Inhalt

VG München, Urteil v. 18.01.2024 – M 10 K 23.50905
Titel:

Dublin-Verfahren (Zielstaat, Österreich, Herkunftsstaat Afghanistan), Abschiebungsanordnung, Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit Beschluss vom 18. September 2023 (M 10 S 23.50906), Anhörungsfehler des Bundesamts hinsichtlich des Klägers, Entscheidung des EuGH vom 30. November 2023 (C-228/21, C-254/21, C-315/21 u. C-328/21), Heilung des Anhörungsfehlers im Klageverfahren, Abhängigkeitsverhältnis der jüngeren Schwester zum Kläger, Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der abhängigen Schwester (derzeit nicht gegeben), Ausstehende Asylentscheidung der abhängigen Schwester im nationalen Verfahren

Normenketten:
VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) Art. 5 Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 5 Abs. 2 Buchst. b
Dublin III-VO Art. 16 Abs. 1
Dublin III-VO Art. 17 Abs. 1
Dublin III-VO Art. 17 Abs. 2
VO (EG) 343/2003 (Dublin II-VO) Art. 15 Abs. 2
EMRK Art. 8 Abs. 1
AsylG § 77 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Österreich, Herkunftsstaat Afghanistan), Abschiebungsanordnung, Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit Beschluss vom 18. September 2023 (M 10 S 23.50906), Anhörungsfehler des Bundesamts hinsichtlich des Klägers, Entscheidung des EuGH vom 30. November 2023 (C-228/21, C-254/21, C-315/21 u. C-328/21), Heilung des Anhörungsfehlers im Klageverfahren, Abhängigkeitsverhältnis der jüngeren Schwester zum Kläger, Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der abhängigen Schwester (derzeit nicht gegeben), Ausstehende Asylentscheidung der abhängigen Schwester im nationalen Verfahren
Fundstelle:
BeckRS 2024, 15086

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht vorher die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, nach eigenen Angaben ein afghanischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die (erneute) Anordnung seiner Überstellung nach Österreich im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
2
Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 16. August 2023, zugestellt am 21. August 2023, ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Österreich an (Nummer 1 des Bescheids) und befristete das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nummer 2 des Bescheids). Auf Antrag des Klägers ordnete das Gericht mit Beschluss vom 18. September 2023 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen diesen Bescheid an. Hintergrund dieses Beschlusses war, dass das Bundesamt vor Erlass der streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung entgegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) kein persönliches Gespräch mit dem Kläger durchgeführt hatte und die sich aus diesem formell-rechtlichen Rechtsverstoß ergebenden Rechtsfolgen zum damaligen Zeitpunkt (noch) nicht in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union abschließend geklärt waren (vgl. B.v. 18.9.2023 – M 10 S 23.50906 – juris Rn. 17 ff.). Zur Darstellung des Tatbestands wird im Übrigen auf die entsprechenden Randnummern des Beschlusses vom 18. September 2023 Bezug genommen.
3
Mit Bescheid vom 2. November 2023 (Gesch.-Z.: ...) hob das Bundesamt den Dublin-Bescheid vom 27. März 2023 hinsichtlich der jüngeren Schwester M. des Klägers, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist auf. Hinsichtlich der älteren Schwester des Klägers Z. (...heid. Hinsichtlich beider Schwestern des Klägers ist bislang keine Entscheidung im nationalen Verfahren durch die Beklagte ergangen.
4
Mit Schriftsatz vom 9. November 2023 hat das Bundesamt zum gerichtlichen Beschluss vom 18. September 2023 ausgeführt, dass eine erneute persönliche Befragung des Klägers wohl keine anderweitigen Erkenntnisse gebracht hätte. Von der Möglichkeit, sich schriftlich zu äußern, habe der Kläger keinen Gebrauch gemacht.
