Inhalt

OLG Nürnberg, Beschluss v. 16.05.2024 – 11 UF 329/24
Titel:

Umgangsausschluss bei häuslicher Gewalt

Normenketten:
GG Art. 6 Abs. 2 S. 1
FamFG § 76 Abs. 1
BGB § 1684 Abs. 4 S. 1
Istanbul-Konvention Art. 31 Abs. 1
Leitsätze:
1. Ab welcher Dauer ein Umgang „für längere Zeit“ ausgeschlossen wird, hängt vom kindlichen Zeitempfinden ab. (Rn. 36)
2. Nach Art. 31 Abs. 1 der Istanbul Konvention sind bei miterlebter häuslicher Gewalt die beim Kind fortbestehenden Belastungen in der Vergangenheit sowie die Gefahren wegen andauernder Angst und Bedrohung zu berücksichtigen. (Rn. 43)
3. Der gewaltausübende Elternteil muss dem Kind die emotionale Sicherheit vermitteln, die es durch die miterlebte Gewalt verloren hat. Wenn er die Gewalt abstreitet, dem Kind gegenüber bagatellisiert, seine Belastung nicht sieht und aufgreifen kann, den anderen Elternteil in Gesprächen mit dem Kind herabwürdigt oder verbal attackiert oder erneute Gewalttaten zu befürchten sind, wird dies in der Regel ausgeschlossen sein. (Rn. 44)
Schlagworte:
Umgangsausschluss, Kindeswohl, häusliche Gewalt, Risikoeinschätzung, begleiteter Umgang, Verhältnismäßigkeit, emotionaler Schutz, Zeitempfinden, Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt
Fundstellen:
MDR 2024, 988
FamRZ 2024, 1369
BeckRS 2024, 14315
FuR 2024, 540
LSK 2024, 14315
NJW-RR 2024, 1005

Tenor

Der Antrag des Beschwerdeführers … vom 18.03.2024 auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung gegen den vom Amtsgericht X mit Beschluss vom 22.02.2024 vorgenommenen Ausschluss des Umgangs des Beschwerdeführers mit seinen Kindern A…[Name geändert], geb. am … 2016, und B…, geb. am … 2018, bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, § 76 Abs. 1 FamFG, § 114 ZPO.
I)
2
1. Die Beteiligten sind seit ....2016 miteinander verheiratet. Sie sind Eltern der Kinder A…, geb. am …2016, und B…, geb. am …2018. Der Vater war bei der Heirat und sodann bis März 2019 inhaftiert. Die Eltern leben seit Jahren in einer On/Off Beziehung und seit Juli 2019 immer wieder in verschiedenen Wohnungen. Seit 27.10.2023 bekunden beide ihren Willen, getrennt zu leben. Ein Scheidungsverfahren ist beim Amtsgericht X anhängig. Die Beziehung der Eltern ist von der Ausübung von Partnerschaftsgewalt durch den Vater geprägt.
3
1.1. Im Gewaltschutzverfahren (einstweilige Anordnung) 4 F 956/19 des Amtsgerichts X schilderte die Mutter am 15.11.2019, dass es seit der Haftentlassung im März 2019 zu mindestens 30 Gewaltvorfällen gekommen sei. Sie sei auch in Anwesenheit der Kinder mehrfach von ihrem Mann geschlagen worden. Am 13.11.2019 sei ihr Mann zu ihr gekommen. Er habe den großen Sohn, der freudig auf ihn zugelaufen kam, weg geschubst und gesagt, er solle sich verpissen. Dann habe er sie geschlagen, habe versucht, den Kühlschrank auszuräumen und die Kekse der Kinder mit der Bemerkung kaputt gemacht, diese brauchten nichts zum Fressen.
4
1.2. Im Gewaltschutzverfahren (einstweilige Anordnung) … des Amtsgerichts X gab die Mutter an, der Vater habe am 28.08.2021 gegen 01:00 Uhr nachts die Tür eingetreten und sie vor den Kindern gegen das Bett des ältesten Sohnes geschubst und herumgeschrien. Am 30.01.2021 habe er sie im alkoholisierten Zustand ebenfalls geschubst und grün und blau geschlagen. Auch im Juni/Juli 2021 sei sie vom Vater mehrfach mit der Hand geschlagen worden. Im Arztbericht vom 03.02.2021 sind eine Hämatomverfärbung rechts im Jochbeinbereich, ein Monokelhämatom links sowie flächige rötliche Prellmarken diagnostiziert.
