Titel:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Apostasie (Irak)
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 2, § 4
QualifikationsRL Art. 10 Abs. 1 lit. b
Leitsatz:
Bei einem auf einer inneren Überzeugung beruhenden Abfalls vom islamischen Glauben (Apostasie) und dem Bedürfnis, dies in der Öffentlichkeit kundzutun ist bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer unmittelbaren individuellen religiösen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure auszugehen. (Rn. 35 – 41)
Schlagworte:
Der Kläger begehrt die Zuerkennung des internationalen Schutzes, da er aufgrund seines Abfalls vom islamischen Glauben nicht in den Irak könne., Irak, Folgeantrag, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Apostasie, nichtstaatliche Akteure
Fundstelle:
BeckRS 2024, 14434
Tenor
I. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.06.2022 (Gz.: …*) verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Zuerkennung des internationalen bzw. nationalen Schutzes, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden Bundesamt) den Asylantrag abgelehnt hat.
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Der am … geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit und konfessionslos. Er stellte am 11.05.2022 einen Folgeantrag.
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Der Kläger reiste erstmals im Jahr 2001 in die Bundesrepublik ein und stellte einen Asylantrag. Dieser Asylantrag wurde durch Bescheid des Bundesamts vom 25.01.2003 unanfechtbar abgelehnt und die Abschiebung in den Irak angedroht.
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Im Rahmen seiner persönlichen informatorischen Anhörung beim Bundesamt am 23.06.2022 gab der Kläger an, dass er in Kirkuk geboren sei, aber man seine Familie aus Kirkuk vertrieben habe. Vor seiner Ausreise habe er in … …, einem Lager aus der Zeit Saddam Husseins gelebt. Seine Familie lebe nach seinem Wissen aktuell in … Er habe noch seine Eltern, fünf Schwestern, zwei Brüder und die Großfamilie im Irak. Er habe keinen Kontakt zur Familie, mit Ausnahme einer Schwester, mit welcher er gelegentlich telefoniere. Der Kläger habe im Irak die Schule bis zur 6. Klasse besucht und seinem Vater damals in der Landwirtschaft geholfen. Er habe keinen Beruf erlernt.
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Nach den Gründen für seinen Folgeantrag befragt, gab der Kläger an, dass er von seiner eigenen Familie bedroht werde und deswegen nicht mehr in den Irak zurückkönne. Er sei 2001 nach Deutschland gekommen. Nachdem sein erstes Asylgesuch abgelehnt worden sei, habe er sich nach Großbritannien begeben, von wo aus er zurück nach Deutschland geschickt worden sei. Von 2013 bis ungefähr ins Jahr 2017 habe er sich in Schweden aufgehalten. Weil seine Situation nicht gut gewesen sei und er damals nicht habe arbeiten dürfen, habe er Drogen konsumiert und verkauft. Aus diesem Grund sei er ins Gefängnis gekommen. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis habe das Verwaltungsgericht Regensburg im Jahr 2019 entschieden, dass er in den Irak ausgewiesen werde. Daher habe sich der Kläger zunächst zur Rückkehr in sein Heimatland entschieden. Er habe deshalb mit seiner Schwester telefoniert und erzählt, dass er in den Irak komme.
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Daraufhin habe die Schwester gesagt, er solle unbedingt in Deutschland bleiben. Die Familie wolle ihn umbringen, weil sie von vielen Leuten gehört hätten, dass der Kläger Schande über die Familie gebracht habe. Die Familie habe mitbekommen, dass er Drogen verkauft und genommen habe und nicht an den Islam glaube. Um dies zu untermauern habe die Schwester ihm eine Tonaufnahme übersandt, auf welcher die Stimmen seines Vaters und zweier Brüder zu hören seien. Dort sei zu hören, dass der Kläger keinen Glauben habe. Wegen der Betreuung seines nach einem Schlaganfall paralysierten Bruders telefoniere der Kläger oft mit seiner Familie im Irak. Die Gesprächsangebote der Brüder lehne er jedoch ab, weil nach Angaben seiner Schwester, eine Aussöhnung unmöglich sei. Der Kläger habe Angst, weil seine Familie sehr religiös sei.
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Danach befragt, ob der Kläger nicht in einer großen Stadt leben könne, gab er an, dass man überall gefunden werden könne, da überall Familien und Stämme seien. Sein Vater habe viele Kontakte, weil er früher ein Partisan gewesen sei, daher könne er ihn überall im Irak finden. Auch seine Schwester habe bestätigt, dass der Vater die Kraft immer noch habe, aufgrund der alten Kontakte.
