Inhalt

AG Nürnberg, Endbeschluss v. 28.02.2024 – 110 F 4429/23
Titel:

Keine Entscheidung im einstweiligen Anordnungsverfahren bei induziertem Kindeswillen

Normenketten:
FamFG § 81 Abs. 1 S. 1
FamGKG § 41, § 45 Abs. 1 Nr. 1
Leitsatz:
Zwar wäre der Entzug der elterlichen Sorge auch in Teilbereichen und sodann Installation eines Erziehungsbeistands möglich und im Ergebnis erforderlich, um die akute Kindeswohlgefährdung zu beseitigen. Allerdings ist die Maßnahme aus Sicht des Gerichts im einstweiligen Anordnungsverfahren ungeeignet, wenn das Kind jegliche Kooperation ablehnt, da es – wie hier – durch das wahnhaft anmutende Verhalten der Mutter zu keiner autonomen Willensbildung in der Lage ist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Umgangsrecht, Kindeswohlgefährdung, Erziehungsfähigkeit, Therapie, akute Maßnahmen, Verhältnismäßigkeit, Kindeswille, Kostenentscheidung
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Beschluss vom 11.04.2024 – 7 WF 231/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 14297

Tenor

1. Einstweilige gerichtliche Maßnahmen sind derzeit nicht veranlasst.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Mutter W. O..
3. Der Verfahrenswert wird auf 2.000,00 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Beteiligten sind die Eltern der 14-jährigen Jennifer H., geboren ... 2010. Seit dem 08.11.2011, also seitdem Jennifer anderthalb Jahre alt ist, streiten die Eltern über den Umgang des Vaters mit Jennifer. Eine Zeit ohne gerichtliches Verfahren – Antragsverfahren aber auch Amtsverfahren – kennt Jennifer daher nicht. Hinsichtlich der langen Vorgeschichte wird auf die vorhergehenden Verfahren Bezug genommen, wobei Ausgangspunkt des Streits die unerschütterliche, kompromisslose und unwiderlegbare Überzeugung der Mutter ist, der Vater hätte Jennifer als kleines Kind sexuell missbraucht, ohne dass hierfür tatsächliche Anhaltspunkte vorhanden gewesen wären. Dementsprechend wurde das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Vater eingestellt. Ein Umgangsausschluss wurde jedenfalls aufgrund der geäußerten Vorwürfe zum damaligen Zeitpunkt nicht angeordnet.
2
Zuletzt wurde im Verfahren 110 F 774/19 ein Sachverständigengutachten vom 27.02.2023 des dortigen Sachverständigen Dr. E. zum Umgang des Vaters erstellt, in welchem der Umgang eigentlich als förderlich für Jennifer angesehen wurde. In den dortigen Anhörungsterminen gab die Mutter jedoch bekannt, dass die damals 13-jährige Jennifer über den Missbrauch des Vaters „Bescheid wisse“. Sie habe es ihr mitgeteilt, bzw. Jennifer habe es aus einem Schreiben des Sachverständigen erfahren, wobei allerdings lediglich das Sachverständigengutachten selbst den Tatvorwurf der Mutter erwähnte. In Anbetracht dieser Umstände verzichtete der Vater auf den eigentlich förderlichen Umgang mit Jennifer.
3
Aufgrund des belasteten Eindrucks Jennifers in der Kindesanhörung zuvor hat das Gericht insbesondere auch nach der vorgenannten Mitteilung der Mutter ein Verfahren nach § 1666 BGB eingeleitet, um zu überprüfen, ob die Mutter derzeit eingeschränkt in ihrer Erziehungsfähigkeit sein könnte und dies weitere gerichtliche Maßnahmen erforderlich machen könnte (Az: 110 F 669/22). Hierzu haben die Beteiligten noch in der mündlichen Anhörung im Verfahren 110 F 774/19 am 29.09.2023 eine umfassende Vereinbarung geschlossen, in welchem sich die Eltern unter anderem dazu bereit erklärten, die erforderlichen Dokumente beim Jugendamt zur Installation einer ambulanten Hilfe, voraussichtlich eines Erziehungsbeistandes, zu unterzeichnen. Ziel der Maßnahme sollte unter anderem die niederschwellige Kontaktaufnahme einer außenstehenden dritten Person zu Jennifer sein, um zügig abzuklären, ob derzeit Hilfebedarf besteht. Dies insbesondere auch, um die durch die Mutter mutmaßlich an Jennifer herangetragene Information des behaupteten sexuellen Missbrauchs durch den Vater einzuordnen und Jennifer ggf. aufzufangen.