5
1.3. Trotz Hilfen des Jugendamtes gelang es der Mutter nicht, sich dauerhaft vom Vater zu distanzieren. Es kam immer wieder zu Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter, auch in Anwesenheit der Kinder.
6
Am 01.12.2022 wurden die Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen, weil die Mutter mit den Kindern in die Wohnung ihres Mannes zurückkehrte, obwohl dieser sie vorher hinausgeworfen hatte. Das Jugendamt regte beim Amtsgericht X an, den Eltern Teile der elterlichen Sorge zu entziehen. Das Verfahren wurde in der einstweiligen Anordnung beim Amtsgericht X unter dem Aktenzeichen … und im Hauptsacheverfahren unter dem Aktenzeichen … geführt. Wegen der Einzelheiten der Vorgeschichte und des Hilfeverlaufs wird auf den Bericht des Jugendamtes vom 02.12.2022 Bezug genommen.
7
Im Verfahren … berichtete der Verfahrensbeistand, dass bei einem Hausbesuch aufgefallen sei, dass die Mutter auffällig am Auge geschminkt war, als ob sie ein blaues Auge überschminkt hätte.
8
Das Jugendamt berichtete im Verfahren …, dass die Sozialpädagogische Familienhilfe bei einem Hilfeplangespräch im März 2023 die Mutter auf zwei kreisrunde Hämatome am Dekolleté sowie ein überschminktes bläulich verfärbtes rechtes Auge angesprochen habe.
9
Mit Beschluss vom 13.12.2022 nahm das Amtsgericht im Eilverfahren … keine sorgerechtlichen Maßnahmen vor, nachdem der Vater sich verpflichtet hatte, die Wohnung nicht mehr zu betreten und mit den Kindern nur noch begleiteten Umgang wahrzunehmen. Die Kinder kehrten zur Mutter zurück.
10
1.4. Das Amtsgericht holte im Hauptsacheverfahren … ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K… ein. Dieser stellte fest, dass aus psychologischer Sicht eine kindeswohlgefährdende Situation fortbestehe. Die krisenhaften Zuspitzungen und Belastungen durch die wiederholte Partnerschaftsgewalt hätten bei den Kindern noch keine nachhaltigen Schädigungen hervorgerufen. Das Risiko für eine erneute Gewaltausübung des Vaters gegenüber der Mutter sei gemäß standardisierter Risikoeinschätzung nach O. als hoch einzuschätzen. Der Sachverständige erklärte weiter, dass der Vater die Auswirkungen der Partnerschaftsgewalt auf die Kinder nicht erkennen könne. Die Mutter erkenne sie nur zeitweise, sie habe die Tendenz zur Bagatellisierung. Der Vater bestreite meistens die Gewalt. Im Nachgang zur Inobhutnahme der Kinder und deren Rückführung unter Einleitung ambulanter Erziehungshilfe, begleiteter Vater-KindKontakte und eines Ausschlusses sonstiger Begegnungen zwischen Vater und Kindern sei eine wesentliche Beruhigung der Situation eingetreten. Ein positiver Entwicklungsverlauf von A… und B… sei erkennbar. Sorgerechtseingriffe mit der Folge einer Herausnahme der Kinder seien derzeit aus psychologischer Sicht nicht notwendig. Nötig sei aber die weitere Inanspruchnahme von ambulanter Familienhilfe durch die Mutter, begleitete Vater-Kind-Umgänge und ansonsten ausgesetzte Begegnungen zwischen Vater und Kindern. Unbegleitete Kontakte seien zu erwägen, wenn Herr W… erfolgreich ein Anti-Aggressions-Training durchlaufen hat oder aus anderen Gründen davon auszugehen ist, dass das Risiko weiterer Partnerschaftsgewalt deutlich gesunken sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten aus dem Verfahren … Bezug genommen.