5
Das Bundesamt hat im Nachgang zum gerichtlichen Beschluss vom 18. September 2023 mit von Amts wegen eingeholten SER-Votum vom 24. November 2023 daran festgehalten, dass das Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO nicht ausgeübt werde. Neben der Anmerkung, dass eine Verpflichtung zum Selbsteintritt auch im gerichtlichen Beschluss vom 18. September 2023 nicht erwähnt werde, habe gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. b Dublin III-VO auf das persönliche Gespräch verzichtet werden können, weil der Kläger bereits in seinem ersten Dublin-Verfahren die sachdienlichen Angaben gemacht habe. Davon sei das Bundesamt ausgegangen, weil der Kläger bereits einen Tag nach seiner Überstellung nach Österreich wieder in das Bundesgebiet eingereist sei und überdies kein erneutes Asylgesuch geäußert habe.
6
Mit Beschluss vom 30. Oktober 2023 wurde das Klageverfahren gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
7
Der Kläger beantragt zuletzt,
8
den Bescheid der Beklagten vom 16. August 2023 (Gesch.-Z.: ...) aufzuheben, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
9
Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 31. August 2023,
10
die Klage abzuweisen.
11
In der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2023 hat das Gericht das persönliche Gespräch nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO mit dem Kläger nachgeholt und die rechtlichen Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO eingehend erörtert. Der Kläger hat gegen Gewährung einer Schriftsatzfrist bis zum 16. Januar 2024 auf weitere mündliche Verhandlung verzichtet, die Beklagte mit Schriftsatz vom 27. Dezember 2023. Eine weitere Äußerung des Klägers innerhalb der gewährten Schriftsatzfrist erfolgte nicht.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 S 23.50906 sowie auf die beigezogenen Behördenakten (auch hinsichtlich der Schwestern des Klägers) verwiesen.

Entscheidungsgründe

13
Über die Klage kann ohne (weitere) mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten hierauf übereinstimmend verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
I.
14
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der streitbefangene Bescheid vom 16. August 2023 ist im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
15
1. Die verfügte Abschiebungsanordnung in Nummer 1 des streitbefangenen Bescheids war ursprünglich formell rechtswidrig, weil die Beklagte vor deren Erlass entgegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kein persönliches Gespräch mit dem Kläger durchgeführt hatte. Insofern verweist das Gericht zunächst auf die Ausführungen im Beschluss vom 18. September 2023 (M 10 S 23.50906 – juris Rn. 16). Die hiergegen zuletzt vorgetragenen Einwände des Bundesamts sind rechtlich nicht stichhaltig bzw. überzeugen unter systematischen Gesichtspunkten nicht. Auf das persönliche Gespräch darf nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b Dublin III-VO verzichtet werden, wenn der betroffene Antragsteller bereits die sachdienlichen Angaben gemacht hat, was der Fall sein kann, wenn er beispielsweise bereits von sich aus erforderliche Angaben schriftlich bei der Behörde eingereicht hat (vgl. Hönlinger in BeckOK MigR, Stand 15.10.2023, Art. 5 Dublin III-VO Rn. 2). In diesem Sinn ist die Vorschrift nach Auffassung des Gerichts allerdings restriktiv zu verstehen bzw. auf solche Situationen zu beschränken, in denen sich ein Antragsteller nach Aushändigung des Merkblatts gemäß Art. 4 Dublin III-VO bereits gegenüber der Behörde eigeninitiativ geäußert hat. Entsprechend des Grundgedankens des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO gibt sie der zuständigen Behörde keine Befugnis, nach eigener Einschätzung vom Modus der Anhörung im Sinn eines persönlichen Gesprächs abzuweichen und den Betroffenen überhaupt erst zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme aufzufordern. Insoweit ist in der Rechtsprechung auch wiederholt entschieden worden, dass die diesbezügliche Verwaltungspraxis des Bundesamts nicht mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO zu vereinbaren ist (vgl. VG München, B.v. 18.9.2023 – M 10 S 23.50906 – juris Rn. 16 m.w.N.).