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Auf Nachfrage, woher seine Familie wisse, dass er nicht glaube, gab der Kläger an, dass die Menschen vor Ort über die Menschen in Deutschland sprechen würden. Man habe über den Kläger berichtet, was er in Deutschland mache, z.B. Alkohol trinken. Danach befragt, was er darüber hinaus noch mache, was seiner religiösen Familie missfalle, führte der Kläger aus, dass er nicht an Mohammed und nicht an den Islam glaube, aber es gäbe im Irak keine Möglichkeit aus dem Islam auszusteigen. Er sei nur Muslim gewesen, weil man dies im Irak ab der Geburt sei. Aber er sein nun erwachsen und könne Bücher lesen und wenn ihm etwas nicht gefalle, dann glaube er das nicht. Er habe in Gesprächen mit Bekannten in Deutschland offen seine kritische Meinung zum Islam sowie zur Bibel und dem Koran geäußert. Er verurteile Menschen nicht, egal an was sie glauben.
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Der Kläger übergab dem Bundesamt entsprechende Nachweise, dass er Betreuer seines durch Schlaganfall paralysierten Bruders ist.
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Das Bundesamt lehnte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 30.06.2022 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 2) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab und stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) fest (Ziffer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. bei Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; andernfalls würde er in den Irak oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zur Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben. Die Ausreisefrist werde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Der Bescheid wurde dem Kläger am 07.07.2022 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt.
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Am 21.07.2022 ließ der Kläger Klage gegen den vorgenannten Bescheid erheben. Mit Schriftsatz vom 25.03.24 wird vorgetragen, dass der Kläger im Falle der Rückkehr befürchte, von seiner Familie getötet zu werden, weil er aus Sicht seiner Familie durch sein Verhalten in der Bundesrepublik sowie aufgrund seines Abfalls vom muslimischen Glauben Schande über die Familie gebracht und die Familienehre verletzt habe. Der Kläger, der sich bereits seit dem Jahr 2001 in Deutschland befinde, sei in der Vergangenheit insbesondere im Zusammenhang mit Betäubungsmitteldelikten straffällig geworden, was sich aus dem Bundeszentralregisterauszug ergebe. Der Kläger habe mit Drogen gehandelt und diese konsumiert, ebenso wie auch Alkohol. Es werde darauf hingewiesen, dass der Kläger nunmehr seit langer Zeit nicht mehr straffällig geworden sei und sein früheres Verhalten stark bereue. Der Kläger habe sich inzwischen vorbildlich integriert. Wie sich aus einem aktuellen Auszug aus dem Bundeszentralregister ergebe, seien inzwischen alle Verurteilungen gelöscht.
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Die Familie des Klägers habe – auf dem Kläger nicht bekanntem Wege – Kenntnis von den Verfehlungen des Klägers erhalten. Ebenso habe die Familie des Klägers Kenntnis davon erhalten, dass der Kläger seinen Glauben abgelegt habe. Der Kläger vermute, dass diese Informationen über Bekannte in Deutschland, mit denen er sich über vorgenannte Themen unterhalten habe, in den Irak gelangt sei. Nachdem der Kläger Ende 2018 von der für ihn zuständigen Ausländerbehörde ausgewiesen worden sei und eine dagegen gerichtete Klage vom Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 11. Februar 2020 abgelehnt worden ist, habe der Kläger aufgrund seiner Perspektivlosigkeit beabsichtigt, in den Irak zurückzukehren. Nachdem der Kläger seine im Irak bei den Eltern lebende Schwester, mit welcher er in Kontakt stehe, über seinen Plan, in den Irak zurückzukehren, informiert habe, habe ihm diese energisch davon abgeraten und dem Kläger mitgeteilt, dass die männlichen Familienmitglieder, insbesondere der Vater des Klägers und seine zwei Brüder, darüber beraten und schlussendlich auch beschlossen haben, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak aufgrund seiner Verfehlungen und zur Wiederherstellung der Familienehre zwingend getötet werden müsse. Sie selbst habe diese Gespräche mehrmals mitgehört und heimlich ein Gespräch zwischen dem Vater und den zwei Brüdern des Klägers aufgezeichnet und diese Aufnahme sodann dem Kläger geschickt. Diese Aufnahmen wurden dem Schriftsatz beigefügt und es werde beabsichtigt, diese Aufnahme in der mündlichen Verhandlung abzuspielen und übersetzen zu lassen. Auf der Aufnahme sei zu hören, wie sich der Vater und die zwei Brüder über den Kläger unterhalten und darüber sprechen, dass der Kläger überzeugt werden solle, in den Irak zurückzukehren, um ihn sodann zu töten.