11
Das Amtsgericht hatte im Verfahren … das Verfahren … beigezogen, das zur Regelung des Umgangs des Vaters mit einem weiteren, nichtehelichen Kind von ihm geführt wurde. In diesem Verfahren wurde ein Gutachten des Sachverständigen Dr. S… eingeholt. In diesem ist ausgeführt, dass der Vater Verhaltensweisen zeige, die an eine dissoziale Persönlichkeit erinnern. Er zeige Gewalt und Impulskontrollverlust. Gegenüber der Tochter zeige er sich unfähig zur Empathie.
12
Zur Erstellung des Gutachtens wurde ein forensisch – psychiatrisches Gutachten über den Vater vom 30.09.2015 beigezogen. In diesem ist festgestellt, dass beim Vater dissoziale Persönlichkeitszüge durch einen Mangel an Empathie und Gefühlen anderen gegenüber imponierten und eine geringe Frustrationstoleranz sowie eine Unfähigkeit zum Erleben von Schuldgefühlen und Lernen aus Erfahrung, insbesondere Bestrafung, bestehe. Es sei in der Vergangenheit zu Missachtung von Normen und Regeln und einer deutlichen Verantwortungslosigkeit gekommen. Es wurde auch ein Missbrauch von Alkohol im Übergang zur manifesten Abhängigkeit festgestellt.
13
Das Amtsgericht ermittelte, dass gegen den Vater in den letzten sechs Jahren 30 Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Y, …, anhängig waren. Zuletzt wurde er mit Urteil des Amtsgerichts X in Verbindung mit Urteil des Landgerichts Y, Az.: …, wegen vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbezug weiterer Freiheitsstrafen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Er wurde im November 2022 aus der Haft entlassen.
14
Im Rahmen der Kindesanhörung im Verfahren … des Amtsgerichts X sagte A… am 08.12.2022, dass der Vater ein böser Mensch sei, der die Mama schlagen würde.
15
Auch hätte sich die Mama mit einem Messer umbringen wollen. B… ist auf Fragen nicht eingegangen.
16
Bei der Kindesanhörung am 25.09.2023 im Verfahren … sagte A…, er wolle den Papa nur beim Kinderschutzbund sehen. Die Frage, wie er es finden würde, wenn der Vater zu ihnen in die Wohnung kommen würde, beantwortete A… nur zögerlich und erklärte: „Ich weiß nicht, ob das so gut wäre“, und auf Nachfrage nach dem Grund: „Weil Mama und Papa gestritten haben.“ B… wies mehrfach im Rahmen der Kindesanhörung darauf hin, dass er zur Anwesenheit des Vaters nichts sagen dürfe. Wörtlich gab er an: „Dazu darf ich nichts sagen, sonst wird’s wieder doof.“
17
Mit Beschluss vom 10.10.2023, der aufgrund mündlicher Verhandlung vom 06.10.2023 erging, stellte das Amtsgericht eine Gefährdung des Kindeswohls aufgrund der miterlebten Partnerschaftsgewalt fest, die von beiden Kindern als belastend und beängstigend wahrgenommen werde und bei beiden Kindern bereits zu Auffälligkeiten wie Ängsten, Einnässen, körperliche Gewalt, Stottern, Unkonzentriertheit und grenzlosem Verhalten geführt habe. Das Amtsgericht gab dem Vater gemäß § 1666 Abs. 1 und 3 BGB auf, an einem Anti-AggressionsTraining teilzunehmen, die Wohnung der Mutter nicht mehr zu betreten und kein Zusammentreffen mehr mit den Kindern herbeizuführen bzw. sich bei einem zufälligen Zusammentreffen unverzüglich zu entfernen. Des Weiteren wurde ein begleiteter Umgang im Umfang von einmal wöchentlichen für 2 Stunden geregelt. Wegen der Einzelheiten wird auf den ausführlich begründeten Beschluss vom 10.10.2023 aus dem Verfahren … Bezug genommen.
18
1.5. Die Mutter beantragte sodann erneut die Anordnung von Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz. Das Verfahren wurde beim Amtsgericht X unter dem Aktenzeichen … geführt.