4
Im Nachgang zum Verfahren unterschrieb die Mutter die Formulare des Jugendamts jedoch nicht. Vielmehr teilte sie am 26.10.2023 mit, sie könne keine Unterschrift leisten, da Jennifer keine ambulante Hilfe wolle. Das Jugendamt schickte diese Information zum Verfahren 110 F 774/19. Zeitgleich ging die Akte an die im Verfahren 110 F 669/22 bestellte neue Sachverständige, so dass dem Gericht die Verweigerung der Mutter erst am 05.12.2023 zur Kenntnis gelangte. Nach erneuter Aufforderung und erfolgloser Fristsetzung an die Mutter, hat das Gericht im hiesigen, neu eingeleiteten Verfahren sowohl Jennifer als auch die Beteiligten angehört, um zu prüfen, ob der Teilbereich der elterlichen Sorge zur Beantragung von Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern ggf. entzogen und der Antrag auf ambulante Hilfen durch einen Ergänzungspfleger gestellt werden müsste.
II.
5
Gerichtliche Maßnahmen sind derzeit nicht erforderlich.
a) akute Kindeswohlgefährdung
6
Jennifer hat sich in der Kindesanhörung deutlich gegen die Installation eines Erziehungsbeistands ausgesprochen. Das Gericht ist zwar grundsätzlich nicht der Ansicht, dass dies in der Entscheidungsbefugnis einer 14-jährigen zu liegen hat. Und sofern sich die Mutter tatsächlich allein aufgrund der durch Jennifer geäußerten Ablehnung der Maßnahme weigern würde, die Unterschrift zu leisten, würde dies durchaus für eine deutliche Einschränkung der Erziehungsfähigkeit sprechen und auch gerichtliche Maßnahmen erforderlich machen. Denn ein solches Erziehungsdefizit könnte ausgeglichen und bei Jennifer Bereitschaft zur Zusammenarbeit geweckt werden.
7
Näher liegt aufgrund der langen Vorgeschichte und des inzwischen beinah wahnhaft anmutenden Verhaltens der Mutter jedoch, dass diese für Jennifers ablehnende Haltung selbst verantwortlich ist und insoweit nicht aufgrund der Ablehnung handelt, sondern diese – bewusst oder unbewusst – bei Jennifer selbst hervorruft. Dies kann weder ausgeglichen noch überwunden werden, so dass bei einer Installation gegen den Willen der Mutter keine Zusammenarbeit mit Jennifer hervorgerufen werden könnte. Das Gericht ist der Auffassung, dass Jennifer sich derzeit nach Außen hin an den Wünschen der Mutter orientiert und kaum bis keine Möglichkeit hat, sich hiervon zu lösen.
8
Es ist dem Gericht bereits in der Anhörung zum Verfahren 110 F 774/19 und auch im hiesigen Verfahren aufgefallen, dass die Mutter Jennifer selbst immer wieder in das Verfahren „hineinzieht“. In der Anhörung vom 110 F 774/19 hatte die Mutter einen handschriftlich von Jennifer geschriebenen Brief an das Gericht dabei. Im hiesigen Verfahren hatte sie eine handschriftlich durch Jennifer gefertigte Liste mit angeblichen Freunden dabei. (Freunde haben in der Kindesanhörung mit keinem Wort Erwähnung gefunden. Lediglich Klassenkameraden, mit denen sie sich ab und zu etwas zu essen holt.) Das Gericht hat daher großes Verständnis, wenn die Mutter beschreibt, dass sich Jennifer kontrolliert fühle und durch die Gerichtsverfahren belastet sei. Denn offenbar macht es die Mutter zu Jennifers Aufgabe, sich in den Verfahren entsprechend zu positionieren, um den Wünschen und Bedürfnissen der Mutter zu entsprechen. Im Umgangsverfahren musste Jennifer den Wunsch der Mutter schriftlich bestätigen, keinen Umgang zu wollen. Im Kindeswohlgefährdungsverfahren musste Jennifer schriftlich „beweisen“, dass es ihr im mütterlichen Haushalt gut geht. Das Gericht glaubt nicht im Mindesten, dass der Brief oder die Liste aus Jennifers eigenem inneren Antrieb heraus geschrieben, sondern auf Betreiben der Mutter erstellt wurden. Eine eigene Position unabhängig von der mütterlichen Sicht wird Jennifer im gerichtlichen Verfahren aber auf diese Art und Weise gerade verwehrt. Vielmehr behält die Mutter so die Kontrolle über Jennifers Äußerungen und ihre nach Außen gerichtete Meinung.