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Dem Kläger sei die Flüchtlingseigenschaft aufgrund des Abfalls vom Glauben zuzuerkennen. Der Kläger wäre bei seiner jetzigen Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren individuellen religiösen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt. Wie der Kläger bereits in seiner Anhörung beim Bundesamt dargelegt habe, habe er seinen Glauben abgelegt und kommuniziere dies auch ganz offen. Dem Kläger sei es auch wichtig, über dieses Thema zu sprechen. Neben weiteren Gründen, insbesondere dem Drogen- und Alkoholkonsum, drohe dem Kläger deshalb im Falle der Rückkehr in den Irak von seiner Familie getötet zu werden. Durch diesen Sachverhalt würden im Falle des Klägers die Voraussetzungen einer religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 AsylG vorliegen. Es erscheine beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak (auch) wegen seiner atheistischen Weltanschauung von Angehörigen seiner Familie und/oder unbekannten Dritten schwerer körperlicher Gewalt bis hin zur Tötung ausgesetzt sein werde. Aus den Erkenntnismitteln ergebe sich, dass für Personen, die sich – wie der Kläger – offen zu ihren atheistischen Anschauungen bekennen, eine besondere Gefahr bestehe, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch religiöse Fundamentalisten zu werden (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Doccumentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329- 1], 18. September 2017). Ein vom Islam abkehrender Religionswechsel werde rechtlich nicht anerkannt, sodass auf der Identitätskarte einer konvertierten Person auch nach deren Konversion noch stehe, dass sie/er Muslimin/Muslim sei (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017). Iraks Muslime seien überdies nach wie vor der Scharia untergeordnet, d.h. dem islamischen Recht, welches Apostasie bzw. den Abfall vom islamischen Glauben verbiete. Menschen, die den islamischen Glauben ablegen wollen, seien auf dieser Basis oft ernsthafter Verfolgung durch die Gesellschaft ausgesetzt, oftmals durch Familienangehörige oder Bekannte, welche bis hin zu tödlicher Gewalt reichen könne (BFA, a.a.O., S. 125 f. m.w.N.).
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Dem Kläger stehe vor der drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung – weder in der Autonomen Region Kurdistan noch im Zentralirak. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Familienangehörigen des Klägers ihn durch ihre Verbindungen zu Stammesmitgliedern in anderen Teilen des Irak, wenn womöglich auch nicht unmittelbar nach einer Rückkehr in den Irak, so doch früher oder später noch aufspüren würden. „Ehrenübertretungen“ würden als unverzeihlich angesehen werden, und der „Makel der Familienehre“ nehme im Laufe der Zeit nicht ab, sodass auch nach vielen Jahren noch mit einer Verfolgungsgefahr gerechnet werden müsse (Minority Rights Group International (MRG), The Lost Women of Iraq: Familybased violence during armed conflict, 15.11.2015, S. 26). Wenn eine Person umziehe, um Gewalt oder die Androhung von Gewalt seitens der Familie, des Stammes oder der Gemeinschaft als Folge schädlicher traditioneller Praktiken zu vermeiden, auch wegen der Wahrung der „Familienehre“, gebe es eindeutige Hinweise darauf, dass solche Akteure die Person in das Umzugsgebiet verfolgen werden, z.B. auch über Stammes-, Familien- oder andere Verbindungen (Danish Immigration Service (DIS), Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 14). Die Befürwortung solcher Normen und Praktiken durch weite Teile der Gesellschaft und die Einschränkungen bzw. mangelnde Bereitschaft des Staates, Schutz vor solchen Missbräuchen zu bieten, würden die Möglichkeiten einer erfolgreichen Umsiedlung schmälern (Australian Government Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Country Information Report Iraq, 17.08.2020, S. 63). Vertriebene im Irak müssten bei einem Umzug Sicherheitskontrollen durchlaufen und das Einverständnis verschiedener Akteure, wie Mitgliedern des Militärs und von Sicherheitskräften, lokalen Behörden und Stämmen einholen (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 34). Ein Binnenvertriebener, der von einem Teil der Region Kurdistan-Irak in einen anderen umziehen möchte, müsse die Genehmigung der Asayish-Büros an beiden Orten einholen, von denen und in die die Person umziehe (European Asylum Support Office (EASO), COI Query: Role, activities and ranking oft he Asayish forces in the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 24.04.2018, S. 5). Diesbezüglich sei insbesondere darauf hinzuweisen, dass ein Bruder des Klägers dem kurdischen Inlandsgeheimdienst „Asayish“ angehöre. Insbesondere der Bruder, aber auch andere mächtige Familienmitglieder dürften deshalb auch Zugriff auf Melderegister oder Ähnliches haben. Insoweit werden zwei heimlich von der Schwester des Klägers aufgenommene Bilder vom Asayish-Ausweis des Bruders vorgelegt.