19
Das Amtsgericht erließ einen bis 06.05.2024 befristeten Beschluss nach dem Gewaltschutzgesetz und leitete aufgrund Anregung des Jugendamtes vom 11.12.2023 unter dem Aktenzeichen … ein neues Sorge- und Umgangsverfahren ein.
20
Die Mutter erklärte im Gewaltschutzverfahren und gegenüber dem Jugendamt, dass der Vater am 27.10.2023 zu ihrer Wohnung gekommen sei und die Tür eingetreten habe. Er habe sie in Anwesenheit der Kinder zusammengeschlagen, auch noch, als sie schon auf dem Boden lag. Er habe ihr mit einer vollen Plastikflasche auf den Kopf geschlagen. Sie selbst und der Boden seien voller Blut gewesen. B… habe auf das Bein des Vaters geschlagen, um ihn abzuhalten. Beide Kinder seien auf den Balkon gerannt und hätten um Hilfe gerufen. Eine Nachbarin habe das gehört und die Polizei informiert. Die Kinder seien nach dem Vorfall zur Nachbarin gegangen.
21
A…, der nochmals zurückgelaufen sei, habe gesagt: „Mama, ich kann dich gar nicht so ansehen“.
22
Im ärztlichen Attest ist bei der Mutter eine Nasenbeinfraktur mit Fehlstellung, multiple Kontusionen und ein Schädel-Hirn Trauma I diagnostiziert.
23
Der Vater bestritt die Tat und behauptete, zur Tatzeit im Eisstadion gewesen zu sein, was Zeugen bestätigen könnten. Gegen ihn wurde ein Haftbefehl erlassen, der dann mit der Auflage, sich von den Zeugen entfernt zu halten, außer Vollzug gesetzt wurde. Außerdem wurde Anklage erhoben.
24
Das Jugendamt berichtete am 11.12.2023, dass der begleitete Umgang ausgesetzt wurde, weil die Mutter geschildert habe, die Kinder hätten Angst vor dem Vater und wollten ihn nicht sehen. Die Kinder hätte dies beim Hausbesuch am 07.11.2023 wiederholt. Die Kinder hätten in sich gekehrt gewirkt. A… sei bei einem lauten Geräusch aufgeschreckt.
25
Der Verfahrensbeistand berichtete, dass A… ihm gegenüber gesagt habe, er wolle den Vater nicht sehen. B… habe gesagt, den Vater nur beim Kinderschutzbund sehen zu wollen.
26
Bei der Kindesanhörung am 21.01.2024 sagte B…, er wolle den Papa nicht sehen. Mama sei mit dem Krankenwagen weggefahren. A… sagte ebenfalls, er wolle den Vater nicht sehen. Papa habe die Tür eingetreten. Er könne nichts erzählen, weil es so schlimm sei. Mama habe ganz schlimm geblutet. Ihm gehe es nicht gut, wenn er daran denke.
27
Mit Beschluss des Amtsgerichts X vom 22.02.2024, Az.: …, wurde der Mutter angesichts der Vorgeschichte und des neuerlichen Vorfalls vom 27.10.2023 in Abänderung der Entscheidung vom 10.10.2023 aus dem Verfahren … die alleinige elterliche Sorge für die Kinder A…, geb. am …2016, und B…, geb. am …2018, übertragen und jeder persönliche Umgang des Vaters mit den beiden Kindern ausgeschlossen. Ihm wurde nur gestattet, den Kindern zum Geburtstag und zu Ostern Geschenke mit einem Begleitbrief zukommen zu lassen. Das Amtsgericht berücksichtigte bei der Entscheidung u.a., dass die Kinder den Vater nicht sehen wollten und bei den Anhörungen merklich belastet wirkten. Die Anordnung von Umgang gegen den Willen der Kinder rufe angesichts der miterlebten Gewalt seelische Störungen bei den Kindern hervor. Ein zwangsweiser Umgang mit dem Peiniger der Mutter sei eine Kindeswohlgefährdung. Die Kinder müssten sich stabilisieren, dafür brauchten sie mindestens noch sechs Monate.