9
Das Gericht hat durchaus Verständnis für das Bestreben der Mutter, den Umgang zum Vater (aufgrund des von ihr so wahrgenommenen sexuellen Missbrauchs) zu verhindern und im gerichtlichen Verfahren als erziehungskompetente Mutter dazustehen. Ein gewisses Maß an versuchter Einflussnahme auf das betreffende Kind ist daher nachvollziehbar. Eine Grenze ist jedoch erreicht, wenn Bedürfnisse und Wünsche des Kindes nur noch eine ganz untergeordnete Rolle spielen und das Kind den Eigeninteressen der Eltern zu entsprechen hat, ohne dass der entwicklungspsychologisch notwendigen Abgrenzung des Kindes von den Eltern ausreichend Raum gegeben wird. Ein solches Verhalten hat regelmäßig nachhaltig schädliche Auswirkungen auf das Kindeswohl.
10
Das Gericht hat in der Kindesanhörung zum Verfahren 110 F 774/19 am 28.07.2023 nicht den Eindruck gehabt, dass Jennifer bisher ausreichend Raum gewährt wurde, um eigene Meinungen und Positionen unabhängig von ihrer Mutter zu entwickeln, und zwar weder im Hinblick auf den Umgang mit dem Vater noch im übrigen. Das Gericht sieht hierbei durchaus die Schwierigkeit, innerhalb verhältnismäßig kurzer Gespräche ohne jede Vertrauensbasis einen umfassenden Eindruck vom Seelenzustand eines Teenagers zu gewinnen. Die Tatsache aber, dass soziale Kontakte und Unternehmungen mit Freunden in Jennifers Leben bisher gar keine Rolle gespielt hatten und lediglich über online-Kontakte vorgekommen waren, die Schwierigkeiten in der Schule (Fehlzeiten, nur „Feinde“ in der Schule, Noten) und natürlich nicht zuletzt der obsessive Umgang der Mutter mit ihrem Verdacht auf den sexuellen Missbrauch in Jennifers frühester Kindheit sind für das Gericht ausreichende Anhaltspunkte gewesen, dass Jennifer in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sein könnte.
11
In ihrer Anhörung am 29.01.2024 hat Jennifer zwar einen stabileren, aber weithin gleichgültigen und ablehnenden Eindruck gemacht. Sie hat sich ersichtlich kaum Mühe gegeben, ihre ablehnende Haltung zu ambulanten Hilfen des Jugendamts zu erklären. Zu sämtlichen im Altverfahren angesprochenen Problemkreisen konnte sie oberflächliche Verbesserungen vortragen: Die Klassenkameraden als Freunde, angeblich gute Noten in der Schule oder die „Therapie“, die sie beim Schulsozialarbeiter macht. Tatsächlich verbringt sie immerhin die Schulpausen mit Klassenkameraden. Freizeitunternehmungen mit Freunden finden aber weiterhin praktisch nicht statt. Eine Therapie findet weder beim Schulsozialarbeiter noch sonst statt und derzeit ist fraglich, ob Jennifer überhaupt einen Schulabschluss schafft.
12
Auf ihre Klassenlehrerin macht Jennifer einen depressiven, ängstlichen und antriebslosen Eindruck. Jennifers Noten seien derzeit unterdurchschnittlich, und würden ihrem Potenzial nicht gerecht. Sie beteilige sich mündlich kaum im Unterricht, schreibe der Lehrerin aber über WhatsApp um so mehr. Jennifer habe in ihrem Schwerpunktbereich hohe Fehlzeiten, welche durch die Mutter entschuldigt werden. Auch das Berufspraktikum habe sie nach 2 Tagen mit Einverständnis der Mutter abgebrochen. Schulisch zeigen sich insgesamt weiterhin große Schwierigkeiten, nicht nur im Leistungs– sondern auch im sozialen Bereich, welche die Mutter nicht hinreichend auffangen kann.