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Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es dem Kläger bereits um sein wirtschaftliches Existenzminimum zu sichern, nicht möglich sei, sich dauerhaft versteckt zu halten. Über andere verwandtschaftliche Beziehungen oder andere Kontakte, die den Kläger unterstützen würden, verfüge er nicht. Folglich könne er in anderen Landesteilen nicht mit Aufnahme und Beherbergung durch Verwandte oder Bekannte rechnen, sondern müsse sich mit einer Arbeitsstelle eine eigene Wohnung finanzieren. Eine Niederlassung in Bagdad sei bereits deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger kein Arabisch spreche. Er werde dort als fremder keine Unterkunft und keine existenzsichernde Arbeit finden. Einer Ansiedlung in Bagdad steht zudem entgegen, dass der Kläger dafür zwei Bürgen aus der künftigen Wohngegend und einen Unterstützungsbrief des Ortsvorstehers benötigen würde (UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Iraq, Ability of Persons Originating from Formerly ISIS-Held or Conflict Affected Aresas to Legally Access an Remain in Proposed Areas of Internal Relocation, Januar 2021, S. 3).
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Hilfsweise sei dem Kläger aufgrund der drohenden Verfolgung durch die Familie zumindest jedoch der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG lägen vor. Nicht nur Frauen und Mädchen, sondern in geringerem Maße auch Männer und Jungen könnten im Irak getötet oder anderen Arten von Gewalt unterworfen werden, weil sie vermeintlich die kulturellen, gesellschaftlichen oder religiösen Normen verletzt und dadurch Schande über die Familie gebracht haben (EASO: COI Meeting Report: Iraq; Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Brussels, Juli 2017, S. 24). Hingewiesen werde diesbezüglich auch auf die Länderanalyse des vom Mai 2023 (vgl. Bundesamt, Länderanalyse, Kurzinformation – Irak, Mai 2023, „Ehrverbrechen“).
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Es sei auch nicht davon auszugehen, dass der irakische Staat dem Kläger im Fall einer Strafanzeige gegen die Familie effektiven Schutz bieten könne (§ 3c Nr. 3 AsylG). Ehrenverbrechen, die in allen Gebieten des Irak und über ethnische und religiöse Grenzen hinweg stattfinden würden, würden in der Regel nicht gemeldet und nicht strafrechtlich verfolgt werden, weil sie von der Polizei und den Justizbehörden als etwas betrachtet werden, das in die Verantwortung und in dem Ermessensspielraum der männlichen Familienmitglieder falle (vgl. VG Hannover, Urt. v. 14. September 2021 – 6 A 1371/17 –, juris; siehe auch vgl. BFA, Länderinformation: Irak, Stand: 22. August 2022, S. 193 f.).
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Mit weiterem Schriftsatz vom 25.03.2024 wurden zwei Bilder des Asayish Ausweises des Bruders des Klägers vorgelegt, welche heimlich von der Schwester des Klägers angefertigt worden seien.
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.06.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG festzustellen.
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Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung,
21
Mit Schriftsatz vom 23.04.2023 legte das Bundesamt ein Schreiben der schwedischen Polizei vom 15.06.2020 vor, ausweislich dessen der Kläger in Schweden aufgrund von Betäubungsmitteldelikten zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist.
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Mit Schriftsatz vom 09.04.2024 wird vom Bundesamt vorgetragen, dass den vorgelegten Schreiben kein neuer Sachvortrag zu entnehmen ist. Der Kläger habe einen Abfall vom Glauben nicht glaubhaft machen können. Die oberflächlichen und vagen Äußerungen des Klägers seien dafür nicht geeignet gewesen.
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Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss vom 04.01.2024 auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, einschließlich der beigezogenen Behördenakte und das Protokoll über die mündliche Verhandlung am 25.04.2024 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Die Beteiligten waren ordnungsgemäß geladen und im Ladungsschreiben darauf hingewiesen worden, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
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Die zulässige Klage ist begründet. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gem. § 77 Abs. 1 AsylG erweist sich der streitgegenständliche Bescheid in den Ziffern 1 (vgl. unter I.) sowie den Ziffern 3-6 (vgl. unter II.) als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, sodass er gem. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten ist, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
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Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3 c AsylG vom Staat bzw. von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder aber von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob im Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird zudem nicht zuerkannt, wenn im Herkunftsland eine interne Schutzmöglichkeit besteht, § 3 e AsylG.