28
Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 22.02.2024 Bezug genommen.
29
2. Der Vater wendet sich mit seiner am 18.03.2024 zulässig eingelegten Beschwerde gegen den Umgangsausschluss. Er verfolgt mit der Beschwerde das Ziel, mindestens begleiteten Umgang mit seinen Söhnen zu erlangen. Er ist dabei der Auffassung, dass er den Kindern ja nie Gewalt „oder sonstige Verhaltensweisen“ angetan habe. Mit der Übertragung der elterlichen Sorge auf die Mutter seien die Kinder ausreichend geschützt.
30
Die Mutter verweist im Beschwerdeverfahren darauf, dass sie und die Kinder mindestens vier weitere Monate brauchen, um sich halbwegs von den Strapazen zu erholen. Die Kinder hätten geweint, als sie gehört haben, dass sie erneut vom Gericht angehört werden müssen. Sie hätten gesagt, dass sie wollen, dass alles endlich aufhört.
31
Der Vater wurde mittlerweile wegen der Tat vom Amtsgericht X zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt. Der Vater legte gegen das Urteil Berufung ein.
II)
32
Der vom Amtsgericht für die Dauer von sechs Monaten vorgenommene Umgangsausschluss ist auf der Basis des § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB zum Schutz der Kinder gerechtfertigt.
33
Die auf Erlangung eines begleiteten Umgangs gerichtete Beschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.
34
1. Die Entscheidung des Gerichts über die Gestaltung des Umgangs hat sich gemäß §§ 1684, 1697 a BGB am Wohl des Kindes zu orientieren. Neben dem Wohl des Kindes ist auch das Recht des nichtbetreuenden Elternteils auf Umgang mit seinem Kind nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, aber auch das Persönlichkeitsrecht des Kindes nach Art. 2 GG zu berücksichtigen. Bei der Abwägung ist der Wille des Kindes zu beachten, sofern das Kind über die für eine eigenverantwortliche Entscheidung notwendige Einsichtsfähigkeit verfügt und so weit sein Wille mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Dabei kommt dem Kindeswillen mit zunehmendem Alter und gesteigerter Einsichtsfähigkeit vermehrte Bedeutung zu (vergl. BVerfG, FamRZ 2008, 1737).
35
Nach § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB kann das Amtsgericht das Umgangsrecht einschränken oder ausschließen, soweit dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Eine Einschränkung oder ein Ausschluss des Umgangsrechts für längere Zeit oder auf Dauer ist nach § 1684 Abs. 4 S. 2 BGB nur möglich, wenn das Kindeswohl gefährdet ist.
36
Wann eine Maßnahme „für längere Zeit“ oder „auf Dauer“ ist, hängt in erster Linie vom kindlichen Zeitempfinden ab, ist aber in der Regel ab einer Dauer von sechs Monaten anzunehmen, bei sehr kleinen Kindern ab einer Dauer von drei Monaten (Götz, in: Grüneberg, BGB, 84. Aufl., § 1684 Rn. 34; Rake, in: Johannsen/Henrich/Althammer, Familienrecht, 7. Aufl., § 1684 BGB Rn. 54). Angesichts des Alters der beiden Kinder, sechs und sieben Jahre, ist hier davon auszugehen, dass ein Umgangsausschluss für eine Dauer von sechs Monaten noch keine Regelung von „längerer Zeit“ ist.
37
2. Der vom Amtsgericht vorgenommene Umgangsausschluss ist jedenfalls zum Wohl der Kinder geboten, § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB. Er würde aber auch den Anforderungen des § 1684 Abs. 4 S. 2 BGB genügen, weil er geeignet ist, eine weitere Gefährdung der Kinder abzuwenden.
38
Es gibt angesichts des vom Amtsgericht sorgfältig auf der Basis des Jugendamtsberichts, des Berichts des Verfahrensbeistands und der eigenen Kindesanhörungen herausgearbeiteten Willens der Kinder keinen Zweifel daran, dass die Kinder momentan noch von der Angst geprägt sind, die sie angesichts des Vorfalls vom 27.10.2023 erleben mussten, und das Wiedersehen mit dem Vater ablehnen.