16
Im Übrigen spricht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vieles dafür, dass das Tatbestandsmerkmal „bereits die sachdienlichen Angaben gemacht hat“ strikt verfahrensbezogen zu verstehen ist. Reist ein Antragsteller nach einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat erneut in den überstellenden (unzuständigen) Mitgliedstaat ein, muss stets ein neues Wiederaufnahmeverfahren durchgeführt werden (vgl. EuGH, U.v. 25.1.2018 – C-360/16 – juris Rn. 55), eine bereits erlassene Abschiebungsanordnung aus einem früheren Wiederaufnahmeverfahren gilt insoweit als „verbraucht“ (vgl. dazu VG München, GB v. 2.11.2023 – M 10 K 21.50331 – juris Rn. 15 m.w.N.). Insofern erscheint es unter systematischen Gesichtspunkten naheliegend und zwingend, dass die relevanten Verfahrensvorschriften nach der Dublin III-VO im durchzuführenden zweiten Wiederaufnahmeverfahren uneingeschränkt gelten und nicht unter Verweis auf ein früheres Wiederaufnahmeverfahren in irgendeiner Weise abgekürzt werden können. Insofern kann der Umstand, dass ein Antragsteller in einem ersten Wiederaufnahmeverfahren im Rahmen des persönlichen Gesprächs die relevanten Angaben gemacht hat, nicht damit gleichgesetzt werden, im zweiten Wiederaufnahmeverfahren würden nun ebenfalls die erforderlichen Angaben des Betroffenen bereits vorliegen. Dies gilt selbst dann, wenn – wie hier – ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat und der (erneuten) Wiedereinreise in den unzuständigen Mitgliedstaat besteht. Ein allgemeiner Erfahrungssatz, dass bei einem derartig engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Überstellung und Wiedereinreise stets und uneingeschränkt von einer unveränderten Sachlage für das durchzuführende zweite Wiederaufnahmeverfahren ausgegangen werden und daher auf ein erneutes persönliches Gespräch mit dem Betroffenen verzichtet werden könne, dürfte im Übrigen nicht belegbar sein. Das Verständnis des Bundesamts von Art. 5 Abs. 2 Buchst. b Dublin III-VO findet insofern, soweit ersichtlich, weder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch im Schrifttum eine hinreichende Stütze.
17
Hinsichtlich der Frage der Fehlerfolgen des Verstoßes der Beklagten gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 30. November 2023 entschieden, dass die Überstellungsentscheidung für nichtig zu erklären sei, es sei denn, die betroffene Person könne sich nach nationalen Recht im Rahmen eines Rechtsbehelfs in einer Vernehmung, die die Voraussetzungen und Garantien gemäß Art. 5 der Verordnung erfülle bzw. gewähre, persönlich alle ihre Argumente gegen die Entscheidung vorbringen, und diese Argumente nicht geeignet seien, etwas an der Überstellungsentscheidung zu ändern (vgl. EuGH, U.v. 30.11.2023 – C-228/21, C-254/21, C-297/21, C-315/21 u. C-328/21, Rn. 124 = ZAR 2023, 423 <427>, m. Anm. Pfersich). Das Gericht hat den Kläger entsprechend dieser Vorgaben, die sich für das Gericht bereits entsprechend der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. EuGH, U.v. 16.7.2020 – C-517/17 – Rs. „Addis“ – juris Rn. 74 = ZAR 2020, 376 ff. m. Anm. Pfersich) und den Ausführungen der Generalanwältin vom 20. April 2023 in den oben zitierten verbundenen Rechtssachen abgezeichnet haben, in der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2023 angehört und Gelegenheit gegeben, alle relevanten Tatsachen gegen die (erneute) Überstellungsentscheidung des Bundesamts nach Österreich vorzutragen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass er alles aus seiner Sicht Erforderliche vorgetragen hat, warum er in Deutschland bleiben möchte. Insofern betrachtet das Gericht den ursprünglichen Rechtsverstoß des Bundesamts gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung als geheilt.