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1. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzuwenden. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 20. Februar 2013, 10 C 23/12 – juris Rn. 32; B. v. 7. Februar 2008, 10 C 33/07 – juris Rn. 37). Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (Vorverfolgung) oder auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (Nachfluchtgründe), insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist (§ 28 Abs. 1 a AsylG). Der der Prognose zugrunde zu legende Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit bleibt auch dann unverändert, wenn der Ausländer bereits Vorverfolgung erlitten hat. Allerdings ist nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 – Qualifikationsrichtlinie (ABl. L 337 S. 9) die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Dies ist im Sinne einer widerlegbaren tatsächlichen Vermutung zu verstehen (vgl. BVerwG, U. v. 27. April 2010, 10 C 5/09 – juris Rn. 23).
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Das Gericht muss auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage von der Richtigkeit seiner gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle richterliche Überzeugung erlangt haben (vgl. BVerwG, U. v. 13. Februar 2014, 10 C 6/13 – juris Rn. 18). Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens gilt nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, die sich in Art. 4 Abs. 1, 2 und 5 Qualifikationsrichtlinie widerspiegeln, dass es den Ausländern obliegt, von sich aus umfassend die Gründe für das verfolgungsbedingte Verlassen der Heimat substantiiert, unter Angabe genauer Einzelheiten und in sich stimmig darzulegen. Der Vortrag, insbesondere zu den in die eigene Sphäre fallenden Ereignissen, muss geeignet sein, den Schutzanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, U. v. 24. März 1987, 9 C 321/85 – juris Rn. 9). Das Gericht muss sich in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem Ausländer behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschaffen, wobei allerdings der typische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Herkunftsland bei der Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise angemessen zu berücksichtigen ist. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit unvereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann, es sei denn, die Widersprüche und Unstimmigkeiten können überzeugend aufgelöst werden (vgl. BVerwG, U. v. 12. November 1985, 9 C 27/85 – juris Rn. 11 ff; B. v. 21. Juli 1989, 9 B 239/89 – juris Rn. 3).
29
Das Gericht ist nach Würdigung aller Umstände zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger ernsthaft vom Glauben abgefallen ist und nicht mehr dem Islam angehört, wodurch ihm im Falle seiner Rückkehr eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
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a) Auf der Grundlage der persönlichen Einvernahme des Klägers in der mündlichen Verhandlung konnte sich das Gericht davon überzeugen, dass sich der Kläger jedenfalls nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland aus innerer Überzeugung von dem islamischen Glauben gelöst hat und sich einer atheistischen Weltanschauung zugewandt hat.
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(1) Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Nach diesen Bestimmungen ist insbesondere auch das Recht des Einzelnen geschützt, sich aus religiöser Überzeugung für eine andere als die bisherige Religion oder auch gar keine Religion zu entscheiden und sich zu dieser Entscheidung zu bekennen. Voraussetzung des Schutzes der Ausübung keiner oder einer „neuen“ Religion ist allein, dass der Glaubenswechsel aufgrund innerer Überzeugung erfolgt ist. (vgl. OVG Saarland, U.v. 26.6.2007 – 1 A 222/07 –, InfAuslR 2008, 182 = juris, Rn. 56; allgemein zur Flüchtlingsanerkennung wegen der Gefahr religiöser Verfolgung vgl. BVerwG, U. v. 20.2. 2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 21 ff.; EuGH U. v. 5.9. 2012 – C-71/11 und C-99/11 –, NVwZ 2012, 1612; VG Aachen, U. v. 12.10 2016 – 4 K 993/14.A –, Rn. 58 – juris). Bei der Prüfung der inneren Tatsache, ob eine Person eine ausgeübte oder unterdrückte religiöse Betätigung für sich selbst als verpflichtend zur Wahrung ihrer Identität empfindet oder eben gerade nicht mehr, ist zudem das Regelbeweismaß der vollen Überzeugung des Gerichts anzulegen; eine hinreichend substantiierte Darlegung, die einer Plausibilitätsprüfung genügt, ist nicht ausreichend (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.08.2015 – 1 B 40/15; Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23/12, juris Rn. 30).