39
Auch wenn B. einmalig gegenüber der Verfahrensbeiständin geäußert hat, den Vater beim Kinderschutzbund wieder sehen zu wollen, hat er dies später nicht mehr wiederholt. Vielmehr hat er seine Weigerung, den Vater wiedersehen zu wollen, bei der amtsgerichtlichen Anhörung damit begründet, dass die Mama mit dem Krankenwagen weggefahren sei. Dies spricht dafür, dass er die Trennung von der Mutter, die durch die Gewalt des Vaters bedingt war, als belastend wahrgenommen hat.
40
Auch wenn der Beschwerdeführer bestreitet, die Mutter am 27.10.2023 vor den Augen der Kinder massiv niedergeschlagen zu haben, ist bei der hier gebotenen summarischer Prüfung vor dem Hintergrund der polizeilichen Ermittlungen und der Angaben der Mutter sowie der Kinder davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer (erneut) gegenüber der Mutter gewalttätig geworden ist. Mittlerweile wurde er wegen dieser Tat zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt.
41
Die von den Kindern miterlebte Gewalt gegen den anderen Elternteil wirkt sich in Form der psychischen Gewalt direkt auch auf die Kinder aus (so auch OLG Köln FamRZ 2011, 571; OLG Frankfurt FamRZ 2022, 1939 juris Rn. 16; Dürbeck, in: Staudinger, BGB, Bearb. 2023, § 1684 Rn. 319; Becker/Büchse ZKJ 2011, 292 – 295). Kinder sind abhängig von demjenigen, der sie betreut und versorgt und identifizieren sich mit ihm. Deswegen erleben sie Gewalt gegen den betreuenden Elternteil auch als Bedrohung gegen sich selbst, ihr eigenes Stresssystem reagiert intensiv (Brisch, in: Brühler Schriften zum Familienrecht, Bd. 15, S. 89, 107). Wie der Beschwerdeführer auf dieser Basis behaupten lassen kann, er habe den Kindern weder Gewalt noch „sonstige Verhaltensweisen“ angetan, ist nicht nachvollziehbar. Es liegt auf der Hand, dass die Kinder erhebliche Ängste und Ohnmachtsgefühle erleben mussten, die sie auf den Balkon laufen und um Hilfe schreien haben lassen. B… musste die eigene Hilflosigkeit besonders erfahren, als er auf das Bein des Vaters schlug, damit der Vater von der Mutter ablässt, was diesen aber nicht beeindruckt hat. Beide Kinder haben ihre Mutter voller Blut gesehen. Noch bei der Anhörung der Kinder beim Amtsgericht knappe Monate später wirkten sie belastet und konnten über das Geschehen nicht frei sprechen. Hinzu kommt, dass dies nicht das erste Mal war, dass sie die Gewalt des Vaters gegen die Mutter miterleben mussten. Der Sachverständige Prof. K… hat schon in seinem im Verfahren … vom Amtsgericht eingeholten Gutachten festgestellt, dass für die Kinder eine kindeswohlgefährdende Situation aus krisenhaften Zuspitzungen und Belastungen besteht, die nur noch nicht zu nachhaltigen Schädigungen geführt haben. Es wurden aber bereits Auffälligkeiten bei den Kindern festgestellt wie Ängste, Einnässen, körperliche Gewalt, Stottern, Unkonzentriertheit und grenzloses Verhalten. Das war vor dem Vorfall vom 27.10.2023, der die Situation für die Kinder nochmals verschärft hat.
42
Aus der Bindungsforschung ist bekannt, dass der Besuchskontakt und Umgang mit leiblichen Eltern nach traumatischen Erfahrungen mit Täter – Eltern beim Kind erneute Angst erzeugt und es zu einer Re-Traumatisierung kommen kann. Kinder werden dann erneut mit den Affekten von Angst und Ohnmacht überschwemmt, mit denen sie in der Regel nicht umgehen können. Dabei kann der begleitete Umgang an sich keine emotionale Sicherheit bieten, weil die Umgangsbegleitung die emotionale Verunsicherung des Kindes durch den erneuten Kontakt mit dem Täter nicht ausgleichen kann (Brisch, in: Brühler Schriften zum Familienrecht, Bd. 15, S. 89, 109).
