstaat unter Einhaltung von Konventionsgarantien behandelt, er müsse vielmehr zunächst selbst prüfen, wie die dortigen Behörden ihr Asylrecht in der Praxis anwenden (vgl. EGMR, U.v. 21.9.2019 (GK) – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 141 m.w.N. = NVwZ 2020, 937/940). Bei einer zutreffenden Handhabung der mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehenden Vermutungsregel ergeben sich insofern auch keine praktischen Unterschiede zwischen den Maßstäben des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. Lübbe, ʹ‘Systemic Flaws’ and Dublin Transfers: Incompatible Tests before the CJEU and the ECtHR?ʹ in International Journal of Refugee Law [27] 2015, 135/139).
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Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Kammer mit (zwischenzeitlich rechtskräftig gewordenen) Urteilen vom 22. Februar 2024, auf deren Entscheidungsgründe vollumfänglich Bezug genommen wird, entschieden, dass im Mitgliedstaat Kroatien in mehrfacher Hinsicht systemische Mängel im dortigen Asylsystem vorliegen, aus denen sich die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Verletzung des Rechts aus Art. 4 GRCh ergeben kann (M 10 K 22.50479, M 10 K 23.50597 – beide juris). Neuere bzw. anderweitige Erkenntnismittel, welche die tragenden Argumentationssätze in den Entscheidungsgründen der genannten Kammerurteile in Zweifel ziehen würden, liegen, soweit ersichtlich, bislang nicht vor. Soweit in einem neu bekannten Medienbericht des österreichischen „Der Standard“ (welchen die Kammer bislang nicht berücksichtigten konnte, vgl. den erstmaligen Hinweis in ACCORD, Anfragebeantwortung Kroatien [9.4.2024], S. 12 m.w.N. – abrufbar in Asylfact) erwähnt wird, dass Bosnien-Herzegowina etwa ein Drittel der in der ersten Jahreshälfte 2023 gestellten 6.186 Rückübernahmeersuchen von Kroatien abgelehnt habe und teilweise Umsetzungsschwierigkeiten erwähnt werden, dürfte sich das ausweislich der relevanten Bestimmungen des Abkommens im Wesentlichen auf die höheren verfahrens- und tatbestandsmäßigen Hürden des sogenannten „summarischen“ bzw. beschleunigten Verfahrens (vgl. Art. 2 Abs. 3 des Abkommens) beziehen (vgl. auch Sarajewo Times vom 10.4.2023, „One Thousand Migrants have been returned from Croatia to BiH“, abrufbar unter https://sarajevotimes.com/one-thousand-migrants-have-been-returned-from-croatia-to-bih/). Unabhängig davon geht das Gericht aber davon aus, dass die in dem Urteil der Kammer vom 22. Februar 2024 (M 10 K 23.50597) dargelegten systemischen Schwachstellen bezüglich der „7-Tage-Papiere“ auch im vorliegenden Fall mit der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr einer Verletzung des Rechts des Klägers aus Art. 4 GRCh nach einer Überstellung nach Kroatien einhergehen.
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Nach den Angaben des Klägers ist davon auszugehen, dass gegen ihn in Kroatien eine bestandskräftige und vollziehbare Rückkehrentscheidung vorliegt, die entgegen der Verfahrensgarantie aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU in Reaktion auf seinen dort gestellten Asylantrag ergangen ist (ausführlich dazu bereits VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 23.50597 – juris Rn. 45, m.w.N. auf EuGH, U.v. 9.11.2023 - C-257/22 – juris Rn. 44). Das Gericht ist mit dem Inhalt derartiger Rückkehrentscheidungen, die als sogenannte „7-Tage-Papiere“ bekannt sind, aus dem Verfahren M 10 K 23.50597 vertraut. Anders als im Verfahren M 10 K 23.50597 liegt im vorliegenden Verfahren sogar eine EURODAC-Treffermeldung der Kategorie 1 vor, sodass die von der kroatischen Polizei erlassene Rückkehrentscheidung ungeachtet des dort eingeleiteten Asylverfahrens getroffen wurde. Da das Gericht davon ausgeht, dass die kroatische Polizei die von ihr erlassenen Rückkehrentscheidungen nach dem Ausländergesetz auch vollstreckt (vgl. VG München, a.a.O. Rn. 47), ist daher auch im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass dem Kläger nach einer Überstellung nach Kroatien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die weitere Überstellung nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien droht (zu den dortigen Aufnahmebedingungen für Drittstaatsangehörige ausführlich VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 23.50597 – juris Rn. 35; U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris Rn. 33).