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(2) Gemessen hieran, hat sich der Kläger nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnen Überzeugung, zwischenzeitlich ernsthaft und mit innerer Überzeugung vom muslimischen Glauben gelöst und einer atheistischen Weltanschauung zugewandt. Der Kläger konnte nachvollziehbar und in sich stimmig erklären, wie er sich von der islamischen Religion gelöst hat. So gibt er an, dass er bereits in seinem Heimatland viele Sachen erlebt habe, beispielsweise, wie sie von Muslimen aus ihren Häusern geschmissen wurden und zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht wurden. Der Kläger habe in Schweden den Koran gelesen und da sei ihm bewusst geworden, dass derartige Handlungen nicht passieren dürften, wenn es einen Gott gebe. Er habe viele Textpassagen im Koran gefunden, bei welchem nicht einmal die Gelehrten wissen würden, wie man diese genau übersetze bzw. was mit diesen gemeint sei. Aber genau diese Textpassagen würden dazu eingesetzt werden, um andere Menschen zu manipulieren und zu ihren eigenen Zwecken einzusetzen. Viele Muslime würden zwischenzeitlich nicht mehr an den Koran glauben, sondern nur noch an die Hadith, die Lehren Mohammeds. Danach befragt, ob er an Gott glaube, gab der Kläger explizit an, dass er sich nicht vorstellen könne, dass Gott existiere. Man sage zwar immer, wenn etwas Gutes passiere, dass dies Gottes Wille sei, aber wenn etwas Schlimmes passiere, würde man dies anders begründen. Für ihn sei es nicht akzeptabel, dass man schlimme Dinge über den Glauben rechtfertige. Es gibt gute und böse Menschen, aber jeder trage für sich selbst die Verantwortung.
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Jedenfalls ist das Gericht aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnen Bildes der Persönlichkeit des Klägers davon überzeugt, dass dieser aufgrund seiner inneren Überzeugung und seinem kritischen Bild, welches er über die Religion im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen gewonnen hat, das Bedürfnis hat, andere Menschen über seine Erkenntnisse und die Ungereimtheiten im Koran aufzuklären und bei Diskussionen dafür einzutreten, dass die Religion nicht als Entschuldigung für das Tun von Menschen herangezogen werden darf. Dem Kläger ist es wichtig, seine atheistische Weltanschauung auch in der Öffentlichkeit zu kommunizieren, denn er ist der Auffassung, dass man nichts ändern könne, wenn man immer nur seinen Mund halte und irgendjemand müsse etwas ändern. Er sei beispielsweise der Auffassung, dass es nicht sein könne, dass die Kinder im Irak schon mit sieben Jahren den Koran lesen und beten müssten. Sie sollten doch erst einmal erwachsen werden und lernen, was richtig und was falsch sei. Insgesamt entstand aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung der Eindruck, dass es sich der Kläger zur Aufgabe gemacht habe, andere Moslems darüber aufzuklären, welche Ungereimtheiten es in der islamischen Religion gibt und wie die Menschen mit gezielten, unklaren Textpassagen manipuliert und in die Irre geführt werden. Der Kläger zeigte ein fundiertes Wissen über den Islam, seine Hintergründe und über die dem Islam zugrundliegenden Schriften. Er konnte insoweit darlegen, dass er sich über einen längeren Zeitraum mit seiner von Geburt an bestehenden Religion auseinandergesetzt hat und deswegen für sich festgestellt hat, dass dies für ihn weder nachvollziehbar noch bindend ist. Er beschreibt diese Klärung für sich selbst als befreiend. Er glaube an den Menschen, der für sich selbst die Verantwortung trage. Er sei nur Moslem gewesen, weil man dies im Irak von Geburt an sei. Aber er sei nun erwachsen und könne Bücher lesen und wenn ihm etwas nicht gefalle, dann glaube er das nicht.
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(3) Zusammenfassend lässt dies einen ehrlichen und auf einer inneren Überzeugung beruhenden Abfall vom islamischen Glauben glaubhaft erscheinen und erwarten, dass der Kläger bei einer angenommenen Rückkehr in den Irak seine neugewonnene atheistische Weltanschauung entsprechend leben und auch kommunizieren würde. Dies insbesondere auch deshalb, weil der Kläger glaubhaft in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, dass es für ihn ein zentrales Element darstellt, in Gesprächen klarzuzustellen, dass jeder seinen Glauben haben dürfe, aber die Religion keine Rechtfertigung für das Tun der Menschen sein könne.
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b) Es ist auch nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln im Falle der Rückkehr des Klägers in den Irak davon auszugehen, dass dem Kläger wegen der Abkehr vom Islam zwar keine asylrelevante Verfolgung von staatlicher Seite, sehr wohl mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aber schwere asylrelevante Rechtsverletzungen durch nichtstaatliche Akteure drohen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 28.03.2024 S. 169 ff).