43
Bei der Entscheidung über den Umgang müssen daher auch unter Berücksichtigung von Art. 31 Abs. 1 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11.5.2011 (BGBl. 2017 II 1026), Istanbul Konvention, die fortbestehenden Belastungen durch die erlebte Gewalt in der Vergangenheit sowie die Gefahren wegen andauernder Angst und Bedrohung berücksichtigt werden (Meysen/Lohse, in: Meysen, Kindschaftssachen und häusliche Gewalt, Kapitel 1, S. 19, 25).
44
Der gewaltausübende Elternteil muss dem Kind die emotionale Sicherheit vermitteln, die sie durch die miterlebte Gewalt verloren haben. Dies kann er insbesondere dann nicht, wenn er die Gewalt abstreitet, den Kindern gegenüber bagatellisiert, ihre Belastung nicht sehen und aufgreifen kann, den anderen Elternteil in Gesprächen mit den Kindern herabwürdigt oder verbal attackiert oder erneute Gewalttaten zu befürchten sind.
45
Der Senat schließt sich daher den in der Forschung zu den Auswirkungen häuslicher Gewalt entwickelten Kriterien an. Danach kann ein Umgang bei von den Kindern miterlebter schwerer häuslicher Gewalt in der Regel frühestens dann wieder in Betracht kommen, wenn die Kinder bereit sind, den Täter wieder zu sehen und verlässlich folgende Fragen geklärt sind:
46
Hat der nachweislich gewalttätige Elternteil sich nicht nur zu seinen Taten bekannt, sondern auch in tragfähiger Weise Verantwortung dafür übernommen? Hat der gewalttätige Elternteil Wege erarbeitet, wie er dem Kind sein Bedauern über die ihnen zugefügte Belastung zum Ausdruck bringen und sich adäquat im Umgang mit ihnen verhalten kann? Solange diese Fragen nicht geklärt sind, ist der Umgang in der Regel zumindest vorläufig auszuschließen (Meysen/Lohse a.a.O. Kapitel 4 S. 105, 114 und Kapitel 1 S. 25; Brisch, a.a.O., S. 89, 110; hierzu auch Burschik/Schreiner-Hirsch ZKJ 2024, 123, 127) . Auch begleiteter Umgang vermag Kinder andernfalls nicht vor der psychischen Belastung zu schützen (Dürbeck, in: Staudinger, BGB, Bearb. 2023, § 1684 Rn. 320).
47
3. Gemessen an diesen Kriterien liegt keine der Voraussetzungen vor, die auch nur einen begleiteten Umgang rechtfertigen können.
48
Die Kinder sind momentan nicht zum Umgang bereit.
49
Der Beschwerdeführer übernimmt keine Verantwortung für die Tat, vielmehr bestreitet er sie und lässt nicht im Ansatz erkennen, dass er Verständnis für die Situation der Kinder hat, obwohl ihm schon im Beschluss des Amtsgerichts vom 10.10.2023 im Verfahren … sehr deutlich die Auswirkungen auch miterlebter Gewalt auf Kinder dargestellt wurden.
50
Hinzu kommt im vorliegenden Verfahren, dass die Gefahr der Wiederholung erneuter Gewalttaten gegen die Mutter besteht. Dies setzt die Kinder für den Fall, dass Umgang gewährt wird, der Situation aus, dass sie den Vater einerseits als Spielpartner erleben, andererseits ihm aber wieder als Täter begegnen müssen. Es besteht daher die Gefahr erneuter emotionaler Verunsicherung und Schädigung der psychischen Gesundheit der Kinder.
51
Bei erneuter Gewaltanwendung gegen die Mutter besteht zudem die Gefahr, dass die Kinder die Mutter, von der sie in der Versorgung abhängig sind, zumindest (hoffentlich nur) kurzfristig durch erneute Krankenhausaufenthalte verlieren könnten. Auch vor diesen Gefahren kann der begleitete Umgang nicht schützen, da sich jedenfalls im Rahmen der Organisation des begleiteten Umgangs, z.B. bei den Übergaben, Kontaktmöglichkeiten nicht vermeiden lassen. Nur mit der Umgangsaussetzung sind die Kinder am sichersten vor erneuten Angriffen des Vaters auf die sie betreuende Mutter geschützt.