18
2. Die nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG erlassene Abschiebungsanordnung vom 16. August 2023 ist auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2023 materiell rechtmäßig. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Mitgliedstaat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
19
a) Vorliegend ist nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO Österreich der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers, da er dort bereits einen Asylantrag gestellt hat. Die Asylantragstellung in Österreich wird durch den EURODAC-Treffer der Kategorie 1 („AT1[…]“ vom 6.9.2022) in der Ergebnismeldung vom 21. Juli 2023 belegt. Demnach ist Österreich nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO zur Rückübernahme des Klägers verpflichtet, was das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem Schreiben vom 5. August 2023 auch bestätigt hat. In verfahrensrechtlicher Hinsicht hat das Wiederaufnahmegesuch der Beklagten vom 26. Juli 2023 die relevanten Verfahrensvorschriften im Wiederaufnahmeverfahren – hier auch konkret im Haftkontext (vgl. Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 1, Satz 3 Dublin III-VO) – eingehalten.
20
b) Eine vorrangige Zuständigkeit der Beklagten gemäß Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers besteht im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht. Nach dieser Vorschrift entscheiden die Mitgliedstaaten unter anderem, einen Antragsteller und eine von ihm abhängige Person, die den dort genannten Personenkreis unterfällt, nicht voneinander zu trennen, sofern sich die abhängige Person rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält. Zu einer Abhängigkeit im Rechtsinn können ausweislich des Normtexts beispielsweise eine schwere Krankheit oder eine ernsthafte Behinderung führen. Die jüngere Schwester M. des Klägers unterfällt dem in Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO aufgeführten Personenkreis (Geschwister) und leidet, was vorliegend nicht ernsthaft im Streit steht, auch an einer ernsthaften Behinderung. Nach den unbestrittenen und letztendlich glaubhaften Angaben des Klägers sitzt seine jüngere Schwester aufgrund einer schweren Verletzung (Granatsplitter in den Rücken in Afghanistan) im Rollstuhl und ist auf Pflege angewiesen, was der Kläger in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar geschildert hat. Der Kläger wohnt aktuell auch mit seinen beiden Schwestern zusammen und kümmert sich nach eigener Aussage um die Pflege der jüngeren Schwester, die offenbar auch einfache Tagesroutinen alleine nicht oder nur mit großen Aufwand bewältigen kann. Das Abhängigkeitsverhältnis der jüngeren Schwester zum Kläger entfällt schließlich auch nicht allein deshalb, dass auch die ältere Schwester noch mit im Haushalt lebt. Abgesehen von Alltagsherausforderungen bei einer körperlich beeinträchtigten Person in diesem Umfang, die je nach (fehlenden) Möglichkeiten der Barrierefreiheit im Alltag auf Dauer auch mehr oder minder kräftezehrend sein können, erschließt sich dem Gericht jedenfalls ohne weiteres der damit verbundene zeitliche Umfang, sodass auch gedachte (ergänzende) Unterstützungsmöglichkeiten durch die ältere Schwester die erforderliche Unterstützung durch den Kläger und die damit einhergehende Abhängigkeit der jüngeren Schwester nicht per se aufheben würden.
21
Allerdings ist vorliegend jedenfalls die weitere tatbestandliche Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts der jüngeren Schwester im Bundesgebiet aktuell nicht erfüllt. Diese befindet sich aktuell im nationalen Verfahren und dürfte nach dem entsprechenden Bescheid des Bundesamts vom 2. November 2023 wieder im Besitz einer Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 AsylG) sein. In der (untergerichtlichen) Rechtsprechung ist indes geklärt, dass eine Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 AsylG bzw. das Recht zum Verbleib im prüfenden Mitgliedstaat gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU nicht ausreicht, um einen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinn dieser Vorschrift zu begründen (vgl. VG Würzburg, B.v. 28.6.2017 – W 8 S 17.50344 – juris Rn. 21; VG München, B.v. 30.12.2015 – M 12 S 15.50773 – juris Rn. 28; VG Düsseldorf, B.v. 8.4.2015 – 3 L 914/15.A – juris Rn. 17). Diese Rechtsprechung argumentiert im Wesentlich damit, dass das aus einer Aufenthaltsgestattung folgende Bleiberecht konzeptionell nur vorrübergehender Natur ist und eben noch keinen Aufenthalt im Rechtsinn, d.h. im Sinn eines legalisierten Akts, begründen kann. Deutlicher wird dies noch anhand der Vorschrift des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU, die insofern ausdrücklich von einem „Recht zum Verbleib“ spricht, woraus sich im Übrigen kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel ergibt (vgl. Art. 9 Abs. 1 Satz 2 RL 2013/32/EU). Die englischsprachige Fassung von Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO spricht im Übrigen von „legally resident“, was deutlich höherschwelliger im Vergleich zu den Voraussetzungen der korrespondierenden Vorgängerregelung in Art. 15 Abs. 2 VO (EG) 343/2003 (Dublin II-VO) ist, die lediglich auf den Aufenthalt als solchen („present“) abgestellt hat (vgl. dazu auch Hruschka/Maiani in Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Aufl. 2022, Art. 16 Dublin III-VO Rn. 9). Die sich insoweit ergebenden systematischen Aspekte ermöglichen insofern eine eindeutige Auslegung des Norminhalts von Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO und bestätigen die bislang vorliegende untergerichtliche Rechtsprechung. Dass die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts in Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO, soweit ersichtlich, bislang keine nähere rechtliche Konturierung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union erfahren hat bzw. es auch noch keine obergerichtliche Rechtsprechung dazu gibt, ist in diesem Zusammenhang unschädlich.