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(1) Es ist nach Auffassung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei Rückkehr in den Irak einer Verfolgung aufgrund der Abkehr vom Islam ausgesetzt sein würde. Nach § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Verfolgungen i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG als solche, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Nach § 3 a Abs. 2 Nr. 1 AsylG gelten als Verfolgung auch die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt bzw. nach § 3 a Abs. 2 Nr. 2 AsylG auch die gesetzlichen, administrativen, polizeilichen oder justiziellen Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden.
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(2) Zwar erwähnt das irakische Strafgesetz keine Strafe für die Konversion vom Islam zu einem anderen Glauben. Es verbietet jedoch die Beleidigung von religiösen Ritualen, Symbolen oder heiligen Personen und Gegenständen. Laut Artikel 372 können Personen, die sich dessen schuldig machen, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe von bis zu 300 IQD bestraft werden. Die irakische Regierung weigerte sich außerdem, die Blasphemie- und Apostasiegesetze abzuschaffen (vgl. zu Vorstehemden: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 28.03.2024. S. 169). Auch Atheismus ist im Irak nicht illegal, wird aber im Irak nicht offiziell anerkannt. Wenngleich Atheismus im Irak per se nicht strafbar ist, wurden Atheisten wegen Blasphemie und anderer Anschuldigungen verfolgt. Atheisten wurden Berichten zufolge wegen „Schändung von Religionen“ und damit zusammenhängenden Anklagen verfolgt. Im März 2018 wurden in Dhi-Qar Haftbefehle gegen vier Iraker aufgrund von Atheismus-Vorwürfen erlassen. Ende 2018 wurde ein Buchhändler in der südirakischen Stadt Nasiriyah verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, Atheismus verbreiten zu wollen (vgl. BFA, Irak a.a.O., S. 170). Atheismus wird von konservativen Irakern abgelehnt. Personen, die sich öffentlich zu ihrem Atheismus bekennen, können mit Schikanen und Gewalt durch Familienmitglieder, religiöse Gruppen und Milizen konfrontiert werden. Atheisten sind auch in „Ehrenmorden“ von Familienmitgliedern getötet worden. Personen, die gegen die strenge Auslegungen der islamischen Regeln in Bezug auf Kleidung, soziales Verhalten und Berufe verstoßen, einschließlich Atheisten und säkular gesinnte Personen, Frauen und Angehörige religiöser Minderheitsgruppen, sind Berichten zufolge mit Entführungen, Schikanen und körperlichen Angriffen durch verschiedene extremistische bewaffnete Gruppen und Milizen konfrontiert. Milizen sollen Mittel haben, um die Personen hinter Social Media-Einträgen ausfindig zu machen. Angeblich werden Atheisten ins Visier genommen (vgl. BFA, Irak a.a.O., S. 171 f).
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In der Kurdistan Region Irak (KRI) wird Atheismus negativ gesehen, jedoch eher akzeptiert als Apostasie. Kritik an religiösen Führern ist weit verbreitet. Auch Kritik am Islam in den sozialen Medien, insbesondere auf Facebook, war bis vor Kurzem noch inakzeptabel, ist in der KRI aber jüngst zu einer Art Trend geworden. Obwohl die kurdische Regierung säkular ist, ist die Gesellschaft im Allgemeinen, insbesondere in Erbil, konservativ, und es wird allgemein erwartet, dass die Menschen die islamischen Normen respektieren. Ein öffentliches Bekenntnis als Atheist kann Probleme nach sich ziehen. Berichten zufolge hat es Fälle von körperlicher Bedrohung, Belästigungen und in einigen Fällen von Familienausschlüssen gegeben. Atheisten, die aufgrund ihres Glaubens belästigt werden, meiden es eher, sich an die Polizei zu wenden. In jüngster Zeit sind keine Vorfälle von Strafverfolgung von Atheisten in der KRI bekannt geworden (vgl. BFA, Irak a.a.O, S. 172). Mit Einführung eines neuen Personalausweises im Jahr 2015 wurde zwar der Eintrag zur Religionszugehörigkeit dauerhaft abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, lagebricht Irak, Stand 28.10.2022, S. 10). Allerdings sind Atheisten nach dem Gesetz verpflichtet, einer der anerkannten Religionen anzugehören, wenn sie einen neuen Personalausweis beantragen. Aus Angst vor Gewalt durch ihre Familien, Bürgerwehren und konservative/harte religiöse Gruppen halten Atheisten ihre Ansichten häufig geheim und halten sich nach außen hin an religiöse Normen und Traditionen. Einige beteiligen sich an Online-Aktivitäten, haben aber Angst vor Überwachung. Angesichts der gesellschaftlichen Vermischung von Atheismus mit Säkularismus, Kommunismus, Feminismus, Unsittlichkeit und Antiislamismus können Atheisten, auch wenn sie ihre Ansichten nicht offen äußern, ins Visier genommen werden (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regards to People Fleeing Iraq, Stand Januar 24, S. 141 f).