52
Der Senat schließt sich im vorliegenden Fall der schon vom Sachverständigen Prof. K… im Verfahren … vorgenommenen Risikoeinschätzung an. Prof. K… hat das Risiko an Hand des Risikoeinschätzungsinstrumentariums O. vorgenommen und kam zu einer hohen Wiederholungswahrscheinlichkeit. Diese Einschätzung ist nachvollziehbar. Schon das im Verfahren … eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. S… hat beim Vater dissoziale Verhaltensweisen und Empathieunfähigkeit beschrieben. Er war mehrfach, auch außerhalb der Beziehung, gewalttätig und wurde mehrfach wegen Gewaltdelikten verurteilt. Es wird immer wieder von erheblicher Alkoholisierung des Vaters berichtet.
53
Die Tatsache, dass die Eheleute jetzt getrennt leben, mindert das Risiko nicht, erhöht es vielmehr. Insofern haben Forschungen ergeben, dass das Risiko weiter Gewalt zu erleben oder sogar getötet zu werden, nach dem Ende der Beziehung andauert bzw. sogar höher ist als zuvor (Nothafft/Erhard/Pouwels, in: Safty first!, Ergebnisse der Begleitforschung zur Praxisimplementationsphase des Münchner Fragebogens zur Dokumentation und zur Gefährlichkeitseinschätzung in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren bei „Häuslicher Gewalt“, 2022, S.14 – 18). Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass der Vater durch die erneute Gewalttätigkeit am 27.10.2023 gezeigt hat, dass er aus dem Verfahren … des Amtsgerichts X nichts gelernt hat. Ein Anti-Aggressions-Training hat er offensichtlich noch nicht begonnen, wobei fraglich ist, ob diese niederschwellige Maßnahme überhaupt ausreichend wäre. Insofern weist der Senat darauf hin, dass bei den Fachstellen für Täterarbeit, z.B. in Y, wesentlich intensivere Interventionsprogramme angeboten werden.
54
Die Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter kann die Gefahr, die für die emotionale Sicherheit der Kinder durch einen auch nur begleiteten Umgang drohen, nicht abgewendet werden.
55
4. Der Ausschluss jeglichen persönlichen Umgangs mit den Kindern bis 22.08.2024 entspricht angesichts der noch vorhandenen Belastungen der Kinder der Verhältnismäßigkeit, zumal das Amtsgericht dem Vater gestattet hat, den Kindern zu Osten und zum Geburtstag Geschenke mit einem Begleitbrief zukommen zu lassen. Insofern hat auch das Bundesverfassungsgericht schon entschieden, dass das Umgangsrecht des Vaters insbesondere dann zurücktreten muss, wenn das Wohl der in der Obhut der Mutter aufwachsenden Kinder bedroht ist, da das Wohl der Kinder unmittelbar von der körperlichen Unversehrtheit der Mutter abhängig ist (BVerfG FamRZ 2013, 433 Rn. 24; Dürbeck, in: Staudinger, BGB, 2023, § 1684 Rn. 319). Aber auch ohne diesen Aspekt muss das Umgangsrecht des Vaters angesichts der den Kindern drohenden emotionalen Gefahren bei einem erneuten Kontakt mit dem Vater hinter dem Schutz der Kinder zurückstehen (vgl. auch OLG Köln FamRZ 2011, 571). Es kann angenommen werden, dass die Kinder mindestens eine Dauer bis 22.08.2024 brauchen, um sich von den Ereignissen des 27.10.2023 zu erholen.
56
Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe ist daher abzulehnen.
57
Der Senat regt an, dass der Beschwerdeführer seine Beschwerde überdenkt, weil andernfalls gemäß § 68 Abs. 5 FamFG (hierzu zutreffend Stn. OLG Stuttgart FamRZ 2023, 1352; Schweppe FamRZ 2024, 333, 334, 338) auch eine erneute Anhörung der Kinder erforderlich sein wird.