22
Daran ändert vorliegend auch nichts, dass nach der derzeitigen Entscheidungspraxis des Bundesamts zu afghanischen Staatsangehörigen und unter Berücksichtigung der individuellen Situation der jüngeren Schwester des Klägers wohl mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von der Gewährung eines Schutzstatus und damit schlussendlich in mittelfristiger Zukunft von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 oder Abs. 3 Satz 1 AufenthG an die jüngere Schwester ausgegangen werden könnte. Aus dem (aktuellen) Vorliegen einer aus Antragstellersicht günstigen, allgemeinen Entscheidungspraxis der zuständigen Asylbehörde zu einem bestimmten Herkunftsland aufgrund der dort bestehenden abschiebungsrelevanten Lage (hier: Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ab August 2021) kann allerdings nach den oben dargestellten Ausführungen dennoch kein rechtmäßiger Aufenthalt geschlussfolgert werden. Denn dies liefe letztendlich auf eine in diesem Verfahrensstadium nicht vorgesehene bzw. nicht mögliche Vorwegnahme des weiteren Verwaltungsverfahrens hinaus und würde wie ausgeführt zu systematischen Wertungswidersprüchen in der unionsrechtlichen Rechtslage (Art. 9 Abs. 1 RL 2013/32/EU, nicht mehr anwendbare Vorgängerregelung nach Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO) führen. Da das Gericht etwaige zukünftige Entwicklungen der Sach- und Rechtslage in seine Entscheidung nicht miteinzubeziehen hat (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG), steht es einem Betroffenen bei einer nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage zu seinen Gunsten frei, hierauf entsprechend zu reagieren (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Dies erscheint – auch unter Berücksichtigung der Wertung des Art. 8 Abs. 1 EMRK – interessengerecht, da im Kontext des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO ein erhebliches Interesse der Mitgliedstaaten besteht, gegebenenfalls auch untereinander (erst) abzuklären, inwieweit geklärte (aufenthalts-)rechtliche Verhältnisse hinsichtlich der dort genannten abhängigen Personen bestehen. Insofern ist auch die Vorschrift des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ergänzend zu berücksichtigen.
23
c) Ein Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO liegt nicht vor und wurde vom Kläger im gerichtlichen Verfahren auch nicht geltend gemacht. Nach gefestigter verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung, der sich das Gericht anschließt, bestehen im Übrigen auch keine systemischen Mängel im österreichischen Asylsystem (vgl. ausführlich und statt vieler: VG München, B.v. 25.5.2023 – M 19 S 23.50285 – juris Rn. 20 ff.).