13
Eine mögliche therapeutische oder pädagogische Unterstützung für Jennifer wäre daher sinnvoll, wird durch die Mutter aber abgelehnt. Sie befürwortet dagegen eine Therapie bei Dr. B.. Bereits im Verfahren 110 F 774/19 gab die Mutter zu, sie benötige die Therapeutin zur Analyse von alten Kinderzeichnungen Jennifers, aus denen sich nach Ansicht der Mutter der sexuelle Missbrauch ergibt. Dies sei notwendig, um dem Vater den Missbrauch nachzuweisen und endlich seiner gerechten Strafe zuzuführen. Obwohl der Mutter durch den dortigen Sachverständigen deutlich mitgeteilt wurde, dass ein solches Vorgehen kindeswohlschädlich sei, da eine Therapie im Hinblick auf den behaupteten sexuellen Missbrauch aufgrund der möglichen sekundären Viktimisierung Jennifer nachhaltig beeinträchtigen könnte, strebt sie eine solche Therapie für Jennifer immer noch an. Es geht ihr dabei gerade nicht um eine allgemeine therapeutische oder pädagogische Unterstützung für Jennifer. Denn dies brauche Jennifer nicht, weswegen sie auch keinen Erziehungsbeistand oder Hilfe durch das Jugendamt brauche. Sondern es geht der Mutter explizit um den angeblichen sexuellen Missbrauch, den sie mit Hilfe von Dr. B. nachgewiesen haben möchte. Auch hier zeigt sich daher aus Sicht des Gerichts ganz deutlich, dass die Bedürfnisse Jennifers in diesem Punkt durch die Mutter nicht mehr gesehen werden können.
b) Verhältnismäßigkeit
14
Zwar wäre der Entzug der elterlichen Sorge (Teilbereich der Beantragung von Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern) und sodann Installation eines Erziehungsbeistands möglich und im Ergebnis erforderlich, um die akute Kindeswohlgefährdung zu beseitigen. Allerdings ist die Maßnahme aus Sicht des Gerichts (derzeit) ungeeignet.
15
Jennifer wird nach vorläufiger Einschätzung des Gerichts nicht mit einem Erziehungsbeistand kooperieren und dessen Hilfe nicht annehmen, wenn ihre Mutter weiterhin die ablehnende Haltung vorgibt. Im Gegenteil könnte die vorgebliche Kooperationsbereitschaft der Mutter („Therapiewille“, Nachhilfe, Liste von Freunden, etc.) bislang vielmehr dafür sorgen, dass sich Jennifer nach jeweils durch das Gericht geäußerten Bedenken vorgeblich und für das Gerichtsverfahren konstruiert anzupassen hat. Der Brief und die Liste deuten darauf hin. Auch die gleichgültige Haltung Jennifers in der letzten Kindesanhörung. Angesichts der Schwere des Vorwurfs und der gezeigten Überzeugung der Mutter geht das Gericht davon aus, dass sich dies bereits durch vorhergehende Gerichtsverfahren gezogen haben könnte.
16
Dass Bedenken, Angebote, Vorschläge oder Anordnungen des Gerichts durch Jennifer bei dieser Sachlage nicht positiv aufgenommen, sondern vielmehr als Gängelung wahrgenommen werden, liegt auf der Hand. Das Gericht sieht auch keine Möglichkeit, hieran etwas zu ändern. Die niederschwellige, weil einvernehmliche Installation einer unabhängigen dritten Person (Erziehungsbeistand) außerhalb von jedem gerichtlichen Verfahren ist nunmehr aufgrund der Weigerung der Mutter gescheitert. Eine gerichtliche Anordnung würde gerade aufgrund des gerichtlichen Zwangs den Zweck der Einrichtung einer Erziehungsbeistandsschaft in diesem Fall vereiteln.
17
Aus Sicht des Gerichts ist es daher unter Abwägung der Folgen sinnvoll, die Begutachtung im Hauptsacheverfahren abzuwarten im Hinblick darauf, ob es in diesem Fall noch Einflussmöglichkeiten durch das Gericht, Behörden oder Ämter gibt.
III.
18
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Die Kosten waren durch die Mutter zu tragen, da ihre Weigerung den Antrag auf ambulante Hilfen zu unterzeichnen das Verfahren erst notwendig gemacht hat.
19
Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf §§ 41, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG. Dieser Wert ist nicht unbillig nach § 45 Abs. 3 FamGKG. Es liegt kein besonderer Umstand i.S.d. § 45 Abs. 3 FamGKG vor, welcher eine höhere oder niedrigere Wertfestsetzung rechtfertigen würde. Eine Reduzierung um die Hälfte ist angemessen.