27
Die vom Bundesamt zuletzt verschiedentlich vorgetragene neuere erstinstanzliche Rechtsprechung (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 13.5.2024 – 12 L 984/24.A; VG Würzburg, B.v. 7.5.2024 – W 7 S 24.50124; VG München, B.v. 30.4.2024 – M 3 S 24.50449; VG Wiesbaden, B.v. 26.4.2024 – 4 L 371/23.WI.A; VG Sigmaringen, B.v. 23.4.2024 – A 14 K 2421/23; VG Meiningen, B.v. 17.4.2024 – 5 E 169/24 Me – alle juris/milo; a.A. dazu zuletzt VG Köln, B.v. 24.4.2024 – 22 L 691/24.A – juris: Annahme offener Erfolgsaussichten) seit dem Ergehen der Kammerurteile vom 22. Februar 2024 vermag am obigen Befund nichts zu ändern. Ein Großteil der vom Bundesamt angeführten Entscheidungen erwähnt die Urteile der Kammer vom 22. Februar 2024 lediglich im Rahmen umfänglicher Referenzen auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, ohne sich substantiell deren wesentlichen Argumentationssträngen auseinanderzusetzen. Im Übrigen ist die Behauptung, die Kammer habe unter Zugrundelegung identischer Erkenntnismittel (lediglich) eine andere Rechtsauffassung als der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (U.v. 11.5.2024 – A 4 S 2666/22 – juris) vertreten (so VG Sigmaringen, B.v. 23.4.2024 – A 14 K 2421/23 – juris/milo BA S. 13), unzutreffend. Aus einer Gegenüberstellung der Entscheidungsgründe der Kammerurteile vom 22. Februar 2024 mit denjenigen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 11. Mai 2023 samt dem jeweils verwerteten Quellenmaterial bzw. den zugrunde gelegten Tatsachen (wozu gerade auch das einschlägige ausländische Recht und dessen Einordnung im Verhältnis zum verwerteten Quellenmaterial zählt, vgl. BVerwG, B.v. 5.3.2018 – 1 B 155.17 – juris Rn. 4; U.v. 19.7.2012 – 10 C 2.12 – juris Rn. 14) ist allein schon anhand der Referenzen sowie der Heranziehung des einschlägigen ausländischen Rechts unschwer zu erkennen, dass die Kammer nicht lediglich unter Zugrundlegung identischer Tatsachen eine andere Rechtsauffassung als der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vertreten hat. Insoweit wäre auch die vom Verwaltungsgericht Würzburg angesprochene (und verneinte) Frage, ob im Weg der Dublin III-VO rücküberstellte Personen „tatsächlich einem von Kroatien geschlossenen bilateralen Rückübernahmeabkommen unterfallen“ (VG Würzburg, B.v. 7.5.2024 – W 7 S 24.50124 – juris/milo BA S. 15 f.), richtigerweise durch die Heranziehung und Auslegung des einschlägigen Vertragstexts einschließlich jeder späteren Übung bei der Anwendung dieses Abkommens (vgl. Art. 31 Abs. 3 Buchst. b WVK) zu beantworten gewesen (vgl. VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris Rn. 24 f., 31 f., 44 ff.). Soweit sich das Bundesamt zuletzt anderweitig noch auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Trier vom 21. Mai 2024 (1703/24.TR, b.n.v.) bezogen hat, die „abstrakte Möglichkeit der Anwendung“ der zwischenstaatlichen Regelungen bilateralen Rückübernahmeabkommen Kroatiens mit Serbien und Bosnien-Herzegowina reiche generell nicht für die Annahme systemischer Mängel aus, lässt dies auf allgemeiner Ebene lediglich prinzipielle Auffassungsunterschiede zu der von der Kammer herangezogenen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32-34: „die Gesetzeslage“, „gesetzliche[n] Zulässigkeit einer Abschiebung“; HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 48-51; OVG Saarl, U.v. 9.3.2017 – 2 A 364/16 – juris Rn. 28; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 48-52) erkennen, ohne dass diese insoweit von der zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung abweichende Auffassung näher begründet wird.
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b) Die Nebenentscheidungen des angegriffenen Bescheids in Nummer 2 und Nummer 4 können nach allem ebenso keinen Bestand haben. Die Entscheidung über das Nichtvorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote ist vorliegend jedenfalls verfrüht erfolgt (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21), unabhängig davon, dass im Hinblick auf den obigen Befund die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ebenfalls erfüllt wären (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh). Dem angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot von 19 Monaten ab dem Tag der Abschiebung ist infolge der Aufhebung der Abschiebungsanordnung die rechtliche Grundlage entzogen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG). Sie sind ebenfalls aufzuheben.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Eine Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ist nicht veranlasst, da Gerichtskosten nicht anfallen und nach der vorliegenden Kostengrundentscheidung die Beteiligten die bei ihnen entstandenen Kosten jeweils selbst zu tragen haben.