24
d) Schließlich war die Beklagte auch nicht verpflichtet, wegen der Geltendmachung der vorliegenden Situation als Härtefall ihren Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu erklären (vgl. dazu jüngst BayVGH, B.v. 13.12.2023 – 24 ZB 23.50020 – juris Rn. 11 ff.). Die nach dieser Vorschrift zu treffende Ermessensentscheidung, deren Ausübung sich nach dem nationalen Recht richtet (§ 40 VwVfG), ist nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Lediglich bei einer Ermessensreduzierung auf Null, die in besonders gelagerten Ausnahmefällen vorliegen kann, kommt ein entsprechender Verpflichtungsausspruch durch das Verwaltungsgericht in Betracht (vgl. BayVGH, a.a.O., Rn. 12). Eine derartige, besonders gelagerte Ausnahmesituation sieht das Gericht vorliegend nicht. Dabei ist zunächst unter systematischen Gesichtspunkten zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union das mitgliedstaatliche Ermessen nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sehr weit ist, zumal der dortige Ermessensspielraum – anders als in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO – europarechtlich weitgehend undeterminiert ist (vgl. EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 58 f. = NVwZ 2019, 297 <298>). Die Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null kann vorliegend allein schon deshalb rechtlich nicht tragfähig begründet werden, da dies letztendlich zu systematischen Brüchen im Hinblick auf die strengeren Voraussetzungen des oben erörterten Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO führen würde. Im Hinblick auf die Situation des Klägers bzw. seiner von ihm abhängigen jüngeren Schwester sowie der betroffenen Rechtspositionen aus Art. 8 Abs. 1 EMRK erscheint dies auch letztendlich nicht schlechthin unvertretbar. Wie bereits oben ausgeführt, stünde es dem Kläger frei, bei einer etwaigen Änderung der Sach- und Rechtslage einen Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG von Österreich aus zu stellen, der überdies mit einem Antrag nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bzw. der Möglichkeit nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO verbunden werden könnte. Insofern kann auch unter Berücksichtigung der konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht davon ausgegangen werden, dass es zu einer unabsehbar langen und damit letztlich nicht mehr vertretbaren Trennung des Klägers von seiner jüngeren Schwester käme. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es Kläger selbst in der Hand hat, den Trennungszeitraum unter Ausnutzung rechtsstaatlicher Handlungsmöglichkeiten und mit einer kooperativen Vorgehensweise mit den zuständigen Behörden so kurz wie möglich zu halten. Dass die jüngere Schwester für einen vorübergehenden Zeitpunkt verstärkt auf ihre ältere Schwester bzw. unter Umständen auf ergänzende Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen wäre (vgl. dazu beim Vorliegen einer Behinderung und dem Angewiesensein auf Eingliederungshilfe: Frings in Fasselt/Schellhorn, Handbuch Sozialrechtsberatung, 6. Aufl. 2021, § 26 Rn. 224), erachtet das Gericht für sich genommen nicht als unvertretbar bzw. führt nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null.
25
e) Die Abschiebung ist nach den obigen Ausführungen rechtlich zulässig und – vorbehaltlich des Ablaufs der Frist nach § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO – im Übrigen auch tatsächlich möglich, da weder inlands- noch zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse vorliegen (vgl. insofern zur Prüfungskonzentration des Bundesamts: BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 11). Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK liegt nach den obigen Ausführungen nicht vor, da die mit einer Abschiebung verbundene vorrübergehende Trennung von der jüngeren Schwester des Klägers nicht unverhältnismäßig ist. Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG bestehen hinsichtlich Österreich ebenfalls nicht. Für das Gericht ist in diesem Kontext – auch losgelöst von der mit dem unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehenden Vermutungsregel – nicht ersichtlich, dass der Kläger in Österreich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in seinem Recht aus Art. 3 EMRK verletzt wird. Diesbezüglich hat der Kläger auch nichts ansatzweise vorgetragen. Hinsichtlich eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat der Kläger schon nicht vorgetragen, an einer erheblichen Krankheit zu leiden, geschweige denn ein qualifiziertes ärztliches Attest vorzulegt (§ 60 Abs. 7 Satz 2, § 60a Abs. 2c Satz 2, Satz 3 AufenthG).
26
3. Das in Nummer 2 des streitbefangenen Bescheids erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten begegnet ebenso keinen ernsthaften rechtlichen Bedenken.