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(3) Diese Erkenntnisse zum Risiko von Apostaten, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch die Familie, Stammesangehörige oder sonstige Dritte zu werden, finden ihre Entsprechung im vorliegenden Fall. Insoweit gibt der Kläger glaubhaft und nachvollziehbar an, dass ihm seine Schwester mitgeteilt hat, dass seine Familie Erkenntnisse über sein konfessionsloses Leben hat und beabsichtigt, den Kläger zu töten. Nachvollziehbar stellt der Kläger dar, dass diese Entscheidung seiner Familie insbesondere auf dem großen Druck der Gesellschaft beruht. Selbst wenn seine Familie ihm vergeben sollte und sie sich wieder aussöhnen sollten, wird man seiner Familie die Ehrverletzung, welche durch den Kläger eingetreten ist, immer wieder vor Augen führen und die Tötung des Klägers verlangen. Letztlich werden diese Ausführungen auch durch die in der mündlichen Verhandlung eingeführte Tonaufnahme eines Gesprächs zwischen seinem Vater und seinen Brüdern bestätigt. Zwar ist es zutreffend, dass einer solchen Tonaufnahme nur ein äußerst geringer Beweiswert beigemessen werden kann, da nicht überprüft werden kann, wer tatsächlich gesprochen hat oder ob es sich um ein inszeniertes Gespräch handelt. Nichtsdestotrotz ist das Gericht in der Gesamtschau der Ausführungen, dem Benehmen des Klägers und dem übersetzten Gespräch seiner Familie zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von seiner Familie getötet werden würde.
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Ferner führt der Kläger glaubhaft aus, dass die tief verankerte, religiöse und traditionelle Lebens- und Denkweise der Gesellschaft letztlich dazu führen wird, dass man ihn als Verfluchten betrachten und töten wird. Selbst wenn es nicht durch seine Familie geschehen sollte, drohe ihm diese Gefahr durch die Gesellschaft bzw. seinem Stamm. Es ist auch davon auszugehen, dass unabhängig von der Tatsache, dass eine Geheimhaltung seiner atheistischen Weltanschauung dem Kläger nicht zuzumuten ist (vgl. EuGH, U.v. 07.11.2013 – C-199/12 – juris), sein Glaubensabfall bei einer Rückkehr in den Irak, selbst an einen anderen Ort, außerhalb seiner Familie bekannt werden würde, jedenfalls dann, wenn der Kläger seinem Bedürfnis, offen über seine Kritik am Islam zu sprechen, nachkommt.
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2. Die dem Kläger hiernach drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Nach Nummer 3 der Norm kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Wie den Erkenntnismitteln entnommen werden kann (bspw. BFA, Irak a.a.O, S. 172) meiden Atheisten, die aufgrund ihres Glaubens belästigt werden, es eher, sich an die Polizei zu wenden bzw. haben Angst, selbst strafrechtlich verfolgt zu werden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass dem Kläger kein staatlicher Schutz zur Verfügung steht.
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3. Das Gericht ist aus den vorgenannten Gründen und aufgrund der glaubhaften Aussagen des Klägers in der mündlichen Verhandlung auch zu der Überzeugung gelangt, dass diesem keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative im kurdischen Autonomiegebiet gemäß § 3e AsylG zur Verfügung steht. Wie oben ausgeführt, besteht die Gefahr für Apostaten im gesamten kurdischen Autonomiegebiet, ebenso wie im restlichen Irak, sodass dem Kläger auch eine Rückkehr an einen anderen Ort in der autonomen Region Kurdistan oder in den sonstigen Irak nicht zugemutet werden kann.
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Da die Klage im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zulässig und begründet ist, ist über die Hilfsanträge, also die Zuerkennung des subsidiären bzw. nationalen Schutzes (Ziffer 3 und 4 des streitgegenständlichen Bescheides) nicht zu entscheiden. Als Folge der Verpflichtung, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, waren auch die Ziffern 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben.
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Der Klage ist mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG; deshalb ist auch die Festsetzung eines Streitwerts nicht veranlasst. Die Entscheidung im Kostenpunkt war gemäß § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.