27
Die Befristung eines unter der aufschiebenden Bedingung der Abschiebung des Ausländers erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots vollzieht sich in zwei Schritten: In einem ersten Schritt bedarf es der prognostischen Einschätzung des Bundesamts, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches der die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots veranlassenden Abschiebung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an einer Gefahrenabwehr durch Fernhaltung des Ausländers von dem Bundesgebiet zu tragen vermag. Sind in dem zu beurteilenden Einzelfall Umstände, die das gefahrenabwehrrechtlich geprägte Interesse an einem Fernhalten des Ausländers vom Bundesgebiet erhöhen, ebenso wenig erkennbar wie Umstände, die geeignet sind, das Gewicht dieses öffentlichen Interesses zu mindern, so begegnet es in einer Situation, die keine Besonderheiten gegenüber gleichgelagerten Fällen aufweist, keinen Bedenken, das abschiebungsbedingte Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von 30 Monaten zu befristen und damit den durch Art. 11 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG und § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorgegebenen Rahmen zur Hälfte auszuschöpfen (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47.20 – juris Rn. 18 m.w.N.). Dem gefahrenabwehrrechtlich geprägten öffentlichen Interesse sind in einem zweiten Schritt die Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die private Lebensführung des Ausländers gegenüberzustellen. Die Schutzwürdigkeit des Interesses des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive wird insbesondere durch Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRCh sowie durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47.20 – juris Rn. 15 ff. und Rn. 19).
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Gemessen an diesen Vorgaben ist die Befristungsentscheidung des angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate nicht zu beanstanden. Auch wenn die Formulierung im angegriffenen Bescheid, seine zwei Schwestern im Bundesgebiet müssten „nicht berücksichtigt“ werden (gemeint sein dürfte dies wohl mit Blick auf die Rechtserheblichkeit im Kontext des Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO, vgl. S. 3 letzter Absatz im Bescheid), angesichts der oben angeführten Maßgaben des Bundesverwaltungsgerichts bedenklich erscheint, handelt es sich aber hinsichtlich der Frage der Schutzwürdigkeit der zu berücksichtigenden Bindungen um eine Wertungsfrage, bei der es maßgeblich darauf ankommt, dass der maßgebliche Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht vollständig und zutreffend erfasst wird (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 114 VwGO Rn. 25 f.). Hinsichtlich Letzteren hat das Gericht keine durchgreifenden Bedenken, auch wenn das Verneinen der erforderlichen Angewiesenheit der jüngeren Schwester als abhängige Person im Sinn des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO ohne nähere Begründung nicht überzeugend ist (vgl. Bescheid S. 4 erster Absatz). Da sich allerdings im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung die Bewertung des Bundesamts zu Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO (wenn auch aus anderen rechtlichen Gründen) jedenfalls als ergebnisrichtig darstellt, erweist sich die Befristungsentscheidung auf 30 Monate unter Berücksichtigung des Verstoßes des Klägers gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot aus dem Erstbescheid vom 27. März 2023 (Gesch.-Z.: … * …*) sowie unter Berücksichtigung der nur eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) noch nicht als ermessensfehlerhaft. Insbesondere der Umstand, dass sich der Kläger über das Einreise- und Aufenthaltsverbot aus dem Erstbescheid hinweggesetzt hat und unter Verstoß gegen Einreisevorschriften erneut in das Bundesgebiet einreist ist, durfte mit erheblichen Gewicht zu seinen Lasten berücksichtigt und ihm letztendlich auch damit verdeutlicht werden, dass es für die Bundesrepublik Deutschland nicht hinnehmbar ist, dass er die Aufrechterhaltung seiner verwandtschaftlichen Beziehungen unter Verstoß gegen die Rechtsordnung einseitig versucht zu erzwingen, anstatt rechtsförmige bzw. rechtsstaatliche Möglichkeiten zu nutzen. Insofern war dem Kläger (auch) zu verdeutlichen, dass er sich mit einer derartigen Vorgehensweise rechtlich mehr schadet, als es ihm Nutzen einbringt.
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4. Der hilfsweise gestellte Verpflichtungsantrag auf Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Insofern wird auf die obigen Ausführungen zur Durchführbarkeit der Abschiebung verwiesen.
II.
30
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.